Netanyahu geht aufs Ganze

In der Nacht zum 13. Juni 2025 hat die israelische Luftwaffe einen massiven Angriff auf iranische Atomanlagen und militärisches sowie nuklearwissenschaftliches Spitzenpersonal geführt. Dies geschah offiziell ohne Zutun, aber mit dem Wissen der USA. Der Angriff war zweifellos seit sehr langer Zeit en détail geplant und wurde quasi letztes Jahr bereits sorgfältig vorbereitet, indem die IAF den größten Teil der weiterreichenden iranischen Luftabwehr ausgeschaltet hat.  

Zwar wurde ein israelischer Versuch, das iranische Nuklearprogramm militärisch auszuschalten oder zumindest mittel- und langfristig zu verzögern, seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten erwartet (s.u.), doch natürlich stellt sich die Frage, warum dies gerade jetzt passiert. Die Antwort besteht wohl in einem Konglomerat innen- und außenpolitischer sowie strategischer Aspekte:

(1) Eine unmittelbare Legitimation gewinnt Israel dadurch, dass die IAEA jüngst zum ersten Mal seit 20 Jahren festgestellt hat, dass der Iran gegen Auflagen für sein Atomprogramm verstoßen hat. Dies ist umso auffälliger, als es der iranischen Diplomatie in Zusammenarbeit mit seinen Verbündeten und Gönnern im 35-köpfigen Gouverneursrat der IAEA bislang stets vermeiden konnte, klar verurteilt zu werden.

(2) Vor dem Hintergrund seiner geostrategischen Lage sieht sich Israel seit seiner Gründung nicht nur stets in seiner Existenz bedroht, sondern hat daraus die militärstrategische Lehre gezogen, dass es unter keinen Umständen zu einer Situation kommen darf, in der sein Überleben unmittelbar und potenziell unwiderbringlich gefährdet oder allein vom guten Willen eines anderen Staates oder sonstigen Akteurs abhängt. Die Möglichkeit eines in nächster Zukunft nicht zuletzt gegen Israel gerichteten Arsenals an Massenvernichtungswaffen muss daher unter allen Umständen verhindert werden, auch wenn dies einen risikoreichen präventiven oder präemptiven Alleingang der IDF bedeutet. Dies ist auch die zentrale Begründung der Verhinderung eines nuklearen Holocausts, welche Netanyahu in seiner Ansprache an die israelische Bevölkerung gegeben hat. Bereits 1981 und 2007 ist die IAF entsprechend gegen irakische bzw. syrische Atomanlagen vorgegangen. In diesem Sinne ordnet sich die jetzige Operation „Rising Lion“ nahtlos in das fundamentale politische und strategische Kalkül des israelischen Staates ein, das nicht zuletzt auch beinhaltet, dass sich Israel, wenn es hart auf hart kommt, nur auf sich selbst verlassen kann. Sicher hat in diesem Zusammenhang auch die unklare Position der USA im Kontext der laufenden Atom-Verhandlungen mit dem Iran eine Rolle gespielt: Zwar sind die bisherigen Fortschritte eher bescheiden, aber allein die Tatsache, dass Donald Trump anscheinend sehr gerne einen "Deal" mit dem Iran hätte (und dafür die militärische Drohung Israels als Druckmittel einsetzte), stellt für Israel ein potenzielles strategisches Problem dar.

(3) Aus einer diplomatischen Perspektive könnte der israelische Angriff möglicherweise dazu beitragen, zumindest in Teilen des Westens das mittlerweile arg angekratzte Image Israels ansatzweise zu verbessern. Das Argument eines Existenzkampfes Israels gegen einen eindeutig feindselig gesinnten größeren Staat, der noch dazu auch von westlicher Seite und im arabischen Raum als strategische Bedrohung wahrgenommen wird, ist in der Öffentlichkeit zweifellos stichhaltiger als der weitergehende Kampf gegen die Hamas im Gazastreifen. Letzterer erscheint bekanntlich mittlerweile unverhältnismäßig und zunehmend auch von Völkerrechtsverstößen und Kriegsverbrechen Israels belastet, sei es im Hinblick auf die Zahl der zivilen palästinensischen Opfer, deren Charakter als legale „Kollateralschäden“ gemäß humanitären Völkerrecht immer fraglicher wird, und des Instruments der Blockade von Hilfslieferungen zu Lasten der Versorgung palästinensischer Zivilisten, sei es die Absicht, im Gazastreifen und im Westjordanland Zwangsumsiedlungen (d.h. letztlich Vertreibungen) und Erweiterungen jüdischer Siedlungen vorzunehmen.

(4) Gerade der Gaza-Krieg verweist auch auf eine innenpolitische Motivation. Nicht zuletzt die Fortführung des Gaza-Krieges und die daraus resultierenden Folgen für die verbleibenden israelischen Geiseln in der Hand der Hamas sowie für den Rekrutierungsbedarf der IDF hat nicht nur zu deutlichen Protesten von Seiten der Geiselangehörigen und der Opposition geführt, sondern auch zu einer veritablen Regierungskrise. Denn nachdem es den Regierungsparteien nicht gelungen ist, sich über die Regelung der Wehrpflicht für die Ultraorthodoxen bzw. deren Aussetzung zu einigen, drohten die Rechtsreligösen mit dem Austritt aus der Koalition. Entsprechend gelang es in der Nacht vom 11. auf den 12. Juni nur mit Mühe und lediglich einer Stimme Mehrheit, einen Gesetzentwurf zur Selbstauflösung des Parlaments und damit Neuwahlen abzuwenden, Neuwahlen, die Netanyahu nach dem damaligen Stand wohl verlieren würde. Dass zwei Tage später der Beginn eines auch explizit so genannten Krieges gegen den Iran steht, dürfte zumindest kein völliger Zufall sein. Denn der Kampf gegen den iranischen „Erzfeind“ könnte im Sinne eines „rally-round-the-flag“-Effekts durchaus dazu führen, dass sich die Mehrheit der israelischen Bevölkerung wenigstens temporär wieder hinter der Regierung sammelt. Zumindest in dieser Hinsicht ist der nun begonnene Krieg Israels gegen den Iran nicht völlig uneigennützig.

    

Literatur:

Rotte, Ralph (2008): Angriff ist die beste Verteidigung - Zur Krise um das iranische Atomprogramm und die militärische Option Israels. IPW Discussion Paper No. 30, RWTH Aachen 2008.