Russische Digitalisierung für den neuen „long war“
Während man hierzulande darauf wartet, dass die erwartete große ukrainische Gegenoffensive gegen die russischen Invasoren beginnt – so sie es noch nicht längst getan hat -, bereitet sich Russland offenbar darauf vor, dem Kampf gegen die NATO, um den es aus Sicht des Kreml ja vordringlich geht, auf unbestimmte Zeit weiterführen zu können. Nicht nur versucht das russische Militär im Rahmen der Abnutzungsstrategie u.a. durch Raketen- und Drohnenangriffe die ukrainische Luftwaffe zu erschöpfen und hohe finanzielle Kosten (für die westlichen Sponsoren der Ukraine) zu verursachen, und versucht, den Ukrainern durch eine Mischung aus eigenen Angriffen und Ausbau von Verteidigungsstellungen möglichst hohe materielle und personelle Verluste zuzufügen. Vielmehr wird gleichzeitig die eigene Rüstungsproduktion – wenngleich auch nicht auf modernstem Niveau - hochgefahren und durch Zukäufe im Ausland, etwa Tausender iranischer Drohnen, ergänzt, um die Materialschlacht in der Ukraine zu nähren. Und um das Personalproblem der russischen Streitkräfte dauerhaft zu minimieren, greift man nicht nur auf Söldnertruppen wie die Wagner-Gruppe zurück, sondern trifft Vorkehrungen für eine möglichst reibungslose selektive, aber konstante Mobilmachung von Teilen der Bevölkerung.
Denn nichts anderes impliziert das jüngst verabschiedete Gesetz zur Digitalisierung der Einberufung russischer Wehrpflichtiger und Reservisten. Während das Gesetz in der westlichen Berichterstattung vor allem unter dem Augenmerk der Verhinderung von Fluchtbewegungen Einberufener wie bei der Teilmobilmachung im letzten Herbst erfolgte, steckt hinter der Digitalisierung der Einberufung wahrscheinlich noch viel mehr. Sie ist nämlich verbunden mit einer Zusammenführung persönlicher Daten aller potenziell Betroffener in einer großen Datenbank, in die umfassende Informationen über alle sozialen, ökonomischen und wohl auch politischen Aspekte der Individuen einfließen. Sobald diese Datenbank funktioniert, was anscheinend ab 2024 geplant ist, können in einer Art „social credit“-System militarisierter Art diejenigen gezielt herausgefiltert werden, deren Einberufung zur Armee den geringsten politischen Widerstand hervorruft, weil sie keinen Rückhalt in der russischen Mehrheitsgesellschaft haben und auch aus Arbeitsmarktperspektive „entbehrlich“ sind. Das betrifft beispielsweise ethnische Minderheiten und die Landbevölkerung in Zentral- und Ostrussland (welche bereits bislang überproportional mobilisiert wurden), Straffällige, sozial Unterprivilegierte oder schlecht Ausgebildete.
Während die zynische Rekrutierung dieser Gruppen zweifellos keine hochqualifizierten und –motivierten Streitkräfte generieren wird, dürfte es im Kalkül des Kreml dafür reichen, die Front mit ausreichend Menschen zu „füttern“ und den Krieg dauerhaft weiterführen zu können, ohne massive innenpolitische Verwerfungen befürchten zu müssen. Auf diese Weise dürfte sich die russische Führung erhoffen, das demographische Übergewicht Russlands gegenüber der Ukraine (vor dem Krieg ca. 143 Mio. gegen rd. 44 Mio. Einwohner) auszuspielen und bis zu letzterer physischer und/oder psychischer Erschöpfung bzw. bis zur Ermüdung ihrer westlichen Unterstützer angesichts der steigenden Kosten weiterzukämpfen. Am Ende dieses Abnutzungskrieges könnte dann doch so etwas wie ein zu proklamierender Sieg Russlands stehen, der nach einer Regenerationspause die nächste Runde in der Auseinandersetzung mit dem Westen einläuten könnte.
Im Kontext des „Global War on Terror“ der 2000er und 2010er Jahre war häufig davon die Rede, der Westen müsse sich gesellschaftlich, ökonomisch und militärisch auf einen „langen Krieg“ einstellen, der nicht mit glänzenden Siegen, sondern letztlich nur durch einen überlegenen politischen Durchhaltewillen zu gewinnen sei. Russland macht Anstalten, die westlichen, nicht zuletzt die westeuropäischen Demokratien in ähnlicher Weise auf die Probe zu stellen.