Putins Plan B und seine Fragezeichen

Verschiedene Informationen und Spekulationen deuten darauf hin, dass die russische Führung in ihrer Auseinandersetzung mit der Ukraine und dem Westen nach dem Scheitern des ursprünglichen Plans einer schnellen Besetzung Kiews und eines ukrainischen Regimewechsels nun ihre Absicht, die Ukraine zu kontrollieren, nun in einer abgespeckten und weniger direkten Weise weiter verfolgt, dabei jedoch mit weiteren Problemen konfrontiert ist, auf die sie teilweise unerwartete Antworten sucht. Drei Punkte seien hierzu knapp erwähnt:

Erstens besteht der russische Plan B offenbar darin, nun die Ost- und Südukraine zu besetzen, sei es, um Teile davon als Verhandlungsmasse gegenüber der ukrainischen Regierung zu nutzen, sei es, um sie tatsächlich früher oder später der Russischen Föderation einzuverleiben. Dabei geht es um den größten Teil des historischen „Neurusslands“, welches bekanntlich seit längerem auch ideologisch ein zentrales Ziel des russischen Präsidenten ist. Dazu gehören wenig überraschend der Donbas mit den Oblasten Donezk und Luhansk, die Landbrücke zwischen der Krim und dem Donbas um Mariupol sowie die Region Kherson mit ihren für die Krim essentiellen Süßwasserressourcen. Jüngste Äußerungen russischer Politiker und Militärs sowie die wachsende Unruhe in Transnistrien deuten aber darauf hin, dass auch die übrige ukrainische Schwarzmeerküste bis zu den abtrünnigen Gebieten Moldawiens besetzt werden sollen, insbesondere die Hafenstadt Odessa. 

Die Einnahme dieser Territorien hätte einige Vorteile für Russland, selbst wenn die wirtschaftliche Nutzung der Schwarzmeerhäfen wegen der westlichen Sanktionen auf absehbare Zeit kaum relevant wäre: Durch die hohe Präsenz russischsprachiger Minderheiten bestünde die Chance, erfolgreich „Unabhängigkeitsreferenden“ nach dem Muster der Krim abzuhalten, ohne auf reine militärische Erpressung zurückgreifen zu müssen. Dies würde Putin zumindest innenpolitisch erlauben, den Krieg als Erfolg zu verkaufen und die neuen „unabhängigen“ Republiken entweder als Dauerärgernis für die Ukraine zu nutzen oder tatsächlich früher oder später nach Russland „heimzuholen“. Zudem wäre eine Ukraine ohne Meereszugang ökonomisch weitgehend vom russischen Goodwill abhängig, wenn sie weiter Außenhandel betreiben wollte, der zu einem großen Teil (etwa bei den üblicherweise über Schüttguttransporter abgewickelten Getreideexporten) über die Schwarzmeerhäfen abgewickelt wird. Russland würde also auf dem geoökonomischen Weg einen Hebel zur Dominanz der Ukraine gewinnen, der ihm direkt militärisch verwehrt ist.

Auf der anderen Seite ist die strategische und operative Kehrseite eines solchen Vorgehens unübersehbar: Zum einen würde ein weiteres Ausgreifen die Küste entlang nach Westen zu einer zusätzlichen Verschärfung der mittlerweile wohlbekannten logistischen Probleme des russischen Heeres führen. Allein Odessa und Kherson sind rund 140 Kilometer Luftlinie voneinander entfernt; auf der Straße bzw. per Bahn sind es (über Mykolayiv) etwa 200 bzw. 150 Kilometer. Kherson ist etwa 350 Kilometer von der rumänischen Grenze entfernt. Es stellt sich die Frage, ob die Eroberung dieses großen Territoriums mit den verfügbaren personellen und materiellen Mitteln überhaupt zu leisten ist, ganz abgesehen davon, dass die bestehende russische Truppenstärke sicherlich nicht ausreicht, um die Gebiete dauerhaft gegen den Widerstand einer feindlich gesinnten Bevölkerung und ukrainischer Spezialkräfte sowie ukrainische Gegenangriffe gegen die lange Nordfront des Küstenstreifens zu halten.

Hier kommen zweitens zwei weitere, gegenwärtig noch nicht bestätigte Aspekte hinzu: Nachdem der russische Generalstabschef Armeegeneral Valeri Gerasimov, im Westen vor allem bekannt durch seine Konzeption des Hybridkrieges („Gerasimov-Doktrin“) wochenlang von der Bildfläche verschwunden war und bereits gemutmaßt wurde, er sei der Säuberung der Spitzen des Militär- und Geheimdienstapparates durch Putin zum Opfer gefallen, gibt es nun (wie gesagt noch unbestätigte) Hinweise dafür, dass er persönlich die russischen Operationen bei Isjum leiten soll, die offenbar die Ausflankierung und etwaige Abschnürung des ukrainischen Frontbogens im Donbas von Norden her zum Ziel hat. Dazu scheinen auch noch zusätzliche Kräfte nördlich davon im Raum Charkiv-Belgorod zusammengezogen zu werden. Trifft dies zu, so zeigen sich darin, sofern es sich nicht um eine ganz ausgeklügelte russische Finte handelt, zwei Dinge: Die Schwächung oder Zerschlagung der ukrainischen Verbände im Donbas hat allerhöchste Priorität für die russische Führung, um die Eroberung des Donbas schnell abzuschließen und so einen propagandistischen Erfolg vorweisen bzw. Truppen für die Offensive in der Südukraine freimachen zu können. Außerdem wäre die Übernahme einer operativ-taktischen Aufgabe durch den höchsten Militär der Russischen Föderation - unabhängig davon, wie groß seine diesbezüglichen Kompetenzen tatsächlich sein mögen - ein untrügliches Zeichen dafür, dass die russischen Streitkräfte tatsächlich mit ganz massiven Führungs-, Moral- und Versorgungsproblemen konfrontiert und bei weitem nicht auf der Höhe ihrer erwarteten Leistungsfähigkeit sind. Auch die Vermutung, dass ein etwaiger russischer Nuklearwaffeneinsatz formal nicht nur von Vladimir Putin, sondern auch von Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerasimov genehmigt werden müsste, verheißt in diesem Zusammenhang nichts Gutes.

Dazu passt ebenfalls, dass mittlerweile der Verdacht besteht, dass die Deadline des Tages des Sieges am 9. Mai, welche bislang immer als zentraler Orientierungspunkt Putins gesehen wurde, um am für das russische Staatsverständnis höchsten Feiertag anlässlich des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg 1941 bis 1945 gegenüber dem russischen Volk einen Erfolg in der Ukraine vermelden zu können, auch anders interpretiert werden kann: Zumindest dann, wenn bis zu diesem Datum kein durchschlagender militärischer Erfolg erreicht worden ist (für den eben im Zweifel Gerasimov persönlich sorgen soll), könnte Präsident Putin das patriotische Fieber der Feierlichkeiten als Gelegenheit nutzen, von der bisherigen Charakterisierung des Krieges in der Ukraine als „militärische Spezialoperation“ abzugehen und unter Verweis auf den Widerstand der stark von der NATO und den USA unterstützten ukrainischen „Nazis“ eine stärkere Mobilmachung Russlands bis hin zur Ausrufung eines neuen antifaschistischen Krieges zu proklamieren. Äußerungen zu den Vorbereitungen für die Militärparade am 9. Mai, in denen u.a. auf das Symbol „Z“ im Sinne zweier verbundener Ziffern 7 zur Erinnerung an den 77. Jahrestages des Sieges über Nazideutschland verwiesen wird, deuten zumindest das Potenzial für ein entsprechendes propagandistisches Spinning an. Eine wirkliche Mobilmachung Russlands würde natürlich eine potenzielle Verschiebung der Kräfteverhältnisse in der Ukraine und eine neue Qualität des Konfliktes bedeuten, in dem westliche Betrachter bislang stets eigentlich nur mit den aktuell stehenden Streitkräften Russlands (plus einiger weniger Verstärkungen durch Rservisen und irreguläre Verbände) und deutlichen innenpolitischen Restriktionen der russischen Mobilisierung gerechnet haben.

Dazu passen schließlich drittens sich mehrende Befürchtungen, dass die russische Führung nicht nur eine Ausweitung des Krieges Richtung Transnistrien (und damit über das Gebiet der Ukraine) beabsichtigt, sondern ihren Einfluss auf dem Westbalkan nutzen will, um die dortigen latenten Konflikte wieder gewaltsam eskalieren zu lassen. Ziel wäre etwa eine Anstachelung der ethnisch-nationalistischen Spannungen in Bosnien-Herzegowina oder zwischen Serbien und dem Kosovo (plus Albanien), um das „Pulverfass Balkan“ zu einer neuen Explosion und zu einer Ausweitung des Krieges nach Südosteuropa mit den entsprechenden negativen Folgen für die innen- und außenpolitische Kohärenz der EU- und NATO-Staaten sowie die Möglichkeiten der NATO, die Ukraine militärisch zu unterstützen. Warnungen in diese Richtung gibt es u.a. auch von deutscher Seite und von Think Tanks vor Ort bereits seit Wochen und Monaten, und die jüngsten Sanktionsmaßnahmen des U.S.-Finanzministeriums gegen verschiedene Personen im Westbalkan zeigen, dass auch die US-amerikanische Regierung diese Gefahr durchaus ernst nimmt.

Unabhängig von befürchteten russischen Übergriffen auf NATO-Staaten wegen der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine oder des nicht abschließend auszuschließenden Restrisikos eines Einsatzes taktischer Nuklearwaffen durch eine in militärische Bedrängnis geratene russische Führung zeigen sich damit auch verschiedene andere potenzielle Eskalationsdynamiken des Ukraine-Krieges. Die Situation ist zweifellos komplexer und damit auch für die politischen Entscheidungsträger schwieriger, als sich dies in den meisten öffentlichen Diskussionen hierzulande zeigt.