Erwartungen an den "Tag des Sieges"

In der Wahrnehmung vieler Beobachter der russischen Politik und Führung spielt der „Tag des Sieges“, der 9. Mai, eine wichtige Rolle für die Erwartungen, die an das Verhalten Vladimir Putins im gegenwärtigen Ukraine-Krieg gestellt werden. Diese reichen von der Befürchtung der Ankündigung einer Generalmobilmachung und offiziellen Kriegserklärung an die Ukraine und evtl. den Westen bis zur Hoffnung darauf, dass der russische Präsident seinen Sieg deklariert und so den Weg zu einem Waffenstillstand oder zumindest einem Abflauen der Kämpfe ebnet.

Was morgen tatsächlich passieren wird, kann niemand, der kein echter Insider des Kreml ist oder gar in die Gedanken Putins gucken kann, sagen. Welche Optionen letzterer aus politikwissenschaftlicher Sicht hat, und welche Aspekte für und gegen die eine oder andere Wahlmöglichkeit sprechen, hat William Spaniel von der Universität Pittsburgh in einem seiner jüngsten Videos zusammengefasst. Seiner Auffassung nach gibt es vier Möglichkeiten:

1. Den Krieg auf die oben genannte Art eskalieren – was ein Eingeständnis des Scheiterns der „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine bedeuten und innenpolitischen Widerstand nach sich ziehen könnte, und als Szenario vor allem in US-amerikanischen Sicherheitskreisen ausgemalt wird;

2. Nichts tun und den Feiertag als business as usual wie in den Vorjahren begehen;

3. Den Sieg erklären – was mittelfristig eine Reduzierung der Konfliktintensität auf das Level von vor Februar 2022 bedeuten könnte, sofern die Ukraine mitspielt, was alles andere als selbstverständlich ist;

4. Die Feierlichkeiten absagen oder nicht daran teilnehmen – was auf gravierende interne Probleme in der russischen Führung bis hin zu Putschgefahren hindeuten würde.

Unabhängig davon, für welche Option sich der russische Präsident entscheidet, sind aber zwei Dinge völlig klar: Wie immer sich Putin morgen äußert, muss erstens zunächst abgewartet werden, welche konkreten Taten seiner Rhetorik tatsächlich folgen, und ob seine Ausführungen nicht wieder einmal vor allem eine propagandistische Irreführung der russischen Bevölkerung und ein Versuch der Einschüchterung der westlichen - vor allem der europäischen - Öffentlichkeit sind. Und zweitens: Mit dem morgigen Tag ändert sich nichts daran, dass der Krieg auf absehbare Zeit weitergeht.