Das BVerfG bestätigt seinen schwierigen Europa-Kurs

Am 6. Dezember hat das Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerden u.a. des AfD-Gründers Bernd Lucke zurückgewiesen, welche in den Beschlüssen der Europäischen Union (und dem dazugehörigen Ratifikationsgesetz des Bundes) zur Auflage eines durch gemeinsame Schulden (bzw. Schuldengarantien der Mitgliedsstaaten) finanzierten Corona-Wiederaufbaufonds im Umfang von 750 Milliarden Euro eine Verletzung des Prinzips der demokratischen Selbstbestimmung gemäß Art. 79 (3) i.V.m. Art. 20 und 38 GG sahen. Letztlich lief die Argumentation der Beschwerdeführer auf den Vorwurf einer Kompetenzüberschreitung der EU („ultra vires“) hinaus. Das BVerfG führt demgegenüber in seiner Begründung aus, dass eine solche Kompetenzüberschreitung nicht vorliegt, weil die Kreditaufnahme ein situationsbedingter Ausnahmefall (Einzelfallermächtigung) mit Zweckbindung sowie in Höhe und Laufzeit befristet sei. Obwohl wiederholt darauf hingewiesen wird, dass eine Umgehung der europarechtlichen Bestimmungen, etwa des Verbots der Finanzierung der Schulden eines Mitgliedsstaates durch einen anderen („no bail out-Regel“) nicht ausgeschlossen werden kann, geht das Gericht davon aus, dass eine solche Umgehung „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ nicht zu erwarten ist und entsprechend kein „offensichtlicher“ Rechtsverstoß vorliegt.

Mit dem Urteil macht das BVerG den Weg für die gemeinsame Verschuldung der EU frei und beweist damit seine grundsätzliche Europa- und Integrationsfreundlichkeit. Auf der anderen Seite unterstreicht es seine bestehende Position, nach der es ihm gestattet ist, ja die Verpflichtung besteht, bei Verdacht auf Kompetenzüberschreitungen von Organen der EU oder Verletzungen der Identitätsgarantie (Ewigkeitsgarantie) des Art. 79 (3) GG einzuschreiten und entsprechende Rechtsakte für im Geltungsbereich des Grundgesetzes unzulässig und nicht anwendbar zu erklären. Zwar hat das Gericht bereits 1986 in seinem „Solange II-Beschluss“ generell darauf verzichtet, einzelne potenzielle Grundrechtsverletzungen zu prüfen, da es die Gewährleistung der Grundrechte auch auf europäischen Ebene als prinzipiell gegeben ansieht (im „Solange I-Beschluss“ von 1974 war dies noch nicht der Fall), doch beharrt es ausdrücklich auf der - wenngleich „zurückhaltenden“  und „europafreundlichen“ – ultra vires- und Identitätskontrolle

Letztlich resultieren daraus zwei zentrale, europapolitisch bedeutende Aspekte: Erstens gibt es aus der Sicht des BVerG eine deutliche Grenze der europäischen Integration nach dem bisherigen Muster einer sukzessiven Ausweitung des Poolings von nationalstaatlicher Souveränität, zumindest solange die Europäische Union nicht durch eine fundamental neue Verfassungsgebung zu einem echten Bundestaat wird (in dem freilich die grundrechtlichen, demokratischen, rechtsstaatlichen und föderalen Grundsätze des Art. 79 (3) GG weitergelten müssten). Diese Restriktionen, die bereits in den Urteilen zu den Verträgen von Maastricht (1993) und Lissabon (2009) entwickelt und ausgeführt wurden, bedeuten, dass eine Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf die europäische Ebene, welche dem deutschen Parlament als wesentlichem Träger der demokratischen Selbstbestimmung des deutschen Volkes keine hinreichenden eigenen Kompetenzen mehr lässt, verfassungswidrig wäre, selbst wenn das Europäische Parlament entsprechend einbezogen würde (was das BVerG ohnehin einfordert). In den Maastricht- und Lissabon-Urteilen wird deutlich, dass das Gericht diesen Zustand für bereits annähernd erreicht hält, d.h. wesentliche weitere Integrationsschritte – man denke an die Diskussion um eine „europäische Armee“ – im bestehenden Verfassungsrahmen rechtlich schwierig würden. 

Denn – wie es im Kontext des Urteils zum Lissabon-Vertrag formuliert wird – solange „im Rahmen einer europäischen Bundesstaatsgründung nicht ein einheitliches europäisches Volk als Legitimationssubjekt seinen Mehrheitswillen gleichheitsgerecht politisch wirksam formulieren kann, bleiben die in den Mitgliedstaaten verfassten Völker der Europäischen Union die maßgeblichen Träger der öffentlichen Gewalt, einschließlich der Unionsgewalt. Für den Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat wäre in Deutschland eine Verfassungsneuschöpfung notwendig, mit der ein erklärter Verzicht auf die vom Grundgesetz gesicherte souveräne Staatlichkeit einherginge. (...) Die Europäische Union stellt weiterhin einen völkerrechtlich begründeten Herrschaftsverband dar, der dauerhaft vom Vertragswillen souverän bleibender Staaten getragen wird. Die primäre Integrationsverantwortung liegt in der Hand der für die Völker handelnden nationalen Verfassungsorgane. Bei wachsenden Kompetenzen und einer weiteren Verselbständigung der Unionsorgane sind Schritt haltende Sicherungen erforderlich, um das tragende Prinzip der begrenzten und von den Mitgliedstaaten kontrollierten Einzelermächtigung zu wahren. Auch sind eigene für die Entfaltung der demokratischen Willensbildung wesentliche Gestaltungsräume der Mitgliedstaaten bei fortschreitender Integration zu erhalten. Insbesondere ist zu gewährleisten, dass die Integrationsverantwortung durch die staatlichen Vertretungsorgane der Völker wahrgenommen werden kann. Durch den Ausbau der Kompetenzen des Europäischen Parlaments kann die Lücke zwischen dem Umfang der Entscheidungsmacht der Unionsorgane und der demokratischen Wirkmacht der Bürger in den Mitgliedstaaten verringert, aber nicht geschlossen werden.“

Zweitens hält das BVerG ungeachtet seiner beanspruchten Europafreundlichkeit an seiner Ambivalenz bezüglich der Hierarchie europäischer und nationaler Gerichtsbarkeit fest. Das höchste deutsche Gericht akzeptiert keinen unbedingten und allgemein gültigen Primat des EuGH, den dieser für sich beansprucht, sondern behält sich im Zweifel vor, die Tätigkeiten der Organe der EU einschließlich des EuGH zu überprüfen und ihre Beschlüsse im Extremfall auch zu kassieren. Dies liegt zum einen in der Natur der Europäischen Union als Staatenverbund. Friktionen in der nicht abschließend geklärten Zuständigkeitsbalance zwischen europäischer und nationaler Rechtsprechung sind entsprechend mehr oder weniger unvermeidlich, solange auch die EU letztlich ein Hybridgeschöpf zwischen Staatenbund und Bundestaat bleibt. Allerdings darf auch nicht vergessen werden, dass die verfassungsrechtlich logische Position des BVerG im politischen europäischen Kontext auch Argumentationslinien Tür und Tor öffnet, die alles andere als europafreundlich sind, sondern das deutsche Beispiel dafür nutzen, über nationales (Verfassungs-) Recht zu versuchen, europäische Kompetenzen und Werte per se auszuhebeln, wie das etwa in Polen der Fall ist, in dem die Kritik an der schwindenden Rechtsstaatlichkeit vom polnischen Verfassungsgericht als angesichts des angeblichen Vorrangs der polnischen Verfassung schlichtweg als außerhalb der Kompetenz der EU liegend abgetan wurde - was offensichtlich nicht der Argumentation des BVerfG entspricht, aber gerne auf den Grundkonflikt zwischen EuGH und BVerfG rekurriert. 

In diesem Sinne schützt das BVerG zwar auf der einen Seite als Rechtsinstanz legitimerweise zentrale demokratische Grundprinzipien des Grundgesetzes, macht sich aber möglicherweise zugleich wider die eigene Absicht als faktisch politischer Akteur zum Handlanger nationalistischer und populistischer Gruppierungen und Institutionen, die das europäische Projekt an sich zerstören wollen.       

   

Links:

Bundesverfassungsgericht (2009): Leitsätze zum Urteil des Zweiten Senats vom 20. Juni 2009 – 2 BvE 2/08, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2009/06/es20090630_2bve000208.html .

Bundesverfassungsgericht (2022): Leitsätze zum Urteil des Zweiten Senats vom 6. Dezember 2022 – 2 BvR 547/21, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/bvg22-103.html;jsessionid=CF2E125710812AF0AD6F9512E1971D56.1_cid506 .