Kein Trump-Moment für Boris Johnson

Der nun anstehende Abgang des britischen Premierministers Boris Johnson, der zunächst als Parteichef der Konservativen zurückgetreten ist, zeigt nicht zuletzt die Unterschiede zwischen der US-amerikanischen und der britischen Verfassung auf - und die höhere Krisenfestigkeit letzterer. Geht man davon aus, dass Johnson und Donald Trump sich charakterlich nicht völlig unähnlich sind, sei es hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Selbstbezogenheit, ihrer Wahrnehmung der Politik als Instrument vordringlich zur Befriedigung persönlicher Eitelkeit, ihres Desinteresses an Sachfragen und ihrer Bereitschaft, die Unwahrheit zu sagen und bei Bedarf bestehende Regeln und Gesetze zu brechen, dann stellt sich die Frage, ob Johnson nicht versuchen könnte, durch Verfahrenstricks länger im Amt zu bleiben. Denkbar wäre etwa, dass er einfach den Rücktritt verweigert und auf Zeit spielt, in der Hoffnung, dass die Neuwahl eines Parteivorsitzenden der Konservativen dauert und die Tories im Unterhaus aus Angst vor Neuwahlen keinen Misstrauensantrag der Opposition mittragen würden, oder dass er einfach nicht bei der Queen zur Audienz erscheint, um seine Demission einzureichen. 

Die Antwort ist einfach: Verfassungsrechtliche Kniffe, wie sie Trump zumindest versucht hat, indem er den US-Justizminister dazu bewegen, die Präsidentschaftswahl 2020 für ungültig zu erklären, Vizepräsident Pence zur Ablehnung des Wahlergebnisses im Senat anzustiften versuchte oder gar das Kriegsrecht ausrufen wollte. Die teilweise ungeschriebene Verfassung des Vereinigten Königreiches gibt solche Winkelzüge trotz ihrer Komplexität nicht her. Wenn das Unterhaus ihn nicht durch ein Misstrauensvotum stürzt, muss Johnson automatisch auch als Interim-Premierminister zurücktreten, sobald die Tories einen neuen Parteivorsitzenden haben, womöglich noch früher, wenn die Regeln einer parteiinternen Abwahl im Rahmen des 1922-Komitees geändert werden, die eine Misstrauensabstimmung gegen den Premier in der Unterhausfraktion bislang nur einmal binnen eines Jahres zulassen. Sobald dies geschieht, wird automatisch unterstellt, dass der neue Parteichef die Mehrheit im Unterhaus hinter sich vereint - die Konservativen haben seit der letzten Wahl eine bequeme Mehrheit -, der entsprechend dann von der Queen mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt und zum Premierminister ernannt wird. 

Dabei spielt keine Rolle, ob Johnson der traditionellen Etiquette folgt und vorher persönlich bei der Königin seinen Rücktritt einreicht, oder ob die Queen die verfassungsrechtliche Kompetenz hat, einen Premierminister aus eigenem Antrieb zu entlassen (was umstritten ist): Mit der Ernennung des neuen Premierministers ist der alte automatisch entlassen und wenn sich Johnson weigert, Downing Street 10 zu verlassen, könnte ihn letztendlich die Polizei entfernen. Das wäre ein politischer Skandal und ungemein öffentlichkeitswirksam, aber keineswegs eine Verfassungskrise

Eine solche könnte höchstens dann eintreten, wenn nicht klar ist, wer Johnson im Amt nachfolgen soll. Aber spätestens, wenn sich die Unterhausmehrheit, also die Tories, darauf einigt, wer die Position übernehmen soll, und sei es auch nur übergangsweise bis zur Wahl eines neuen Parteivorsitzenden - dies könnte etwa der bisherige Vize-Premierminister Dominic Raab sein -, gibt es diesen Zweifel für die Queen nicht mehr und Johnson kann sang- und klanglos abgelöst werden. Ausgefeilte (wenngleich nur theoretische) verfassungsjuristische Tricks wie in den USA gibt es im britischen Fall in einer solchen Lage letztlich einfach nicht - zumindest dann nicht, wenn sich die Mehrheitspartei im Unterhaus nicht selbst intern völlig zerlegt. Und selbst dies ist angesichts der klaren Regeln zur Wahl eines Parteichefs in mehreren Schritten durch die konservativen Abgeordneten und am Schluss durch einen Stichentscheid der Parteimitglieder praktisch unmöglich.