Grundlegende Fragen eines „langen Krieges“ in der Ukraine

Dass die ursprüngliche Strategie Russlands in der Ukraine gescheitert ist, ist mittlerweile eine Binsenweisheit. Weder die schnelle Besetzung der Hauptstadt und größerer Teile des Landes noch der beabsichtigte Regime-Change zur Wiedergewinnung der russischen Kontrolle über den ehemaligen Teil der Sowjetunion war angesichts des Widerstandswillens und der taktisch-operativen Vorbereitung der Ukrainer – u.a. auch in Form ihrer innovativen Artillerietaktik – und der eklatanten, wohl nicht zuletzt auf massive Korruption zurückführenden Mängel in der russischen Truppenzahl, Moral, Führung, Planung und Logistik realisierbar. 

Nun konzentrieren sich die russischen Streitkräfte offenbar auf den Osten des Landes und versuchen Stück für Stück den Donbas zu erobern. Dabei gehen sie anscheinend durchaus systematisch und flexibel vor und folgen dem Muster einer langsamen Abnützung des Gegners, wie es aus den alliierten bzw. sowjetischen Offensiven der Endphasen des Ersten (1918) und Zweiten Weltkriegs (1944/45) bekannt ist: massiver Artillerieeinsatz gegen die befestigten Stellungen der Verteidiger und deren Erschöpfung durch räumlich variierende Schwerpunkte. Damit werden die teilweise umfangreich ausgebauten ukrainischen Defensivpositionen im Donbas Schritt für Schritt eingenommen – wobei neben der Artillerie auch die häuserkampferprobten Einheiten aus Tschetschenien und der Wagner Group eine wichtige Rolle zu spielen scheinen – und operativ wichtige Ortschaften (wenngleich als Trümmerstätten) erobert.

Um den damit verbundenen Zeitaufwand und hohe Verluste nach dem Muster der Belagerung von Mariupol zu vermeiden, greifen die Russen Dörfer und Städte allem Anschein nach zunehmend von drei Seiten an und lassen den ukrainischen Verteidigern eine Rückzugslinie, anstatt sie komplett einzukesseln. Möglicherweise gibt es in der Folge auch in der ukrainischen Führung Dissens zwischen den Militärs, welche vermehrt die daraus erwachsenden Möglichkeiten taktischer Rückzüge aus Frontvorsprüngen im Donbas nutzen möchten, um die eigenen Verbände zu bewahren, und der Politik, welche möglichst jeden Teil ukrainischen Territoriums halten und den russischen hohe Verluste beibringen will.   

Während sich die russischen Truppen so im Osten ganz allmählich vorankämpfen und im Süden Anstalten machen, sich auf eine Verteidigung der eroberten Gebiete einzurichten, steigen die Kosten des Krieges für beide Seiten weiter an, sowohl hinsichtlich der menschlichen Opfer als auch der sozioökonomischen Folgen. Aktuelle Schätzungen gehen von bisher rund 15.000 gefallenen russischen Soldaten aus, zu denen nach üblicher Lesart mindestens das Dreifache an Verwundeten kommt. Auf ukrainischer Seite sind nach UN-Angaben mindestens 4.000 Zivilisten (und wahrscheinlich weit mehr) getötet worden; die Zahl der militärischen Ausfälle ist unbestimmt, nach Angaben Präsident Zelenskys umfassten sie bis 22. Mai rund 13.000 Mann, davon 10.000 Verwundete, und die Kämpfe im Osten würden jeden Tag 50 bis 100 weitere kosten. Geht man davon aus, dass diese Zahlen propagandistisch zu niedrig liegen, und berücksichtigt das Ausmaß des russischen Artillerieeinsatzes in den letzten Wochen sowie den zunehmenden Einsatz weniger erfahrener und gut ausgebildeter Reserven, kann man wohl davon ausgehen, dass sich die ukrainischen Verluste eher auf die Zahl der russischen zubewegen. 

Zwar ist nicht auszuschließen, dass es früher oder später den Versuch einer Verhandlungslösung gibt, etwa nach einem mühsam erkämpften russischen Erfolg im Donbas und etwaigen „Volksabstimmungen“ in Luhansk, Donezk und Kherson oder einen moralischen oder organisatorischen Kollaps einer der beiden Seiten. So gibt es Hinweis auf erste Risse in der Kriegsunterstützung auf beiden Seiten, sei es durch entsprechende Warnungen aus dem Umfeld des ukrainischen Präsidenten, sei es durch kolportierte Videos von Jugendprotesten in Russland. Gegenwärtig gibt es aber kaum ernsthafte Hinweise darauf, dass sich der Krieg tatsächlich einem irgendwie gearteten Ende nähern könnte (Überraschungen sind natürlich nie auszuschließen): Militärisch wird er zunehmend zu einem Stellungs- und Abnutzungskrieg; politisch befinden sich die Akteure in der Sackgasse unvereinbarer Kriegsziele; und außerdem gibt es weiterhin eine gewisse Eskalationsdynamik durch Hass und Erfolgswillen, etwa durch den Zwang, für die erlittenen Verluste einen angemessenen (oder als solchen zu verkaufenden) Erfolg vorweisen zu müssen. Oder in den Worten Carl von Clausewitz’: „Der Nationalhass, an dem es auch bei unseren Kriegen selten fehlt, vertritt bei dem einzelnen gegen den einzelnen mehr oder weniger stark die individuelle Feindschaft. Wo aber auch dieser fehlt und anfangs keine Erbitterung war, entzündet sich das feindselige Gefühl an dem Kampfe selbst, denn eine Gewaltsamkeit, die jemand auf höhere Weisung an uns verübt, wird uns zur Vergeltung und Rache gegen ihn entflammen, früher noch, ehe wir es gegen die höhere Gewalt sein werden, die ihm gebietet, so zu handeln. Dies ist menschlich oder auch tierisch, wenn man will, aber es ist so. — Man ist in den Theorien sehr gewohnt, den Kampf wie ein abstraktes Abmessen der Kräfte ohne allen Anteil des Gemüts zu betrachten, und das ist einer der tausend Irrtümer, die die Theorien ganz absichtlich begehen, weil sie die Folgen davon nicht einsehen“ (Vom Kriege, 2. Buch, 2. Kapitel). 

Angesichts der Säuberungsaktionen in Präsident Putins Umfeld, der Neuordnung von Kompetenzen unter den Geheimdiensten und des zunehmenden (aus militärischer Sicht natürlich kontraproduktiven) Mikromanagement des Krieges durch Putin persönlich gibt es auch keine Hoffnung auf einen kurzfristigen Regime-Change in Moskau. Zudem zwingt das herrschende Narrativ des Kampfes gegen die NATO die  russische Führung angesichts der möglichen NATO-Norderweiterung förmlich zu einem Erfolg in der Ukraine und damit zum Weiterkämpfen, bis ein propagandistisch halbwegs vertretbares Ergebnis hinsichtlich Neutralisierung und „Entnazifizierung“ der Ukraine und der „Befreiung“ der Russischstämmigen im Donbas erreicht ist. 

Damit steht aber die vielfach angesprochene Möglichkeit eines langen Krieges im Raum: Hier stehen sich insbesondere die personellen Kapazitäten der Ukraine und die sie versorgende finanzielle und materielle Hilfe des Westens und die militärischen und wirtschaftlichen Reserven Russlands gegenüber. Zwar können letztere aufgrund der bislang aus innenpolitischen Gründen nicht erfolgten Generalmobilmachung nicht voll ausgespielt werden, doch Aushilfsmaßnahmen wie die jüngste Streichung des Höchstalters bei der Verpflichtung als Zeit- und Berufssoldat sowie die (finanzielle) Unterstützung durch Akteure wie China, welche zu besonders günstigen Konditionen russische Ressourcen (Erdgas, Erdöl, Getreide) kaufen, und durch die in Folge der Krise und der westlichen Sanktionen gestiegenen Weltmarktpreise schaffen gleichwohl eine gewisse Entlastung. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass die russische Wirtschaft zwar insgesamt wenig leistungsfähig ist und von den Sanktionen stark getroffen wird – wie etwa an den kaum nachhaltigen Interventionen der Zentralbank auf den Finanzmärkten oder die angekündigten Lohn- und Rentensteigerungen zur Kompensation der teilweise massiven Preissteigerungen zeigen -, zugleich aber seit dem Amtsantritt Vladimir Putins und insbesondere seit 2014 unter dem Schlagwort „ökonomische Souveränität“ mehr und mehr auf einen quasi-merkantilistischen Autarkiekurs gebracht worden ist. Dieser hat mittlerweile dazu geführt, dass zumindest die Versorgung der (ohnehin traditionell sehr leidensfähigen) Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen (Nahrungsmittel, Energie) weitgehend gesichert sein dürfte. Die wachsenden Probleme der russischen Rüstungsproduktion, die in erheblicher Weise von westlichen Vorprodukten und Zulieferungen abhängt, werden zumindest mittelfristig dadurch abgemildert, dass die russischen Streitkräfte auf einen großen Fundus eingelagerten Materials aus Sowjetzeiten zurückgreifen können, von denen zumindest ein Teil noch einsatzfähig sein müsste. Auch wenn die Waffen und Ausrüstungsgegenstände alt sein mögen, verfügt Russland damit auf absehbare Zeit über ausreichend militärische Ressourcen, um den Abnützungskrieg in der Ukraine weiterzuführen. Auch wenn damit keinerlei politische Lösung des Konfliktes verbunden ist, muss sich der Westen auf ein Szenario einstellen, in dem der Krieg noch monate- oder gar jahrelang weitergehen könnte.    

Daraus folgt aber eine Reihe von Fragen, auf die es bislang zumindest öffentlich kaum eindeutige Antworten gibt und die dringend einer intensiveren Diskussion bedürfen: 

1. Mit welchem konkreten Ziel, abgesehen von der Vermeidung eines russischen Sieges und der Beseitigung der ukrainischen Souveränität, erfolgt die militärische Unterstützung der Ukraine? Geht es um ein reines Stoppen des russischen Angriffs, etwa im Donbas und – strategisch wohl wichtiger – im Süden, um den ukrainischen Schwarzmeerzugang über Odessa abzusichern? Geht es um die Rückeroberung der seit Februar von den Russen besetzten Gebiete oder gar um die Wiedereingliederung der seit 2014 verlorenen Territorien? Würde dazu im Extremfall auch die Krim gehören, die ja nun offiziell russisches Staatsgebiet ist und damit mit größter Entschlossenheit (und Eskalationsgefahr) von der russischen Führung zu verteidigen wäre? 

2. Wie kann die ukrainische Führung im Zweifel dazu gebracht werden, im Sinne der westlichen Vorstellungen – wie auch immer diese einheitlich zu formulieren wären – zu handeln? Kann vor dem Hintergrund der bisher erbrachten Opfer und der moralischen Rolle als Ziel der russischen Aggression wirklich Druck auf Kiew ausgeübt werden, um nicht zum Beispiel über das Ziel hinauszuschießen und die westlichen Waffen für weitergehende Attacken auf Russland zu nutzen, die zumindest nicht im westeuropäischen Interesse sind? Kann man die militärische Unterstützung der Ukraine überhaupt im Sinne dieses Interesses maßschneidern?

3. Zielen die westlichen Hilfeleistungen auf eine möglichst schnelle Kriegsbeendigung ab, oder könnte eine rationale realpolitische Absicht auch darin bestehen, den Stellvertreterkrieg mit Russland weiterschwelen zu lassen, um Russland dauerhaft zu binden und zu schwächen? Wäre eine solche Vorgehensweise nicht nur überhaupt moralisch zu vertreten, sondern auch im globalen Kontext sinnvoll, wenn damit etwa wichtige Ressourcen vom „Kalten Krieg 2.0“ mit China abgelenkt würden? 

4. Wie soll man mit einem Regime Putin umgehen, das weiter an der Macht bleibt? Sollen und können die Sanktionen gegen Russland langfristig aufrechterhalten werden, wenn sie nicht nur die europäische Wirtschaft in Mitleidenschaft ziehen, sondern Russland möglicherweise dauerhaft in die Arme Pekings treiben, was geopolitisch wohl eher weniger wünschenswert wäre? Wie könnte eine Exitstrategie aus der bestehenden Konfliktkonstellation aussehen, wenn sich auf absehbare Zeit innenpolitisch in Russland nichts ändert?

5. Wie kann die Einheit des Westens mittelfristig aufrechterhalten werden, in der sich bereits erste Brüche zeigen? Neben Gewöhnungseffekten und dem Verlust der Angst vor einem russischen Angriff auf den Westen, die die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für den Krieg bereits zu schwächen scheinen, spielen hier vor allem wirtschaftliche und innenpolitische Interessen eine Rolle. Man denke an die ungarische oder die türkische Blockadehaltung hinsichtlich des Erdölembargos gegen Russland bzw. die Aufnahme Schwedens und Finnlands in die NATO. Auch eine wachende Entfremdung zwischen der EU und der Ukraine angesichts sich notwendigerweise hinschleppender Beitrittsverhandlungen ist zu erwarten; ganz zu schweigen von den strategischen Divergenzen unter den EU-Europäern, von denen die Osteuropäer (zusammen mit dem UK) eine harte und offensive Haltung gegenüber Russland einnehmen, während die Westeuropäer, allen voran die Deutschen, eher vorsichtig und bisweilen zögerlich erscheinen. Man könnte durchaus auf den Gedanken kommen, dass die russische Führung den Krieg nur so lange durchhalten und propagandistisch auf die Europäer einwirken muss, bis deren Entschlossenheit so weit ins Wanken gerät, dass zumindest gewisse (territoriale) Zugeständnisse der Ukraine an Russland möglich werden.  

6. Wie sieht die langfristige sicherheits- und verteidigungspolitische Orientierung der EU und ihrer zentralen Mitgliedsstaaten aus? Hier stellen sich akute Probleme, die aber bereits seit Jahrzehnten bekannt und in der aktuellen Lage wieder virulent sind, aber bislang nicht wirklich beantwortet wurden: Wie kann die EU (oder eine Untergruppe von ihr) zukünftig ihre Sicherheit dauerhaft und selbstständig gewährleisten, etwa im Sinne der von Emmanuel Macron so forcierten „europäischen Souveränität“ oder „strategischen Autonomie“? Wollen die europäischen Bürgerinnen und Bürger dies überhaupt oder richten sie sich lieber weiterhin unter dem Schutzschirm der USA ein, mit dem Risiko, dass der Konflikt mit China oder eine Wiederwahl Donald Trumps diesen fundamental gefährden? Welches Verhältnis soll entsprechend die EU langfristig zur NATO haben? Wie kann gegebenenfalls eine gemeinsame strategische Kultur inklusive einer gemeinsamen Bedrohungswahrnehmung und Auffassung über die Rolle von Streitkräften als Instrument der Außenpolitik entstehen? Wie können die Ressourcen und effizientere Organisations- und Entscheidungsstrukturen einer stärkeren europäischen Verteidigung gewährleistet werden? Was soll überhaupt die anzustrebende langfristige Rolle Europas in der Welt sein – eine eigenständige Weltmacht zwischen den großen Playern wie den USA und China, eine Zivil- und Friedensmacht ohne militärische Projektionsfähigkeit, eine Insel der Seligen, welche versucht, den eigenen Wohlstand rein defensiv zu verteidigen usw.?

Ganz offensichtlich ist nun in den westlichen Hauptstädten, nicht zuletzt in Berlin, strategisches Denken und Entscheiden gefragt. Bleibt nur die Frage, ob der Wille und die Fähigkeiten dazu tatsächlich vorhanden sind.

  

Literatur

Libman, Alexander (2014): Außenwirtschaftlicher Protektionismus in Russland. Endgültige Abkehr von der Integration in die Weltwirtschaft? Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP aktuell 69, November 2014.

Malle, Silvana (2016): Economic sovereignty. An agenda for Militant Russia. Russian Journal of Economics 2: 111-128.