Putin im Erpressermodus

Angesichts der militärischen Rückschläge in der Ukraine und der Probleme der Teilmobilmachung, sowohl, was deren administrativen Organisation und Akzeptanz in der russischen Gesellschaft als auch Zweifel an deren militärischen Effektivität angeht, sieht sich die russische Führung in einer Zwickmühle, was die in ihren Augen angemessene Beendigung des Ukraine-Krieges und damit ihren Machterhalt angeht. Innenpolitisch wird diese  Zwickmühle noch schwieriger, als es möglicherweise deutliche Konflikte zwischen den Falken und den Gemäßigten in Vladimir Putins Umfeld gibt. Der Weg, den der russische Präsident in dieser Situation einzuschlagen gedenkt, ist in den letzten Tagen deutlicher geworden: Erpressung des Westens, um durch ein Einknicken insbesondere der Westeuropäer die Unterstützung der Ukraine zu schwächen und diese doch noch zu einem Frieden zugunsten Russlands zu zwingen. Drei Elemente sind es, die neben der üblichen Desinformation und der konventionellen Anstrengungen der russischen Streitkräfte den Kern dieser Strategie bilden: 

(1) Die Pseudoreferenden in vier ukrainischen Bezirken und deren bevorstehende Annexion in die Russische Föderation verdeutlichen ebenso wie die bislang eher missglückte Mobilmachung, dass Putin nicht bereit ist, seine Ambitionen bezüglich der Ukraine aufzugeben. Die faktische Erklärung der Oblaste Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischja zu russischem Gebiet, welches entsprechend natürlich vom russischen Staatsoberhaupt als Garant der territorialen Integrität und Souveränität Russlands zu verteidigen ist, bedeutet nichts Anderes, als dass der Gewinn des Donbas und der Landbrücke zur Krim mittlerweile das nicht verhandelbare Minimalziel der russischen Aggression gegen die Ukraine ist, selbst wenn die weitergehenden Absichten einer Schwächung der NATO und eines Regime Change in Kiew gescheitert sind. In diesem Sinne sind die fingierten Abstimmungen in der Ost- und Südukraine zugleich ein Eingeständnis der (militärischen) Schwäche Russlands und ein Zeichen der Entschlossenheit seiner Führung, mit einem gegenüber der eigenen Bevölkerung vorzeigbaren (und den eigenen ideologischen Weltwahrnehmungen entsprechenden) Gewinn aus dem Krieg herauszukommen. So oder so sind sie auch ein Verhandlungsangebot an den Westen (die Ukraine kann in der gegenwärtigen Lage natürlich nicht darauf eingehen und wird von Moskau auch nicht als ernstzunehmender Verhandlungspartner angesehen).      

(2) Die Drohung mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen, die in den letzten Tagen nochmals durch Büttel des russischen Präsidenten wie Dimitrij Medwedew nochmals unterstrichen wurde, soll der Erpressung Nachdruck verleihen. Der unverhohlene Verweis auf die angebliche Legitimation Russlands für zumindest einen Einsatz taktischer Nuklearwaffen in der Ukraine soll die Entschlossenheit Putins unterstreichen und zugleich diejenige des Westens (und wohl auch der Ukraine) unterminieren. Selbst wenn der Einsatz solcher Waffensysteme aus militärischer Sicht zur Stabilisierung der russischen Front nur wenig Sinn haben würde - zumindest wenn nicht auf eine größere Zahl von Sprengköpfen zurückgegriffen oder gezielt Versorgungs- und Führungszentren im ukrainischen Hinterland angegriffen (bzw. flächendeckend Teile der Infrastruktur durch einen elektromagnetischen Puls von in der Atmosphäre gezündeten Sprengköpfen lahmgelegt) würden -, wäre damit die Schwelle des seit 1945 haltenden „nuklearen Tabus“ überschritten, was aus der Sicht des Kremls zumindest in Westeuropa zu Panik und sofortiger Kompromissbereitschaft führen sollte. Denn schließlich sind die europäischen NATO-Mitglieder, möglicherwiese mit Ausnahme Polens, der baltischen und der skandinavischen Länder aus russischer Sicht eher Wackelkandidaten, wenn es um die Akzeptanz strategischer Risiken angeht. Ganz abgesehen davon könnte die russische Führung die innenpolitischen Auseinandersetzungen und die prorussische Haltung rechter wie linker Parteien in Westeuropa inklusive der anstehenden Regierungsbeteiligung zweier Putinfreunde in Italien dahingehend interpretieren, dass die konfrontative Haltung gegenüber Russland zu bröckeln beginnt.        

(3) Die Ausweitung des Hybridkrieges durch Angriffe auf die kritische Infrastruktur soll zudem den ökonomischen Druck auf die Gegner Russlands erhöhen. Nicht nur haben sich die russischen Streitkräfte in der Ukraine darauf verlegt, die Energie- und Wasserversorgung der Bevölkerung zu beschießen, sondern die offensichtlichen Anschläge auf die Gaspipelines Nordstream 1 und 2 können als Warnung interpretiert werden, dass Russland Mittel und Wege hat, auch in Mittel- und Westeuropa Versorgungskrisen für die Bevölkerung neben dem Gasembargo auch durch eine direkte Beeinträchtigung der Versorgungssysteme zu verschärfen, und zwar nicht nur durch Cyberangriffe, sondern im Zweifel auch durch physische Gewaltanwendung. Der implizite Hinweis darauf, dass auch andere Pipelines oder Leitungssysteme unterbrochen werden könnten, soll über die Furcht vor weiteren Preissteigerungen oder gar einem Ausfall von Strom und Heizung während des Winters den Widerstand von Bevölkerung und Wirtschaft in Westeuropa gegen die Russlandsanktionen und die Unterstützung der Ukraine anstacheln. Die jüngste Demonstration in Prag mag darauf ein Vorgeschmack sein, ebenso die Warnungen deutscher Politiker vor einem „Wutwinter“.       

Wie soll der Westen in dieser Lage reagieren? Ganz offensichtlich sind zumindest (möglicherweise wachsende) Teile der westeuropäischen Bevölkerung durchaus bereit, für das eigene Wohl auf die russische Erpressung einzugehen, auch wenn die politischen Führungen ihre weitere Solidarität unterstreichen. Soll die russische Aggression zu guter Letzt nicht doch noch von Erfolg gekrönt sein und damit eine Blaupause für zukünftige weitere Angriffskriege in Europa und darüber hinaus bilden, dann erscheint es notwendig, der russischen Führung klarzumachen, dass ihre Strategie nicht aufgeht. Letztlich geschähe dies in der Hoffnung, dadurch den innenpolitischen Druck auf Putin so zu erhöhen, dass er seine völkerrechtswidrigen Absichten entweder aufgibt – was bislang durch die Beherrschung der russischen Meiden durch den Kreml durch einen entsprechenden „Spin“ noch zu „verkaufen“ sein könnte, insbesondere dann, wenn es potenzielle Sündenböcke gibt (den Verteidigungsminister, die Spitzen des Militärs oder der Wehrverwaltung) – oder durch interne Veränderungen sein Amt verliert. Ein solcher Gegendruck lässt sich durch eine weitere Verschärfung der Sanktionen und zusätzliche Waffenlieferungen (und Wirtschaftshilfe) an die Ukraine realisieren, begleitet von einer Verschärfung der (auch militärischen) Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz kritischer Infrastruktur und natürlich Maßnahmen zur Abfederung sozialer Härten der Energie- und Energiepreiskrise. Es liegt auf der Hand, dass dies sowohl den politischen Entscheidungsträgern als auch der Bevölkerung einiges an Standfestigkeit abverlangen dürfte. Zudem bleibt es eine zentrale Aufgabe der Diplomatie, das insbesondere in Teilen Afrikas und Asiens (und nicht nur dort) erfolgreiche Narrativ, der Konflikt sei letztlich auf die NATO und insbesondere die USA zurückzuführen und nur eine Notwehrhandlung Russlands gegen westlichen Imperialismus, zu bekämpfen, nicht zuletzt durch das Angebot wirtschafts- und sicherheitspolitischer Alternativen zu russischen Avancen.

Und was passiert, wenn die russische Seite die nukleare Drohung tatsächlich wahr macht, so unwahrscheinlich dies im Augenblick auch erscheint? Bereits seit Beginn des Krieges wird die Frage nach einer angemessenen Antwort auf einen russischen selektiven Atomwaffeneinsatz in der Ukraine diskutiert, und es kristallisieren sich vier Optionen einer – wohl naturgemäß von den Vereinigten Staaten angeführten – Reaktion heraus, um sowohl eine faktische Kapitulation vor der nuklearen Erpressung als auch eine automatische Eskalation zum Atomkrieg zu vermeiden: (1) eine Verschärfung der Sanktionen, zusammen mit der Nutzung der zu erwartenden Verurteilung des russischen Vorgehens auch durch Staaten wie Indien und China zur vollständigen Isolation Russlands, (2) eine nukleare Reaktion auf gleichem Niveau, sei es zu Demonstrationszwecken in unbewohntem Gebiet, sei es gegen russische Positionen außerhalb des russischen Staatsgebiets, also in der Ukraine (oder in Belarus), (3) eine massive konventionelle Reaktion, etwa gegen die beteiligten russischen Atomstreitkräfte (Abschussbasen) oder in Form einer Intervention in der Ukraine mit entsprechender Zerschlagung der dortigen russischen Verbände oder der Versenkung der Schwarzmeerflotte, oder (4) die Durchführung eines zuvor auf vertraulichem Weg unmissverständlich angedrohten Regime Change in Russland durch die (physische) Ausschaltung des Präsidenten und seiner Entourage.

Neben der tatsächlichen Durchführbarkeit besteht allen vier Fällen natürlich das Restrisiko einer weiteren Eskalation, welche bei einer nichtnuklearen Reaktion wohl noch wahrscheinlicher wäre, weil sich die russische Führung in ihrer Annahme westlicher Schwäche bestätigt sehen könnte. Die vierte Option ist trotz des Aspektes des „Tyrannenmordes“ wohl ethisch wie rechtlich, aber auch vor der praktischen Realisierung her am problematischsten. In der gegenwärtigen Konstellation erscheinen die erste und die dritte Möglichkeit am zielführendsten: Der Verlust der wennauch lauwarmen Unterstützung insbesondere durch die Volksrepublik China wäre für Russland wohl wirtschaftlich katastrophal, während die NATO, gestützt auf die Fähigkeiten der US-Streitkräfte wohl mehr oder weniger problemlos in der Lage wäre, entscheidend in den Ukrainekrieg einzugreifen und Putins Ambitionen dort vollständig zunichte zu machen. Teilweise ist – durchaus vollmundig – die Rede davon, dass die faktische Vernichtung der russischen Kräfte in der Ukraine binnen 96 Stunden möglich wäre, und eine mögliche Lesart des unlängst erfolgten Abzugs von Teilen der Schwarzmeerflotte von der Krim besteht wohl auch darin, dass damit ein Schlag der NATO gegen sie erschwert werden soll. 

Keine der genannten Optionen ist hundertprozentig erfolgversprechend, und eine realistisch geprägte Betrachtung der gegenwärtigen Konstellation mag dem einen oder anderen zynisch, unrealistisch oder verantwortungslos erscheinen, nachdem es im Zweifel um Abertausende von Menschenleben geht, zumal bei der Frage des Einsatzes von Atomwaffen. Doch aus einer längerfristigen Perspektive der Gewährleistung eines regelbasierten und gleichgewichtsorientierten internationalen Systems erscheint es mindestens ebenso zynisch und verantwortungslos, ein Nachgeben gegenüber der russischen Erpressung in Erwägung zu ziehen: Auch im internationalen Kontext sind – zumindest aus einer abschreckungs- und strategietheoretischen Perspektive – starke Gegendrohungen das am ehesten erfolgversprechende Instrument gegen Gangstermethoden.

  

Literatur/Link:

Traub, James (2022): The Crazy Logic of Brinkmanship Is Back. The West can only counter Putin’s nuclear threats with ruinous threats of its own. Foreign Policy, 26. September 2022, https://foreignpolicy.com/2022/09/26/crazy-logic-brinksmanship-putin-russia-ukraine-united-states/ .