Putin erhöht den Druck
Während sich die deutsche Öffentlichkeit frisch aus dem Sommerloch u.a. mit den PR-orientierten carnivoren Essgewohnheiten eines bayerischen Ministerpräsidenten, sachlich überzogenenen, populistischen Debatten um letztlich ineffiziente Grenzkontrollen und Fehlmeinungen zum Bürgergeld sowie klientelpolitischen Streitereien um die Steuerpolitik und Sozialstaatsreformen befasst, verschärft sich die sicherheitspolitische Lage zusehends. Nach dem Gipfel von Alaska, dessen zentrales Ergebnis eine Stärkung des internationalen Standings Vladimir Putins und eine weiter zunehmende Heterogenität des Westens im Hinblick auf die Zukunft der Ukraine war, und der demonstrativen Solidarität zwischen Russland, China und Nordkorea bei der Forderung nach einer neuen Weltordnung auf dem Gipfel der Shanghai Cooperation Organization (SCO) in Beijing scheint die russische Führung in ihrer Auseinandersetzung mit dem Westen Morgenluft zu wittern.
Dass dies trotz der ambivalenten militärischen Lage in der Ukraine mit langsamen russischen Fortschritten und der wachsenden Zermürbung der Ukrainer, aber auch Rückschlägen an der Front und im Hinterland Russlands, sowie den allmähich zunehmenden wirtschaftlichen Problemen der Fall ist, liegt an verschiedenen Faktoren, welche in erster Linie etwas mit der Innenpolitik in den westlichen Ländern zu tun hat: In den USA dominieren etwa Fragen des autoritären Anspruchs Donald Trumps inklusive des Einsatzes der Nationalgarde in demokratisch geführten Staaten, der Existenz und Veröffentlichung der Pädophilen-Listen der „Epstein Files“ oder der Inkompetenz fördernden Personalpolitik des Präsidenten. Zusammen mit der Priorisierung des Feindbildes China und der Hybris Trumps als Friedensstifter und Dealmaker führt dies mittlerweile zu Lieferengpässen bei essentiellem Kriegsmaterial für die Ukraine.
Währenddessen können sich die Europäer nicht auf tatsächlich durchschlagende neue Sanktionen gegen Russland, insbesondere bei den Erdgasimporten, einigen, haben Umsetzungsprobleme bei ihren ambitionierten Rüstungsprojekten oder werden zunehmend durch das Erstarken extremistischer Parteien und Gruppierungen in ihrer Handlungsfähigkeit geschwächt. Sinnbilder hierfür sind beispielsweise das Erstarken nationalistischer und prorussischer Parteien in Umfragen, wie „Reform UK“ in Großbritannien oder der AfD in Deutschland, sowie der Sturz der französischen Regierung durch eine stillschweigende Anti-Establishment-Allianz von Rassemblement National und Links-Bündnis, die gleichermaßen europa- und NATO-skeptisch wie zumindest implizit russlandfreundlich sind.
In der Folge verzögert Putin nicht nur die Waffenstillstandsgespräche bezüglich der Ukraine, sondern setzt im Vertrauen insbesondere auf die Passivität der USA vor allem die europäischen NATO- und EU-Verbündeten durch vermehrte Drohungen und Einmischungen zunehmend unter Druck. Ziel ist es offenbar, den Europäern, insbesondere der europäischen Öffentlichkeit ihre eigene Schwäche vor Augen zu führen, Angst zu schüren und gesellschaftlich-politische Zwietracht zu säen, um die Bündnissolidarität und den Willen zum Widerstand gegen russische Machtambitionen zu untergraben.
Dies zeigt sich jüngst exemplarisch in folgenden Ereignissen:
(1) der „unabsichtlichen“ Beschädigung der EU-Vertretung in Kiew während eines Bombardements des Stadt in der Nacht zum 28. August, einem Vorfall, der in gewisser Weise an die „versehentliche“ Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad durch NATO-Flugzeuge im Zuge des Kosovo-Krieges 1999 erinnert, welcher nicht zuletzt als ein Auslöser für die folgenden Aufrüstungsbemühungen Chinas gesehen wird, um nicht wieder wehrlos gegenüber einer militärisch überlegenen Supermacht zu sein;
(2) Drohungen von Putins Mann fürs verbal Grobe, Dimitri Medwedew, gegen Finnland, das einen Krieg gegen Russland vorbereite, ebenso wie gegen Österreich, wo es eine neuerliche Debatte um die Neutralität gibt;
(3) der provokativen, testweisen Entsendung einer größeren Zahl von Drohnen im Vorfeld des anstehenden ZAPAD („Westen“)-Manövers in Belarus am 10. September, welche im polnischen Luftraum von der Luftwaffe abgeschossen wurden;
(4) dem Sturz der Regierung Bayrou in Frankreich, auch wenn dieser sicher nicht direkt auf russische Einflussnahme zurückzuführen ist, angesichts der Rolle russischer Desinformation in innenpolitischen Debatten in Westeuropa aber hervorragend ins Konzept des Kreml passt - schließlich wird dadurch nicht nur die Finanzierung einer etwaigen französischen Beitrags zu einer Friedenstruppe der „Koalition der Willigen“ für die Ukraine gefährdet, sondern die Führungsrolle Frankreichs in der EU insgesamt und potenziell gar die Stabilität des Euroraums bedroht -; sowie
(5) den verstärkten Aktivitäten der zumindest zum Teil von russlandfreundlichen Gruppen wie Querdenkern, AfD oder BSW getragenen sogenannten „Friedensbewegung 2.0“ vor dem Hintergrund der deutschen Diskussion um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht, welche dazu beitragen, die Friedensbewegung praktisch in eine vielleicht naiv anmutende, aber zumindest genuine pazifistische und eine prorussische, einseitige Aggression befürwortende Richtung zu spalten. Als symbolisch hierfür mag man etwa die Wiederentdeckung des Reinhard-Mey-Liedes „Nein, meine Söhne geb‘ ich nicht“ ansehen, quasi einer Anti-Wehrdienst-Hymne der Friedensbewegung von 1986. Solche Lieder werden offenbar zunehmend auch von der rechten Szene in Beschlag genommen oder von Friedensinitiativen, welche sich bewusst oder unbewusst insbesondere russische Narrative zu eigen machen.
Was folgt aus alledem? Kurzfristig ist es sicher notwendig, dass die NATO ihre Solidarität mit Polen und damit die gemeinsame Verteidigungsbereitschaft demonstriert, wie dies auch bereits in der beabsichtigten Ausweitung des Engagements der deutschen Luftwaffe im NATO Air Policing über Polen anklingt. Ebenso drängend, aber in seinen Konsequenzen nur mittelfristig umsetzbar ist jedoch die Notwendigkeit für die deutsche und die westeuropäischen Gesellschaften, jenseits pazifistischer Träumereien und prorussischer Propaganda endlich zu akzeptieren, dass es tatsächlich eine russische Bedrohung gibt und dass der Ukraine-Krieg und die Sicherheit von EU und NATO keine getrennten Dinge sind. Im Gegenteil: Angesichts der Unsicherheit des US-Engagements in Europa und der weiter bestehenden militärischen Defizite der Westeuropäer erscheint es unabdingbar, sich für eine wirksame Abschreckung Russlands zunehmend Gedanken über eine massiv verstärkte verteidigungspolitische Kooperation und Verbindung mit der nach Russland zweitstärksten Militärmacht des Kontinents zu machen: der Ukraine.