Militärisches Patt, diplomatische Zwickmühle und ein „neuer Krieg“?

Zu Beginn des neuen Jahres ist klar, dass die Kriegsziele beider Seiten im Ukraine-Krieg weitgehend unverändert sind. Während Russland laut Präsident Putin die Anerkennung der territorialen Veränderungen, d.h. der russischen Annexionen in der Ost- und Südukraine fordert und den Krieg als Verteidigungskampf gegen den Westen, insbesondere die USA und die NATO, welche die Ukraine nur für ihre Zwecke ausnutzten, charakterisiert, ist die ukrainische Führung bestrebt, die russischen Truppen aus dem ganzen Land einschließlich der Krim zu vertreiben. Spätestens im Frühjahr werden von beiden Parteien neue Großoffensiven erwartet, wenn die eigenen Verbände mit frisch ausgebildeten Soldaten (Reservisten) und neuem bzw. mobilisierten Material ausgestattet sind. Bis dahin versucht offenkundig insbesondere Russland, durch lokale, teilweise sehr verlustreiche Angriffe die Initiative zurückzugewinnen, ukrainische Kräfte zu binden, Zeit für die eigene Verstärkung zu gewinnen und propagandistische Erfolge zu erringen, insbesondere für das heimische Publikum.

Dass der Krieg mittlerweile ein Abnützungskrieg ist, in dem insbesondere die Artillerie eine zentrale Rolle spielt, ist mittlerweile unbestritten und hat zu intensiven Diskussionen um die beiderseitigen Munitionskrisen geführt. Der massive Munitionsverbrauch hat die russischen Vorräte an Granaten und Raketen deutlich reduziert, die Ukraine gar sieht sich einem deutlichen drohenden Mangel an Geschossen, insbesondere für die vom Westen gelieferten Artilleriesysteme gegenüber, nachdem die Munition nach NATO-Standard nicht mit den bis dato von der Ukraine verwendeten, aus Sowjetproduktion stammenden Typen kompatibel ist. Russland verfügt offenbar noch über ausreichende Reserven und eine mittlerweile hochgefahrene Produktion, um den massiven Artillerieeinsatz, wenngleich möglicherweise mit Abstrichen, auch 2023 weiterführen zu können. Zudem kann auch Munition aus befreundeten Staaten wie Nordkorea oder dem Iran importiert werden.

Schlechter sieht es bei der Ukraine aus, die kaum mehr über eine eigene Produktion von Artilleriemunition verfügt und praktisch vollständig auf Importe aus dem Westen angewiesen ist. Dessen Liefermöglichkeiten sind jedoch ebenfalls begrenzt, sei es aufgrund mangelnder Lagerbestände oder unzureichender Produktionsmöglichkeiten in Folge des massiven Abbaus von Industriekapazitäten nach 1990, sei es aufgrund des Eigenbedarfs insbesondere der teilweise chronisch unterausgestatteten europäischen Armeen wie der Bundeswehr – deren Modernisierungsprozess im Übrigen wesentlich langsamer und ineffizienter abläuft als etwa derjenige der französischen Streitkräfte. Allerdings dürfte es theoretisch trotzdem nicht sonderlich schwierig sein, die Ukraine mit ausreichend Munition zu versorgen, nachdem auch Munition nach NATO-Standard auf dem internationalen Markt reichhaltig verfügbar ist, etwa in Asien, z.B. von der starken südkoreanischen Rüstungsindustrie, sowie aus Lagerbeständen der südkoreanischen Streitkräfte. Außerdem könnte die Kampfkraft der ukrainischen Artillerie durch die Lieferung weitreichender Systeme oder von Präzisions- und Clustermunition (über welche die USA noch in erheblichem Umfang verfügen) wohl aufrechterhalten oder sogar noch gesteigert werden. 

Neben dem Aspekt der potenziellen Eskalationswirkung einer Intensivierung des westlichen Engagements – analog zur Frage der Lieferung von Panzern zeigt – und ethischen sowie rechtlichen Problemen etwa einer Lieferung von Clustermunition ist dabei jedoch vor allem der politische Wille der westlichen Staaten relevant, den Krieg überhaupt auf die Dauer durchzuhalten und zu finanzieren. Hier gibt es in den letzten Wochen (und der angekündigten Panzerlieferungen zum Trotz) Signale, welche von der russischen Führung durchaus als zunehmendes Schwanken der westlichen Staaten bei der Unterstützung der Ukraine und damit als Hinweis auf einen doch noch möglichen Sieg interpretiert werden könnten. So hat sich Präsident Macron im Dezember für Sicherheitsgarantien für Russland ausgesprochen, ebenso für eine aktive Rolle der Europäer bei etwaigen Friedensverhandlungen, und auch in der Bundesrepublik, etwa in der SPD gibt es deutliche Forderungen nach einer diplomatischen Lösung des Krieges. Unabhängig davon, dass am Ende eines jeden Krieges eine irgendwie geartete politisch-diplomatische Regelung steht, bleibt die Frage bestehen, wie nachhaltig das Engagement des Westens tatsächlich ist und wie groß die Gefahr einer Ermüdung der Öffentlichkeit der NATO-Staaten angesichts der nichtendenwollenden Kämpfe. Im schlimmsten Fall droht doch noch ein Erfolg Russlands, welches von seiner politischen und militärischen Kultur und Voraussetzungen her durchhaltefähiger sein könnte als sein westlicher Gegenpart (https://www.youtube.com/watch?v=O4Fm87rZbpw), selbst wenn eine dauerhafte Besetzung der Ukraine in einem solchen Szenario unmöglich erscheint (https://www.youtube.com/watch?v=cAMqsaPGsg0). Präsident Selenskij hat dies offensichtlich ebenfalls im Blick; nicht zuletzt war seine überraschende Washington-Reise kurz vor Weihnachten eine Werbetour zur Aufrechterhaltung der proukrainischen Haltung in den USA, insbesondere im Kongress (https://www.bbc.com/news/world-us-canada-64057847).   

Anders Puck Nielsen, einer der scharfsinnigsten Beobachter des Ukraine-Krieges, hat vor diesem Hintergrund unlängst die Hypothese aufgestellt, dass sich der Krieg Russlands gegen die Ukraine mehr und mehr zu einem Konflikt entwickelt, der nicht mehr nur in den Kategorien eines klassischen zwischenstaatlichen Krieges deuten, sondern sich mehr und mehr als „neuer Krieg“ (https://www.youtube.com/watch?v=MnnP38wtDIs) im Sinne Mary Kaldors (oder Herfried Münklers) interpretieren lässt. Bekanntlich greift Russland in seiner Kriegführung neben Milizen aus dem Donbas auch massiv auf Söldner privater Militärfirmen, insbesondere der Wagner Group Jevgeni Prigoschins (https://www.youtube.com/watch?v=3EDoaJc22oI), sowie tschetschenische Verbände Ramsan Kadyrows zurück, verstärkt seine regulären Streitkräfte also durch irreguläre Kämpfer. Sollte dies eine nachhaltige Privatisierung der Kriegführung bedeuten, in der private Militärakteure (mit finanzieller Alimentierung durch den russischen Staat) die Hauptlast der Kämpfe tragen, so würde sich das Bild des Krieges zunehmend in Richtung eines „neues Krieges“ bewegen, der sich dadurch auszeichnet, dass vor allem nichtstaatliche, private Akteure darin aktiv sind, welche nicht nur kein Aufhebens um das humanitäre Völkerrecht machen, sondern aus eigenen materiellen Interessen gar kein Interesse an einem Kriegsende, mithin an der Erreichung irgendwelcher politischer Ziele haben. Je mehr entsprechend der Krieg den Krieg (durch Zuwendungen des russischen Staates, der sich eine explizite nationalstaatliche Mobilmachung mit all ihren innenpolitischen Legitimationserfordernissen spart) ernährt, desto mehr würde der Krieg in der Ukraine zu einem begrenzten, aber unendlichen Ringen werden, sozusagen zu einer heißen Version der „frozen conflicts“, welche in verschiedenen Bereichen der ehemaligen UdSSR (z.B. in Transnistrien) zu beobachten sind – inklusive des Anreizes, einen „eingefrorenen Konflikt“ anzuheizen, wie im Falle Aserbeidschans gegen Armenien.

Sollte dies tatsächlich der Fall sein, so wäre der resultierende Befund aus einer politikwissenschaftlichen oder strategietheoretischen Perspektive ambivalent und würde letztlich davon abhängen, wie weit der damit verbundene Kontrollverlust der russischen Führung geht. Wären Söldnerführer wie Prigoschin oder Kadyrov in der Lage, die russische Kriegführung in der Ukraine zu bestimmen, wäre der „neue Krieg“ nach seinen wissenschaftlichen Kriterien wohl gegeben und würde bedeuten, dass Verhandlungen mit dem Kreml oder Hoffnungen auf eine diplomatische Beendigung des Krieges hoffnungslos sind. In einem solchen Fall wäre ausschließlich eine brutale militärische Lösung des Konflikts in Form einer Vernichtung der Söldnertruppen (und wahrscheinlich der sie unterstützenden regulären russischen Einheiten) möglich – mit all den humanitären und finanziellen Kosten, die dies bedeuten würde.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es jedoch durchaus gewichtige Hinweise dafür, dass ein solches privatisierungsbedingtes Abgleiten des Krieges in einen „neuen Krieg“ à la Kaldor (noch) nicht gegeben ist. Zweifellos nutzt Vladimir Putin die Wagner Group und ihr Rekrutierungsgebaren in russischen Gefängnissen sowie ihre menschenverachtende Gefechtsführung dazu, die offiziellen russischen Verlustzahlen zu drücken und dennoch Erfolge auf dem Schlachtfeld zu erzielen. Allerdings deutet nichts darauf hin, dass sich die faktische Befehlsgewalt bereits in Richtung der Söldner verschoben hat. Kadyrov ist bislang mit seiner Regionaldiktatur in Tschetschenien trotz zunehmender Zweifel an seiner Loyalität noch immer vom insbesondere finanziellen Wohlwollen des Kreml (https://youtu.be/E-HexVRwEP4) abhängig (abgesehen davon, dass seine in die Ukraine entsandten Truppen quantitativ wie qualitativ wenig überzeugend wirken). Und Prigoschin hat gerade einen deutlichen Dämpfer erfahren, als Putin den bisherigen Befehlshaber und Favoriten Prigoschins (und Kadyrovs), General Surowikin, faktisch degradiert und zum Stellvertreter des neuen Befehlshabers der „militärischen Spezialoperation“, Armeegeneral (Generaloberst) Valery Gerasimov, machte (https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/waleri-gerassimow-putins-neuer-oberbefehlshaber-fuer-den-krieg,TSezh2R). Letzterer ist seit 2012 Generalstabschef der russischen Streitkräfte und stellvertretender Verteidigungsminister und damit einer der militärisch engsten Vertrauten des russischen Präsidenten (https://www.youtube.com/watch?v=cKaXeQovfOY). Putin demonstriert damit, dass er bestrebt ist, die Kontrolle über den Krieg, so langfristig irrational oder zumindest kontraproduktiv er auch sein mag, weiter behalten will. Auch wenn letzterer damit angesichts der Unvereinbarkeit der Ziele beider Seite und ihrer noch bei weitem nicht ausgeschöpften Machtpotenziale noch lange dauern dürfte, weist er zumindest bislang nicht die völlige politische (von humanitären Aspekten ist hier nicht die Rede) Entgleisung eines „neuen Krieges“ auf. 

  

New commander ()

Literatur/Links:

Kaldor, Mary (2012): New and Old Wars: Organized Violence in a Global Era. Stanford: Stanford University Press (3. Aufl.).

Zabrodskyi, Mykhalo u.a. (2022): Preliminary Lessons in Conventional Warfighting from Russia’s Invasion of Ukraine: February-July 2022. London: RUSI, https://static.rusi.org/359-SR-Ukraine-Preliminary-Lessons-Feb-July-2022-web-final.pdf .