Die Tücken des „Sondervermögens Bundeswehr“

Das am 27. Februar von Bundeskanzler Scholz in seiner „Zeitenwende“-Rede vollmundig angekündigte Sondervermögen für die Bundeswehr im Umfang von 100 Milliarden Euro ist nach dem Bundestag bekanntlich am 10. Juni 2022 mit der damit verbundenen Grundgesetzänderung (Ausnahme aus der „Schuldenbremse“) auch vom Bundesrat beschlossen worden. Vorangegangen war ein parteipolitisches Hin und Her über die konkrete Ausgestaltung und Zielsetzung der geplanten Investitionen zur Modernisierung und zum Ausbau der Bundeswehr. Bei genauerer Betrachtung fallen tatsächlich mindestens vier Aspekte auf, welche durchaus Zweifel daran aufkommen lassen, dass der 100 Milliarden-Fonds tatsächlich den großen Wurf zur Herstellung einer echten Verteidigungsfähigkeit Deutschlands darstellt als der er auf den ersten Blick erscheint:

Erstens sieht die mittelfristige Finanzplanung der Bundesregierung entgegen der Erklärung des Bundeskanzlers, Deutschland werde ab sofort jährlich zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgeben, lediglich vor, den Verteidigungsetat in den nächsten Jahren bei gut 50 Milliarden Euro zu belassen, was gegenwärtig rund 1,4 Prozent des BIP entspricht. Dass das Zwei-Prozent-Ziel im Durchschnitt der nächsten Jahre erreicht werden dürfte, liegt an den Zusatzmitteln des Bundeswehr-Sondervermögens, welches aber keineswegs verstetigt ist. Einer nachhaltigen Finanzierung der Streitkräfte auf deutlich höherem Niveau als bisher entspricht dies wohl nicht, was den Verdacht nährt, dass die verteidigungspolitische „Zeitenwende“ nur ein Strohfeuer sein könnte.

Zweitens sind 100 Milliarden Euro zwar zweifellos eine Menge Geld, doch angesichts des Investitionsbedarfs der Bundeswehr erscheint diese Summe keineswegs üppig. So beläuft sich bekanntlich allein der Ausgabenbedarf für den Aufbau einer angemessenen Munitionsreserve der Bundeswehr auf 20 Milliarden Euro. Die Stückkosten für die geplante Anschaffung von 35 F-35-Kampfflugzeugen betragen rund 100 Millionen Euro nur für die Maschinen (insgesamt werden 15 Milliarden Euro veranschlagt), diejenigen für einen Kampf- oder Schützenpanzer zwischen 15 und 20 Millionen Euro. Eine der geplanten fünf zusätzlichen Korvetten für die Marine dürfte an die 300 Millionen Euro kosten, eine der voraussichtlich zwei weiteren Fregatten etwa vier Milliarden Euro. Es liegt auf der Hand, dass das Sondervermögen angesichts solcher Beschaffungskosten recht schnell aufgebraucht werden könnte, zumal ja auch noch eine Menge an kleineren Ausrüstungsgegenständen und Ersatzteile auf Vorrat zu kaufen ist. 

Drittens ist das deutsche Beschaffungswesen dafür bekannt, dass es immer wieder zu teils eklatanten zeitliche Verzögerungen (und Kostensteigerungen) kommt, welche teilweise auf Sonderwünsche der Bundeswehrverwaltung, teilweise auf Mängelbehebung zurückzuführen sind. In beiden Fällen kann man sich des Eindrucks nicht völlig erwehren, dass die deutsche Rüstung an einer Mischung von Überbürokratisierung und Over-engineering leidet. Ein besonders deutliches Beispiel dafür ist der neue Schützenpanzer Puma, der teilweise so konstruiert wurde, dass er in der Vollausstattung nicht lufttransportfähig ist und dessen Auslieferung laut 15. Rüstungsbericht von 2022 gegenüber der ursprünglichen Planung erst im August 2021 mit fast sechsjähriger Verspätung und zu Mehrkosten von 1,4 Milliarden Euro (28%) erfolgte. Zusammen mit den beschränkten Produktionskapazitäten der Industrie bedeutet dies auch, dass die Systeme, auf den Zeitverlauf gerechnet, nur in sehr geringen Stückzahlen geliefert werden können, zumal sich die Industrie seit Jahren in einem Konsolidierungsprozess befindet. So wurden die zunächst 405 (später 350) Schützenpanzer Puma bereits im Jahr 2009 bestellt. Wie der Leiter des „Lagezentrums Ukraine“ der Bundeswehr, Brigadegeneral Christian Freuding, es ausgedrückt hat: Es handelt sich bei Gefechtsfahrzeugen und Waffensystemen um „hochwertige Manufakturprodukte“, deren Lieferung zwischen zwei oder drei Jahren zwischen Bestellung und Auslieferung benötigt.   

Laut Rüstungskonzern Rheinmetall ist eine Steigerung der Produktion von Panzermunition von gegenwärtig 40.000 Stück im Jahr auf 240.000 möglich – aber erst innerhalg von sechs bis zwölf Monaten, Radpanzer könnten binnen 15 bis 18 Monaten und Kettenfahrzeuge in gut zwei Jahren geliefert werden. Bezeichnend ist auch die Aussage des Geschäftsführers des Rüstungsunternehmens KMW, Ralf Ketzel, Ende März 2022, wonach die laufende Modernisierung und Aufrüstung des Kampfpanzers Leopard 2 von bis dato vier bis sechs auf fünf bis sieben Stück pro Monat (!) gesteigert werden könnte. Angesichts des Aufwuchsbedarfs der deutschen Streitkräfte und der - wie in der Ukraine zu beobachtenden - hohen Ausfallraten von Gerät im modernen Abnutzungskrieg (allein auf russischer Seite bis zu 1.000 Panzer, 350 Artilleriesysteme und 50 Hubschrauber zwischen Ende Februar und Ende Mai 2022) ist eine solche Produktionsleistung alles andere als ausreichend für die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen. 

Es mutet fast wie ein Treppenwitz der Geschichte an, dass die aktuelle, modernste Version des Kampfpanzers Leopard 2, der an die Bundeswehr geht, die Bezeichnung „A7V“ trägt. Denn A7V war auch der Name des ersten deutschen Panzers („Sturmpanzerwagen“) aus dem Jahr 1917, von dem während des ersten Weltkriegs aufgrund der Kurzsichtigkeit der deutschen militärischen Führung sowie Produktions- und Materialproblemen lediglich rund 20 Stück produziert wurden – gegenüber insgesamt etwa 6.500 alliierten Tanks

Viertens sind die Möglichkeiten der Rüstungsindustrie, ihre Produktionskapazitäten schnell auszuweiten, deutlich beschränkt. So besteht auch hier ein großer Mangel an qualifiziertem Personal (Handwerker, Techniker, Ingenieure), welcher durch die Besonderheiten des Sektors (inklusive seines ambivalenten Rufs in großen Teilen der Bevölkerung) und die noch immer mangelnde langfristige Planungssicherheit (vgl. Punkt 1) noch verstärkt wird. 

Unter diesen Umständen und angesichts der gravierenden Versäumnisse der Vergangenheit ist es wohl sehr fraglich, dass die Bundesrepublik innerhalb der nächsten Jahre tatsächlich verteidigungsfähig werden wird.

  

Literatur/Links:

Bundesministerium der Verteidigung (2022): 15. Bericht des BMVg zu Rüstungsangelegenheiten, Teil 1. Berlin: BMVg, https://www.bmvg.de/resource/blob/5456944/a2db4dc6bd4c5873113e39ad9292f269/20220629-download-15-bericht-des-bmvg-zu-ruestungsangelegenheiten-data.pdf .

Weingarten, Jörg/Wilke, Peter/Wulf, Herbert (2015): Perspektiven der wehrtechnischen Industrie in Deutschland. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung, https://www.boeckler.de/pdf/p_study_hbs_309.pdf .