"Attrition warfare" und ihre diplomatischen Konsequenzen

Das im Westen gängige Kriegsbild orientiert sich spätestens seit dem Zweiten und dem Dritten Golfkrieg 1990/91 bzw. 2003 hauptsächlich an der Vorstellung, dass massive, vor allem luftgestützte Feuerkraft durch das Zusammenspiel von detaillierter Aufklärung, Geschwindigkeit und Präzisionsmunition konventionelle kriegerische Auseinandersetzungen zu einer eher kurzen und für die technologisch überlegene Seite (vor allem etwa die USA) sicheren Sache machen, gegen die letztlich nur asymmetrische Guerillakriegführung eine Option für erfolgreichen Widerstand ist (vgl. die Afghanistankriege der UdSSR und der NATO). Was aber passiert, wenn eine mehr oder weniger symmetrische Konfliktkonstellation nicht innerhalb von Tagen oder Wochen technologisch entschieden ist? Dann kommt es auch unter Bedingungen moderner Technologien offenkundig zum Abnützungskrieg (attrition war), wie er gegenwärtig in der (Ost-) Ukraine zu beobachten ist. Dort setzen die russischen Streitkräfte angesichts des Scheiterns des ursprünglich geplanten Handstreichs gegen Kiew, ihrer erlittenen Verluste, nicht zuletzt auch an gepanzerten Fahrzeugen, und des allgemeinen Mangels an Infanterie nun auf den massiven Einsatz von Artillerie, um die ukrainischen Verteidiger zu zermürben, ihre vorbereiteten Stellungen zu zerschlagen und Schritt für Schritt das Gebiet des Donbas zu besetzen. Die ukrainische Seite versucht, diesem Vorgehen, das der gängigen russischen Doktrin schon seit Sowjetzeiten entspricht, ebenfalls vor allem mit Artillerie entgegenzuwirken, verfügt aber nicht über eine ausreichende Quantität und Qualität von Systemen, um die Russen tatsächlich stoppen zu können. Die westlichen Lieferungen entsprechender schwerer Waffen erfolgen bislang eher sporadisch und langsam. Hinzu kommt die nicht zu unterschätzende psychologische Wirkung dauernden Artilleriebeschusses, d.h. der demoralisierende Effekt auf Truppen, die im Feuer liegen und Verluste erleiden, ohne sich wehren zu können. 

Sowohl der gegenwärtige Charakter des Krieges als wenig raffinierter Abnutzungskampf in einer Materialschlacht, in der die Seite erfolgreich ist, die dem Gegner länger und in größerem Umfang Verluste beibringen (und eigene Verluste aushalten) kann, und als Artillerieduell mit der entsprechenden großflächigen Zerstörung von Städten und Ortschaften erinnert manche Beobachter an Eindrücke aus den Weltkriegen, nicht zuletzt an die Westfront des Ersten Weltkriegs. Tatsächlich ist diese Analogie nur begrenzt sinnvoll. So ist etwa die Rede davon, dass die ukrainische Artillerie täglich 5.000 bis 6.000 Granaten verschießt, die russische bis zu 50.000. Auch wenn moderne Artilleriesysteme (auch ohne gelenkte Präzisionsmunition) zweifellos wesentlich effizienter sind als althergebrachte Geschütze der Weltkriege, weil sie ihre Ziele viel genauer treffen und eine größere Reichweite haben – die russische Rohrartillerie schießt standardmäßig über 20 Kilometer weit, mit spezieller Munition über 30 Kilometer, die (weniger präzise, aber dafür in der Fläche wirksameren) Mehrfachraketenwerfer 40 Kilometer; eine schwere deutsche Feldhaubitze vergleichbaren Kalibers von 1914 bis 1918 hatte eine effektive Reichweite von unter zehn Kilometern – sind die Größenordnungen gleichwohl nicht vergleichbar. Man erinnere sich, dass die Deutschen zu Beginn ihrer ersten Frühjahrsoffensive am 21. März 1918 in nur fünf Stunden 3,5 Millionen Granaten auf ein Gebiet von rund 400 Quadratkilometern britischer Stellungen abfeuerten; in der Schlacht von Verdun wurden von Februar bis Dezember 1916 von beiden Seiten insgesamt 50 Millionen Granaten auf ein Terrain von rund 20 Quadratkilometern verschossen; für das siebentägige Trommelfeuer zum Auftakt der Schlacht an der Somme verbrauchte die britische Armee 1,5 Millionen Granaten. Und allein das Vorbereitungsfeuer für einen „Raid“ von nur rund 1.500 bis maximal 3.000 deutschen Soldaten gegen die frisch eingetroffenen US-Amerikaner bei Seicheprey (um die 1.000 Mann) am 20. April 1918 umfasste 48.000 Sprenggranaten (zuzüglich über 21.000 Gasgranaten) auf einer Frontbreite von nur 2,5 Kilometern.  

Gleichzeitig sind auch die personellen Verluste der Kriegsparteien nicht mit denen des Ersten oder Zweiten Weltkriegs vergleichbar, die sich im Durchschnitt in den Tausenden pro Tag bewegten und in größeren Schlachten leicht fünfstellige Größenordnungen erreichen konnten. Interessanterweise entspricht dies dem langfristigen Trend, welcher eine Verringerung der casualty rates mit steigender Letalität der Waffensysteme und zunehmender Ausdünnung der Frontstärken der Einheiten beinhaltet. Die von der ukrainischen Seite genannten (je nach Quelle) 50 bis 200 eigenen Toten pro Tag, also nach dem üblichen 4:1-Verhältnis von Verwundeten und Gefallenen rund 500 täglichen Ausfälle entsprechen in etwa dem, was entsprechende empirische Schätzungen aus der Militärwissenschaft für eine heutige Armee von 200.000 bis 300.000 Mann voraussagen würden. 

Viel bedeutsamer ist aber wohl eine andere Parallelität zum Ersten Weltkrieg: die Munitionskrise von 1915. Nach dem Scheitern der Angriffspläne beider Seiten im Sommer und Herbst 1914 und dem Erstarren der Front im Stellungskrieg mit seiner Artillerielastigkeit waren die kriegführenden Parteien mit der Situation konfrontiert, dass sie hinsichtlich der vor dem Krieg veranschlagten und bereitgestellten Munitionsmengen weit hinter dem tatsächlichen Bedarf zurückblieben, einerseits, weil ihre Logistikplanung von einem kurzen Krieg, andererseits, weil die Intensität des Artilleriekampfes massiv unterschätzt worden war. In der Folge wurde der Munitionsverbrauch der Artillerie rationiert, bisweilen auf wenige Schuss pro Geschütz und Tag, und insbesondere die alliierten Offensiven 1915 wurden mit völlig unzureichender Artillerieunterstützung geführt. Erst im Laufe des Jahres 1915 gelang es, durch die wachsende Massenproduktion von Munition in der anlaufenden Kriegswirtschaft, den Mangel zu beheben, teilweise zu Lasten der Qualität der Geschosse, die sich in einem hohen Blindgängeranteil niederschlug. 

In einer ähnlichen Situation befindet sich gegenwärtig offenbar die Ukraine. Ihre eigene Rüstungsindustrie kann den Bedarf nicht decken, sei es aufgrund von Kapazitätsproblemen, sei es insbesondere durch die systematischen Zerstörungen durch russische Raketen und Luftangriffe. Daher sind die ukrainischen Streitkräfte mehr denn je dringend auf Lieferungen aus dem Westen angewiesen; nachdem die gängige Artilleriemunition sowjetischer Bauart nicht mit den NATO-Systemen kompatibel und im Westen kaum u erhalten ist, bedeutet dies automatisch, dass nicht nur Munition, sondern notgedrungen auch die entsprechenden Geschütze und Raketenwerfer zur Verfügung gestellt werden müssen. Dies dauert jedoch, zum einen deshalb, weil die entsprechenden Systeme im Westen keineswegs in Massen vorhanden sind – hier zeigt sich der Unterschied zur russisch-sowjetischen Tradition - und die Ukrainer erst an ihnen ausgebildet werden müssen, auch wenn dies, wie das Beispiel der französischen Caesar-Haubitzen zeigt, bei erfahrenen Artilleristen nicht übermäßig schwierig sein dürfte. 

Zum anderen ergeben sich teilweise deutliche logistische Probleme, etwa beim Transport in die Ostukraine über von den Russen beschossene Bahnlinien und Straßen, der Bereitstellung der notwendigen Zusatzinfrastruktur (Instandhaltung, Ersatzteile, Munition). Zudem ergeben sich zumindest bei Systemen wie der Panzerhaubitze 2000 hinsichtlich der taktischen Einsetzbarkeit Schwierigkeiten, und zwar aufgrund der profanen Tatsache, dass solche Selbstfahrlafetten sehr schwer sind: Die Panzerhaubitze 2000 wiegt etwa so viel wie der Kampfpanzer Leopard 2 (Ausführung A4) nämlich rund 55 Tonnen (modernere Versionen sind noch schwerer). Die Brücken in der Ukraine sind jedoch nur auf ein Standardgewicht von 44 Tonnen ausgelegt, so dass sie Panzer sowjetischer Bauart (T-64, T-72, T-80, T-90) mit ca. 45 bis 46 Tonnen noch tragen können, beim schwereren westlichen Gerät jedoch überlastet sind. Dies schränkt dessen Verwendung im Gefecht und im Anmarsch zweifelsohne deutlich ein. 

Was folgt aus alledem? Auch wenn die westlichen Waffenlieferungen nur schleppend eintreffen, kann man wohl davon ausgehen, dass sie noch so rechtzeitig ankommen werden, um die Ukraine vor einer großen und kompletten Niederlage zu bewahren und ihre staatliche Unabhängigkeit zu sichern. In diesem Sinn ist der Krieg für Russland bereits heute eine strategische Niederlage. Allerdings scheint es im Augenblick so, dass die russischen Reserven, insbesondere eben an Artillerie und zumindest „dumb munitions“ ausreichen, um die ukrainischen Verteidiger stückweise aus dem Donbas zurückzudrängen. Zusammen mit der Notwendigkeit, sich im Raum Kherson-Mykolaijiw zu behaupten, um den strategisch ungleich wichtigeren verbleibenden Schwarzmeerzugang um Odessa zu verteidigen, und der weiter bestehenden Drohung einer Wiederaufnahme der russischen Offensive im Norden führt dies dazu, dass es wohl nur eine Frage der Zeit ist, bis die Regionen Donezk und Lugansk unter russischer Kontrolle stehen. 

An dieser Stelle könnte man nun eine realpolitische Implikation reinsten Wassers vermuten: Auch wenn es ein zu gewagte These wäre, westeuropäischen Regierungen zu unterstellen, dass die Lieferungen schwerer Waffen aus strategischem Kalkül systematisch verzögert werden – außenpolitische Unschlüssigkeit und innenpolitische Hemmnisse scheinen hier bessere Erklärungen zu sein –, könnte man durchaus davon ausgehen, dass der Verlust des Donbas durch die Ukraine bei gleichzeitiger Rettung des Landes vor einer russischen Besetzung durchaus billigend in Kauf genommen wird. Denn nach der diplomatischen Logik könnte sich so eine Konstellation herauskristallisieren, in der sich Möglichkeiten einer Verhandlungslösung ergeben, durch welche die russische Führung „gesichtswahrend“ aus der Krise herauskommt. Eine solche diplomatische Lösung nach dem Muster der Minsker Abkommen unter stillschweigender (keineswegs offizieller) Duldung völkerrechtswidriger Annexionen in der Ost- und Südukraine nach dem Muster der Krim würde durchaus der Tradition europäischer, d.h. französischer oder deutscher Außenpolitik entsprechen, welche weiterhin etwa die Notwendigkeit einer zukünftigen Koexistenz oder gar Partnerschaft mit Russland (etwa gegen China) im Auge hat. Natürlich würde sie voraussetzen, dass die Ukraine einem solchen Kompromiss zustimmt. Doch einerseits könnte deren ablehnende Haltung angesichts der Verluste des Abnutzungskrieges durchaus ins Wanken geraten; und andererseits könnte der nun auch von Frankreich, Deutschland und Italien unterstützte EU-Beitrittskandidatenstatus gleichzeitig als Signal an Kiew interpretiert werden, sich im Zweifel kompromissbereit zu zeigen – denn laut Olaf Scholz (und Emmanuel Macron) ist es weiterhin „absolut notwendig, mit Putin zu sprechen“

  

Literatur/Links:

Cramers, Paul (2019): Long Live the King (of Battle) – The Return to Centrality of Artillery in Warfare and its Consequences on the Military Balance in Europe. Finabel – European Army Interoperability Centre, Brüssel, https://finabel.org/long-live-the-king-of-battle-the-return-to-centrality-of-artillery-in-warfare-and-its-consequences-on-the-military-balance-in-europe/ .

Rotte, Ralph (2021): Unternehmen Kirschblüte: „When Connecticut stopped the Hun“. Strategischer Kontext, Verlauf und medial-erinnerungskulturelle Rezeption der Schlacht von Seicheprey im April 1918. Berlin: epubli.

Strachan, Hew (2016): Shells Crisis of 1915. In: U. Daniel u.a. (Hg.), 1914-1918 online. International Encyclopedia of the First World War, Berlin (FU Berlin),  https://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/shells_crisis_of_1915/2016-02-26 .

Woodford, Shawn (2017): Attrition in Future Land Combat. Mystics and Statistics Blog, 9.6.2017, http://www.dupuyinstitute.org/blog/2017/06/09/attrition-in-future-land-combat/ .