Das außenpolitische Programm der AfD: Germany first ... vassal of Russia
Während die Programmatik der AfD hinsichtlich ihrer migrations- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen mittlerweile wohlbekannt und wiederholt kritisch analysiert worden ist, werden ihre außenpolitischen Ziele – wie das Thema Außenpolitik im laufenden Wahlkampf insgesamt – in der öffentlichen Wahrnehmung über allgemeine Aspekte wie Euroskeptizismus und Russophilie eher wenig detailliert betrachtet. Dabei sind diese gerade in einer zunehmend anker- und regellos wirkenden internationalen Umwelt von hohem Interesse. In ihrem fast 180-seitigen Programm zur Bundestagswahl 2025 widmet sich die Partei an einigen Stellen durchaus explizit außenpolitischen Themen, und dies zumeist im Kontext europa- und wirtschaftspolitischer Fragen. Im Wesentlichen basiert die diesbezügliche AfD-Programmatik auf sechs Punkten:
(1) Betonung der nationalen Souveränität und Skepsis bis Ablehnung internationaler Organisationen
So fordert die AfD etwa eine Reform der Finanzierung der WHO, „um die eklatante Abhängigkeit von privaten Geldgebern zu beseitigen und deren direkte Einflussnahme auszuschließen. Zukünftig soll der Haushalt der WHO im Wesentlichen durch Mitgliedsbeiträge der Länder bestritten werden, was eine deutliche Anpassung der strukturellen und der personellen Ausstattung dieser Organisation voraussetzt“ (AfD S. 29). Die WHO habe mit den Internationalen Gesundheitsvorschriften „noch mehr Macht und erweiterte Befugnisse zur Ausrufung eines Gesundheitsnotstandes, ohne dass eine unabhängige verbindliche Kontrollinstanz vorgesehen ist. Es besteht daher die Gefahr von Machtmissbrauch, Willkür und Grundrechtseinschränkungen“ (S. 30). Zudem würden der WHO durch den diskutierten „Pandemievertrag“ „unter Missachtung nationaler Parlamente umfangreiche Rechte gegenüber den nationalen Staaten eingeräumt, die weit in die Privatsphäre der Bürger eingreifen, bis hin zur Duldung medizinischer Eingriffe und der Beschneidung der persönlichen Freiheit und Selbstbestimmung“ (S. 29). Sollte keine Reform der WHO möglich sein, fordert die AfD den Austritt Deutschlands aus der Organisation.
Mit der WHO-Kritik stößt die AfD ins Horn verschiedener Verschwörungstheoretiker in der Tradition der Corona-Leugner und nach dem Muster Donald Trumps, die eine Souveränitätsbeschneidung und Machtübernahme durch internationale Organisationen an die Wand malen – was tatsächlich gar nicht der Fall ist, weil die Abkommen zur WHO gemäß völkerrechtlicher Gepflogenheiten alle von den Mitgliedsstaaten ratifiziert werden müssen, bevor sie in Kraft traten können, und es keine direkten Durchgriffsrechte der WHO gegenüber den Staaten, ihren Regierungen und Gesetzgebern gibt, von Sanktionsmöglichkeiten ganz zu schweigen.
Dabei bekennt sich die AfD „zu den Grundsätzen des Völkerrechtes, insbesondere der Charta der Vereinten Nationen (UN). Die AfD stimmt im Geiste des Vertrages von Helsinki dafür, dass sich kein Land in die inneren Angelegenheiten eines anderen einmischen darf. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker darf nicht durch die Agenden zwischenstaatlicher Organisationen, von Nichtregierungs-Organisationen (NGOs) und durch den Machtzuwachs global agierender Konzerne ausgehöhlt werden“ (S. 86).
Über die IGOs und NGOs hinaus werden aber auch die Vereinten Nationen kritisch gesehen: „Supranationale Organisationen wie die UNO und die WHO sind zunehmend bestrebt, souveräne Staaten zu entmachten und auf dem Weg zu einer ‘Weltregierung‘ nationalstaatliche Kompetenzen einzuschränken. Der schon 2018 von der UNO-Generalversammlung beschlossene Migrationspakt – ‚Global Compact for safe, orderly and regular Migration‘ – ist ein bekanntes Beispiel, dessen verheerende Auswirkungen für Deutschland durch weitere Förderung der Migration auf der Hand liegen. Im Jahr 2024 wurden weitere derartige Verträge vorbereitet unter den Bezeichnungen ‚Compact of the Future‘ und ‚Global Digital Compact‘ vom 23. September 2024, bei deren Ausarbeitung die Bundesregierung ebenfalls eine tragende Rolle spielte. Vorgeblich sind diese überstaatlichen Vereinbarungen nicht rechtlich bindend, tatsächlich werden sie wie geltendes Recht behandelt und räumen dem UN-Generalsekretariat Weisungsrechte ohne demokratische Kontrolle durch die Parlamente ein. Der geplante ‚Pandemievertrag‘ der WHO setzt die Reihe der Vereinbarungen zur Abtretung von Weisungsrechten an supranationale Einrichtungen fort. Die AfD lehnt diesen Weg der Eingriffe in die nationalstaatliche Souveränität entschieden ab und fordert eine Ablehnung bzw. Kündigung dieser Verträge“ (S. 129).
Diese Sichtweise einer Weisungsfunktion des UN-Generalsekretärs ist natürlich Unsinn: Weder sind Übereinkommen wie der Compact for Migration völkerrechtliche Verträge, noch hat die UN-Generalversammlung die Möglichkeit solche Beschlüsse rechtsverbindlich gegen den Willen der Mitgliedsstaaten zu fassen. Insgesamt vermittelt die AfD hier das falsche Bild der UN und ihrer Unterorganisationen als „supranationale“ Organisationen mit rechtssetzender Macht wie in der EU. Das sind sie jedoch defintiv nicht.
(2) Meinungsfreiheit nach US-amerikanischem Muster und Offenheit für Desinformation
Für die AfD ist die von nationalen Behörden und internationalen Organisationen verfolgte Bekämpfung von Desinformation als Bedrohung des demokratischen Grundkonsenses nichts anderes als Zensur missliebiger Meinungen. Ganz analog zum kruden, insbesondere rechtsstaats- und minderheitenschutznegierenden Verständnis von Meinungsfreiheit und Demokratie, wie es J.D. Vance unlängst auf der Münchner Sicherheitskonferenz kund getan hat, wendet sich das AfD-Programm gegen Maßnahmen gegen Desinformation: „Kritische und vermeintlich störende Meinungen, solange sie nicht die Grenze zur Strafbarkeit überschreiten, gehören zum verfassungsrechtlich garantierten Recht eines jeden Bürgers unseres Landes. Die Äußerung der freien Meinung in Medien jeglicher Art stellt auch eine Kontrollmöglichkeit des Bürgers gegenüber dem Staat dar. Die freie Meinungsäußerung schließt auch das Recht auf Irrtum ein. (...) EU-Initiativen wie der „Code of Practice on Disinformation“ werden in Stellung gebracht, um legitime Meinungen als Desinformation abzustempeln und zu zensieren. Wir fordern die Beendigung jeglicher Finanzierung von nichtstaatlichen Akteuren, die auf die freie Meinungsbildung einwirken oder diese zu unterdrücken versuchen. (...) Eine Demokratie braucht kein „Wahrheitsministerium“ und muss die Meinungen ihrer Bürger ertragen – sonst wird sie zur Diktatur“ (S. 48f.).
Nachdem bekanntlich vor allem Russland versucht, mit gezielter Desinformation auf die öffentliche Meinung in Deutschland und Westeuropa einzuwirken, ist klar, dass sich die AfD nichts gegen eine solche Einflussnahme von außen einzuwenden hat, ganz abgesehen von der impliziten Legitimation rechtsradikaler und -extremer, demokratiefeindlicher Äußerungen, die wieder hoffähig gemacht werden sollen.
(3) Austritt aus der EWWU und fundamentale Umgestaltung der EU weg von der supranationalen Integration
Im europapolitischen Kontext wird von der AfD ein Austritt aus dem Euro und die Wiedereinführung der D-Mark mit dem Ziel von frei floatenden Wechselkursen bzw. einer (Teil-) Rückkehr zum System des Goldstandards gefordert: „Die AfD vertritt eine Währungspolitik, die auf Marktwirtschaft, nationaler Eigenverantwortung und freundschaftlichem Miteinander der europäischen Staaten basiert. (...) Die schleichende Umwandlung des Staatenbundes Europa in einen EU-Zentralstaat ist von den europäischen Völkern nie demokratisch legitimiert worden. Der Euro besitzt nicht die institutionelle Grundlage, die seine zwingende verfassungsrechtliche Voraussetzung wäre. Die EU geriert sich als Bundesstaat – und nicht mehr als Staatenbund souveräner Nationalstaaten. Die Geschäftsgrundlage des Euro war spätestens seit der Euro- und Finanzkrise zerstört. Seit den Schulden-Vergemeinschaftungen sind die letzten Hemmungen zum Rechtsbruch gefallen. (...) Nur durch nationale Währungen erlangt jeder Staat seine Souveränität über die Wirtschafts- und Währungspolitik zurück. Die Staaten können ihre Wettbewerbsfähigkeit dann, wie vor der Euro-Einführung, durch eine eigene Entscheidung über den Wechselkurs wiederherstellen. (...) Deshalb muss Deutschland diese ‚Transferunion‘ aufkündigen und den Irrweg der Dauerrettung durch Wiedereinführung einer natio- nalen Währung beenden, ggf. unter paralleler Beibehaltung des Euro oder einer flexiblen ECU-ähnlichen Verrechnungseinheit. (...) Bei einer Wiedereinführung der Deutschen Mark (D-Mark) könnte das teilweise im Ausland gelagerte Staatsgold als temporäre Deckungsoption dienen. Gold ist nach aller historischen Erfahrung eine potenzielle Deckung für Währungen, was besonders in Krisen und nach Einführung einer neuen Währung zum Vertrauensaufbau relevant ist. (...) Langfristig halten wir eine grundsätzliche Reform des Geldsystems für notwendig, hin zu freiem Währungswettbewerb beziehungsweise einem goldgedeckten Währungssystem“ (S. 61-63).
In diesem Zusammenhang vertritt die AfD auch die Mär von der Bedrohung des deutschen Steuerzahlers durch potenzielle Abschreibungen und Verluste aus dem Europäischen Zentralbank-System, eine Auffassung, die schon deshalb absurd ist, weil es keine Deckungsgarantie für Zentralbankverluste durch den Bundeshaushalt gibt und Zentralbanken – im dezidierten Unterschied zu Geschäftsbanken – bei Verlusten ihre Bilanz buchungstechnisch ausgleichen und damit nie bankrott gehen können: „Die Target-2-Forderungen der Deutschen Bundesbank gegenüber der EZB bzw. indirekt gegenüber einzelnen Euro-Südstaaten betragen über eine Billion Euro. Diese Forderungen sind noch immer unbesichert, nicht risikoadäquat verzinst und nicht fälligstellbar. Mögliche Abschreibungen stellen ein hohes Milliardenrisiko für den deutschen Steuerbürger dar“ (S. 66).
Die AfD lehnt auch die als zu stark auf Klimaschutz und überbürokratisiert wahrgenommene Gemeinsame Agrarpolitik der EU sowie – wenig überraschend – das neue Gemeinsame Europäische Asylsystem ab: „Die AfD kämpft für ein Deutschland, in dem Ernährungssicherheit und Selbstversorgung mit heimischen Lebensmitteln auch für zukünftige Generationen gewährleistet bleiben. (...) Unter dem Deckmantel der sogenannten Klimaschutzpolitik richten sich Lobbyinteressen gegen eine vernunftgesteuerte und auf regionale Bedürfnisse ausgerichtete Umwelt- und Landwirtschaftspolitik. (...) Dabei wird das Selbstbestimmungsrecht Deutschlands weiter unterlaufen. (...) Eine sach- und leistungsgerechte Vergütung der Landwirte muss generationengerecht gesichert sein. Dies kann nur mit mehr Selbständigkeit und ohne EU-Verordnungswahn geschehen. Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) lehnen wir aus diesem Grund auch ab“ (S. 72f.). „Das ‚Gemeinsame Europäische Asylsystem‘ (GEAS) ist vollständig gescheitert, weshalb wir diesen Irrweg nicht weiterverfolgen werden. Stattdessen werden wir uns – analog zu Dänemark – im Rahmen eines ‚Opt-Outs‘ nicht länger an der gemeinsamen Politik der EU im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz beteiligen“ (S. 102).
Die Klimaschutzpolitik der EU wird dabei mit dem von Verschwörungstheoretikern und Rechtsextremen gerne verwendeten Begriff des „Great Reset“ verbunden: „Es wird hierbei klar, dass die derzeitige ‚Klimapolitik‘ gegen das Volk gerichtet ist, Angst erzeugen soll und so unsere Freiheit bedroht. Die wegen der behaupteten ‚Klimakatastrophe‘ bereits eingeleitete ‚Große Transformation‘ (‚The Great Reset‘) bedroht unsere Freiheit in erschreckendem Ausmaß. Die AfD lehnt dieses Ziel und den damit verbundenen Gesellschaftsumbau vehement ab. Dazu gehört auch der ‚Green Deal‘ der EU, der die europäische Wirtschaft und somit unseren Wohlstand zerstört“ (S. 78f.).
Was die AfD an die Stelle des supranationalen Europas in Form der Europäischen Union stellen möchte, ist ein „Europa der Vaterländer“ in Gestalt „einer europäischen Gemeinschaft souveräner, demokratischer Staaten. (...) Wir erleben inzwischen eine von Brüssel ausgehende illegitime Entdemokratisierung, Zentralisierung, Überregulierung und Planwirtschaft. Die faktische Euro-Transferunion verstößt gravierend gegen die Verträge zur Euro Währungsgemeinschaft. Deutschland ist in dieser der größte Nettozahler. Die Dauerkrise des Euro ist auch Folge der mangelnden Durchsetzung der Stabilitätskriterien im Euroraum und vertragswidriger Schuldenaufnahmen. Auf wichtigen Politikfeldern wie Gemeinschaftswährung, Sicherheit, Migration und Kohäsion der Einzelstaaten hat die EU versagt. (...) Wir wollen wieder selbstverantwortliche und souveräne Nationalstaa- ten haben, die in Freiheit und Selbstbestimmung zusammenleben. Daher streben wir einen ‚Bund europäischer Nationen‘ an, eine neu zu gründende europäische Wirtschafts- und Interessengemeinschaft, in der die Souveränität der Mitgliedstaaten gewahrt ist und nur dort zusammengearbeitet wird, wo echte gemeinsame Interessen bestehen. Alle anderen Bereiche gehen zurück in die Zuständigkeit der Nationalstaaten. Als zentrale gemeinsame Interessen dieses Bundes betrachten wir erstens einen gemeinsamen Markt, zweitens den wirksamen Schutz der Außengrenzen gegen illegale Zuwanderung, drittens die Erlangung strategischer Autonomie im sicherheitspolitischen Handeln und viertens die Bewahrung der europäischen Kulturen und Identitäten. Der Übergang von der Europäischen Union in den Bund europäischer Nationen soll entschlossen und planvoll erfolgen. Dabei muss gewährleistet sein, dass Deutschland zu Beginn dieses Prozesses von seiner Rolle als ‚Zahlmeister‘ befreit wird (S. 139f.).
(4) Europäische Friedensordnung mit weniger USA und mehr Russland
Die Vorstellung einer fundamentalen Renationalisierung Europas und der Betonung nationalstaatlicher Souveränität und Interessen dominiert auch die AfD-Vorstellungen für die europäischen Sicherheit und Friedensordnung: „Voraussetzung deutscher Außenpolitik ist ein souveränes Deutschland, das Freiheit, Recht und Wohlstand sowie die Sicherheit seiner Bürger garantiert. Die ‚wertebasierte‘ Außenpolitik der letzten Jahrzehnte hat die Welt nicht sicherer gemacht und konnte den Ausbruch des größten Krieges in Europa seit 1945 nicht verhindern. Die Alternative für Deutschland versteht sich als Partei, in der Diplomatie und friedliche Konfliktbewältigung vorrangig sind. Wir stehen für ein Europa der Vaterländer und lehnen die zentralistischen Bestrebungen der Europäischen Union (EU) entschieden ab. Dieser Bund europäischer Nationen, den wir als Wirtschafts- und Interessengemeinschaft anstreben, wahrt die weitgehende Souveränität seiner Mitgliedsstaaten nach innen und ermöglicht die Koordination im Auftreten nach außen. Richtschnur deutscher Außenpolitik müssen wieder realpolitische Erfordernisse statt wirklichkeitsfremder Ideologien sein. Die Vergemeinschaftung der Europäischen Außen- und Sicherheits- politik (GASP) und des Europäischen Auswärtigen Dienstes (Hoher Vertreter GASP / EU-Verteidigungskommissar) lehnt die AfD ab“ (S. 86).
Als Stabilitätselement und Möglichkeit der zukünftigen Friedensbewahrung wird letztlich vor allem ein Entgegenkommen gegenüber Russland propagiert, wenn auf die „legitimen Sicherheitsinteressen aller europäischen Staaten“ rekurriert wird. Zugleich wird deutlich, dass die AfD im Sinne der Befreiung deutscher und europäischer Souveränität von „fremden Interessen“ und einer vertieften Kooperation mit Russland und China eine deutlich größere Distanz zu den USA schaffen will. Die NATO wird entsprechend nurmehr als Übergangsphänomen betrachtet: „Eine stabile europäische Friedensordnung bedarf einer ausgewogenen Zusammenarbeit auf Basis legitimer Sicherheitsinteressen aller europäischen Staaten. Eine Osterweiterung der EU und der NATO lehnen wir ab. Die Welt befindet sich im Umbruch zu einer multipolaren Weltordnung. Deutschland darf dabei nicht länger Objekt fremder Interessen sein. Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern wollen wir eine künftige stabile Friedensordnung gestalten und gewährleisten. Wir müssen unsere Souveränität ausbauen, unsere nationalen Interessen selbstbewusst formulieren und diese stringent verfolgen. (...) Die AfD unterstützt das sicherheitspolitische Konzept einer strategischen Autonomie Europas und seiner Ausprägung zu einem eigenen Machtzentrum in der sich verändernden Weltordnung. Eine stabile Friedensordnung in Europa und der Welt sichert auch die lebenswichtigen Außenhandelsbeziehungen und den Primärenergiebedarf für Deutschland. Wir verfolgen daher ein interessengeleitetes Verhältnis zu den großen Mächten der Welt, zu China und den USA, genauso wie zu der Russischen Föderation. Bis zum Aufbau eines unabhängigen und handlungsfähigen europäischen Militärbündnisses bleiben die Mitgliedschaft in der NATO sowie eine aktive Rolle Deutschlands in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zentrale Elemente unserer Sicherheitsstrategie“ (S. 87).
Die „legitimen Sicherheitsinteressen aller“ im Sinne einer Verhinderung einer dauerhaften Konfrontation mit Russland wird sogar wiederholt, insbesondere vor dem Hintergrund der konstatierten auseinanderdriftenden Interessenlagen zwischen den USA und Deutschland. Die generelle Betonung von Dialog und Kooperation, insbesondere im Kontext der OECD (die auch von Russland traditionell als zentraler Ort einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur gesehen wird) enden aber für die AfD dort, wo andere europäische Länder auf die Idee kommen könnten, es gebe noch Altlasten aus dem Zweiten Weltkrieg, die es zu begleichen gelte: „Eine stabile Friedensordnung in Europa bedarf einer ausgewogenen Zusammenarbeit aller europäischen Staaten, deren legitime Sicherheitsinteressen dabei zu berücksichtigen sind. Die Rolle der OSZE bei der Stabilisierung von Krisenregionen in Europa und seiner Peripherie muss weiterentwickelt werden. Alle Möglichkeiten zum Dialog müssen genutzt werden. Es darf keinen neuen ‚Eisernen Vorhang‘ in Europa geben. (...) Reparationsforderungen, wie etwa von Polen und Griechenland vorgetragen, lehnen wir ab, weil diese Fragen völkerrechtlich bereits abschließend geklärt sind. Die in Europa entstandene Rechts- und Friedensordnung darf nicht durch inakzeptable Forderungen infrage gestellt werden. (...) Die geopolitischen und ökonomischen Interessen der USA unter- scheiden sich in zunehmendem Maße von denen Deutschlands und anderer europäischer Staaten. Ein Beispiel dafür ist die Energieversorgung, so etwa der massive Versuch der USA, die Inbetriebnahme der Nord Stream-Ferngasleitung zu verhindern. Deutschland darf sich nicht durch weichenstellende Entscheidungen der USA gegenüber anderen Mächten in Konflikte hineinziehen lassen. Wir lehnen die geplante Stationierung von weitreichenden US-Waffensystemen (Marschflugkörpern, Drohnen und Raketen) in Deutschland ab“ (S. 90f.).
(5) Multipolare Weltordnung und Annäherung an Russland
Analog zur angestrebten nationalstaatlich geprägten internationalen Kooperation mit allen Staaten Europas unterstützt die AfD auch die Idee des Multipolarismus, welche gegenwärtig insbesondere von Russland, China und den Schwellenländern des Globalen Südens, hauptsächlich als Gegenentwurf zur westlich-amerikanisch dominierten „Liberal International Order“ vertreten wird: „Wir begrüßen die Entwicklung hin zu einer multipolaren Welt, wollen dabei ihre Chancen nutzen sowie ihre Risiken minimieren. Die Vereinten Nationen sind so zu reformieren, dass den veränderten Gewichtungen in der Welt Rechnung getragen wird. Wir streben einen ständigen Sitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat sowie die Streichung der gegen Deutschland gerichteten Feindstaatenklausel aus der Charta der Vereinten Nationen an und wollen den UN-Migrationspakt (Global Compact for Migration) sowie den UN-Flüchtlingspakt (Global Compact on Refugees) aufkündigen“ (S. 90). Die Streichung der tatsächlich obsoleten Feindstaatenklausel ist im Übrigen eine von rechtsextremer Seite immer wieder erhobene hanebüchene Forderung, um die angebliche Souveränitätsbeschränkung Deutschlands zu beenden, welche auch durch den 2+4-Vertrag nicht ausgeräumt worden sei, da dieser lediglich ein Waffenstillstandsabkommen darstelle.
Auch im Kontext der multipolaren Weltordnung wird das besondere Interesse an einem engen Verhältnis zu Russland betont, insbesondere aus wirtschaftspolitischen Gründen: „Im Zuge der Russlandsanktionen ist die bezahlbare Energieversorgung Deutschlands zusätzlich erheblich gefährdet. Unser Land ist damit international nicht mehr wettbewerbsfähig. (...) Die verbliebene und noch intakte Leitung von Nord Stream 2 (Strang B) soll so schnell wie möglich in Betrieb genommen werden. Die Reparatur der beschädigten Stränge von Nord Stream 1 und 2 ist zeitnah durchzuführen (...)“ (S. 40f.). Denn „Russland war über Jahrzehnte ein zuverlässiger Lieferant und Garant einer erschwinglichen Energieversorgung, die aufgrund unserer energieintensiven Industrie die Achillesferse der deutschen Volkswirtschaft darstellt. Zur Wiederherstellung des ungestörten Handels mit Russland gehören die sofortige Aufhebung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland sowie die Instandsetzung der Nord Stream-Leitungen. Die Beziehungen Deutschlands zur Eurasischen Wirtschaftsunion sollen ausgebaut werden“ (S. 91f.).
Außerdem zeigt sich die AfD im Rahmen des Multipolarismus für eine insbesondere ökonomische Kooperation mit quasi allen Staaten offen, aus der Deutschland Gewinn ziehen könnte: „Die chinesische Führung hat ein weltweites Infrastrukturprojekt begonnen, das als „Neue Seidenstraße“ bekannt geworden ist und der Stärkung des chinesischen Einflusses in der Welt dient. Soweit sich hieraus Chancen für die deutsche Wirtschaft ergeben, wollen wir diese nutzen. (...) Wir unterstützen die Reform der Welthandelsorganisation (WTO) und fördern die Zusammenarbeit mit den BRICS-Staaten sowie regionalen Organisationen wie ASEAN und Mercosur, wenn sie der wirtschaftlichen Wohlfahrt und politischen Selbstbestimmtheit unseres Landes dient. Das Mercosur-Abkommen schadet unserer Landwirtschaft derzeit allerdings und erschwert damit langfristig die Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung unserer Bevölkerung aus eigener Kraft“ (S. 93f.).
(6) Beschneidung der Entwicklungszusammenarbeit
Schließlich gehört zu einer neuen Außenpolitik nach den Vorstellungen der AfD auch eine fundamentale Reform der Entwicklungszusammenarbeit, welche nicht zuletzt ein Instrument zur Durchsetzung der rigiden Migrationspolitik sowie ökonomischer und sicherheitspolitischer Interessen werden soll. Außerdem wird eine aus AfD-Sicht Entideologisierung und insgesamt eine deutliche Verringerung einer renationalisierten Entwicklungszusammenarbeit gefordert: „Die deutsche Entwicklungspolitik ist gescheitert. Die AfD fordert eine Entwicklungspolitik, welche deutschen Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen Rechnung trägt. Insbesondere ist die Gewährung von Entwicklungshilfe ausnahmslos an die Bereitschaft der Partnerländer zur Rücknahme ihrer aus Deutschland ausreisepflichtigen Staatsbürger und ihre schnelle und wirksame Kooperation bei der Feststellung der Staatsbürgerschaft bzw. Volkszugehörigkeit zu knüpfen. Hilfe muss Hilfe zur Selbsthilfe sein – und keine Unterstützung von korrupten Systemen. Eine lückenlose Kontrolle über die Verwendung der bereitgestellten Mittel ist die Grundlage jeder Entwicklungszusammenarbeit. Wir fordern eine Stärkung der Sachleistungen (zum Beispiel Ausbildungshilfen vor Ort, Infrastrukturprojekte) und einen Abbau von Finanzleistungen. Die Förderung von fragwürdigen gender- und WOKE-ideologiebasierten Entwicklungsprojekten ist zu beenden. Darüber hinaus setzen wir uns dafür ein, dass die Entwicklungshilfepolitik der EU auf die Ebene der Mitgliedsstaaten zurückgeführt wird, um die Eigeninteressen der Nationalstaaten besser zu vertreten. Entwicklungshilfe an China und Indien, oder an Atommächte wie z. B. Pakistan, ist zu streichen. Generell sehen wir aufgrund der außerordentlich schwierigen Haushaltslage die Notwendigkeit, die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit deutlich zu reduzieren“ (S. 95f.).
Wirtschaftliche Instrumente werden im Übrigen als probates Mittel zur Durchsetzung der Rückführung Ausreisepflichtiger gesehen, denn zu diesem Zweck wird „massiver Druck auf nicht rücknahmebereite Herkunftsländer z. B. durch Wirtschaftssanktionen, Aussetzung der Entwicklungshilfe und den Visahebel“ angekündigt (S. 107).
Tatsächlich erinnern diese Vorstellungen einer freien, von (Wirtschafts-) Interessen geleiteten Kooperation von souveränen und auf ihre innere Kohärenz bedachten Nationalstaaten in einer multipolaren, d.h. nicht von den USA dominierten, Weltordnung nicht nur an die Programmatik der Identitären Bewegung, sondern nicht zuletzt an geopolitische Ideen, wie sie etwa der neobolschewistische russische Rechtsextremist Aleksandr Dugin vertritt. Auch wenn unklar ist, wie groß Dugins Einfluss auf die Politik Vladimir Putins tatsächlich ist, ist sein neoeurasisches Modell einer zukünftigen globalen Ordnung zweifellos Ausdruck einer weit verbreiteten grundsätzlichen Haltung der außen- und sicherheitspolitischen Eliten der gegenwärtigen Russischen Föderation. In einem seiner Hauptwerke, den „Grundlagen der Geopolitik“ skizziert Dugin ein von Russland geführtes eurasisches „Reich“ auf der Basis des „fundamental principle of the ‘common enemy’. The rejection of Atlanticism, the rejection of US strategic control and the rejection of the supremacy of economic, market-liberal values, is the common civilizational basis, the common impulse that will open the way to a lasting political and strategic alliance and create the axial backbone of the coming Empire” (Dugin 210f.). In diesem eurasischen Großraum spielt die Region Zentraleuropa unter deutscher bzw. deutsch-französischer Ägide eine besondere Rolle:
“Central Europe is a natural geopolitical entity, united strategically, culturally and partly politically. (…) Germany has traditionally been the consolidating force of Central Europe, bringing this geopolitical conglomerate under its control. (…) In principle, the political influence of Central Europe could extend southwards into Italy and Spain, for which there have been many historical precedents. The geopolitical capital of Central Europe is most logically Berlin as the symbol of Germany, which in turn is the symbol and centre of the whole entity. Only Germany and the German people have all the necessary qualities for effective integration of this geopolitical region - historical will, a well-developed economy, a privileged geographical location, ethnic homogeneity, and awareness of its civilizational mission. (…) England is geopolitically the least European state, whose strategic interests are traditionally opposed to the Central European powers and, more broadly, continental tendencies in Europe. (…) In any case, within Europe, England is the most hostile to continental interests, the antipode of Central Europe, and hence the New Eurasian Empire has in it a political, ideological and economic adversary. (…) In many ways, French history has been Atlanticist, opposing continental and Central European tendencies. (…) In France there is also an alternative geopolitical tendency, which goes back to the continental line of Napoleon (whom Goethe perceived as the leader of the land integration of Europe) and is strongly embodied in the European policy of de Gaulle, who sought an alliance with Germany and the creation of a European confederation independent of the USA. (…) France’s territory is a necessary component of the Eurasian bloc in the West, as the control of the Atlantic coast, and therefore the security of the New Empire on its western frontiers, depends directly on it. The Franco-German alliance is in any case the main link in Eurasian geopolitics in the continental West, provided that the interests of Central Europe, namely its autarchy and geopolitical independence, are prioritised here. Such a project is known as the “European Empire”. The integration of Europe under the aegis of Germany as the basis of such a European Empire fits perfectly into the Eurasian project and is the most desirable process for a more global continental integration” (S. 213-216).
Dugin macht zugleich unmissverständlich klar, dass das neue von den USA und dem atlantischen Westen unabhängige „Europäische Reich“ natürlich nur als Bestandteil des größeren Eurasiens denkbar sei und entsprechend natürlich selbst unter der politisch-weltanschaulichen Führung Russlands stehen muss. Diese russische Dominanz in ganz Eurasien und in der Folge auch diejenige Deutschlands im erweiterten Mitteleuropa wird dabei nicht als traditioneller Imperialismus mit der Subordination und Unterdrückung der beteiligten Nationen gedacht, sondern als benevolente kulturelle und strategische Anleitung für einen freiwilligen Zusammenschluss der europäischen Nationen:
“All trends towards European unification around Germany (Central Europe) will only make sense if one fundamental condition for the creation of a solid geopolitical and strategic axis, Moscow Berlin, is met. By itself, Central Europe does not have sufficient political and military potential to gain genuine independence from US Atlanticist control. Moreover, in the current circumstances, it is difficult to expect a genuine geopolitical and national awakening in Europe without the revolutionary impact of the Russian factor. The European Empire without Moscow and, more broadly, without Eurasia, is not only incapable of fully organizing its strategic space under the deficit of military power, political initiative and natural resources, but also in a civilizational sense it has no clear ideals and reference points, since the influence of the Trade System and market liberal values has deeply paralyzed the foundations of the national worldview of European peoples and undermined their historical organic systems of values. The European Empire would become a full-fledged geopolitical and civilisational reality only under the influence of new ideological, political and spiritual energy from the depths of the continent, i.e. from Russia. Moreover, only Russia and the Russians can ensure Europe’s strategic and political independence and resource autarchy. The European Empire should therefore form precisely around Berlin, which is on a direct and vital axis with Moscow. The Eurasian impulse should emanate exclusively from Moscow, transferring the civilizational mission (with appropriate adaptation to European specificity) of the Russians to Berlin, which in turn will proceed with European integration according to the principles and projects inspired by the underlying geopolitical continental impulse. The key to the adequacy of the European Empire lies in the clear predominance of Russophile tendencies in Germany itself, as understood by the best German minds from Müller van den Broek to Ernst Nikisch, Karl Haushofer and Jordis von Lohausen. And as an extension of such geopolitical Russophilia, the rest of Europe (and France in particular) should follow a Germanophile orientation. (…) The European peoples should be equal partners in the construction of a Western Eurasian bridgehead and adapt the common imperial impulse to their own national and cultural specificities. The European Empire should not suppress the European nations, not subordinate them to the Germans or Russians, but, on the contrary, liberate them from the oppression of a quantitative, consumerist, market civilization, awaken their deep national energies and bring them back into the fold of history as independent, living and full political subjects, whose freedom will be guaranteed by the strategic power of the entire Eurasia” (S. 216f.).
In der Völkerrechtslehre des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gab es den heute weitgehend obsoleten Begriff der „Suzeränität“, der, ohne ein formelles Protektoratsverhältnis zu begründen, verwendet wurde, um die faktische Oberhoheit eines Staates gegenüber einem anderen Staat zu beschreiben, der gleichzeitig eine abgeschwächte Form von Souveränität genoss. Die interessanten Parallelen zwischen dem neoeurasischen Projekt und den außenpolitischen Zielen der AfD lässt vermuten, dass sich die Partei mit einer Rolle Deutschlands als Führungsmacht in einem „Europa der Vaterländer“ sehr wohl fühlen würde, dessen Suzerän Russland wäre. Die geforderte Abkehr von der europäischen Integration, die Abkehr von den USA und die Wiederherstellung der (energie-) politischen Abhängigkeit von Russland, zusammen mit den auch von Putin vertretenen konservativen Werten eines traditionellen Familienbildes und der Ablehnung von „wokeness“ und „Genderwahn“ deuten jedenfalls kaum missverständlich in eine solche Richtung. Ironischer- oder tragischerweise wird dies durch die neue Außenpolitik der Vereinigten Staaten mit einer gar nicht einmal von Eurasien/Russland, sondern von den USA selbst ausgehenden Schwächung, wenn nicht gar Auflösung des transatlantischen Verhältnisses wohl auch noch befördert.