Rätselraten und Propaganda um ein Attentat in Moskau

In der Nacht vom 20. auf den 21. August 2022 wurde die russische Journalistin Darya Dugina in Moskau das Opfer einer Autobombe. Dugina war eine glühende Apologetin der laufenden „militärischen Spezialoperation“ gegen die Ukraine; gerade vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges ist aber wohl bedeutsamer, dass sie die Tochter Aleksandr Dugins war, eines der bekanntesten Vertreter des Neo-Eurasianismus. Es wird spekuliert, ob der Anschlag nicht eigentlich hauptsächlich ihm gegolten hat, jedoch dann Darya Dugina traf, nachdem Dugin selbst kurzfristig ein anderes Fahrzeug benutzte. 

Der Neo-Eurasianismus ist ein Konglomerat kulturtheoretischer, geschichtsphilosophischer und geopolitischer Ansätze, welche zusammen postulieren, dass Russland einen eigenen Kulturkreis mit einem Führungsanspruch in Eurasien darstellt und eine Position als den USA mindestens gleichgestellte Weltmacht innehaben sollte. Die historisch-kulturellen Aspekte führen analog zur europäischen Neuen Rechten zur Propagierung eines Wertekanons, der sich vor allem durch einen metaphysisch überhöhten Erzkonservatismus als angeblichen Ausdruck russisch-orthodoxer Eigenart (inklusive traditionellem Familienbild und Homophobie), antiwestlichen (vor allem antiamerikanischen) Antiliberalismus sowie faschistoiden Autoritarismus im Sinne einer quasi-konsensualen Führung Russlands durch eine „starke Hand“ gekennzeichnet ist. Russland kommt dabei die Mission der Wiederherstellung nationaler Größe nach dem Kollaps der Sowjetunion und die Rolle als Hort „wahrer“ europäischer Werte (gegenüber dem angeblich verweichlichten und identitätsbedrohenden Liberalismus westeuropäischer Prägung) zu. Aus historischer Perspektive kommt Russland so in der Geschichtsinterpretation à la Putin das Verdienst zu, Europa zweimal unter ungeheuren eigenen Opfern vor diktatorischer Gewaltherrschaft (Napoleons bzw. Hitlers) bewahrt zu haben, was Russland nach 1815 bzw. 1945 jedoch nur unzureichend gedankt wurde, gleichzeitig aber die besondere Leidensfähigkeit und globalhistorische Aufgabe des russischen Volkes unterstreicht.

Dugins geopolitisches Modell ist dabei vereinfacht eine Mischung aus klassischer Geopolitik nach Halford Mackinder oder Rudolf Kjellen, Vorstellungen einer Großraumordnung nach Carl Schmitt und Interpretationen internationaler Beziehungen als Konkurrenzkampf kulturell definierter und von Großmächten dominierten Einflusssphären analog zu Samuel Huntingtons „Clash of Civilizations“. Daraus leitet er eine anzustrebende neue Weltordnung ab, in der Russland die Führungsrolle in Eurasien zukommt, und zwar durch die direkte Herrschaft über die Gebiete der ehemaligen UdSSR (inklusive der zu annektierenden Ukraine), den Balkan und Finnland, die enge Anbindung des Baltikums und Polens sowie des Iran und Japans (als „Achsenpartner“) an Russland, sowie die Partnerschaft mit Indien und Westeuropa als deutsch-französischem Block als Einflusssphäre Deutschlands („Achse Moskau-Berlin“). Diesem vor Russland dominierten Eurasien stehen als Gegner der „atlantische Block“ mit den USA und dem UK, China (mit seiner Einflusssphäre Südostasien und Ozeanien) sowie die Türkei (mit ihrer Einflusssphäre Naher Osten) gegenüber. 

Obwohl weder Dugina noch ihr Vater zum engsten Kreis um Vladimir Putin gehörten, werden die Theorien Dugins insbesondere im Westen häufig als wichtige Legitimationsgrundlage oder zumindest Anregung für die russische Außenpolitik unter Putin angesehen. Dugin selbst hat seine Tochter auf ihrem Begräbnis ganz im Sinne seiner eurasianischen Ideologie zu einer Art Kronzeugin für „unseren russischen Sieg, unsere Wahrheit, unsere Orthodoxie, unser Land und unser Reich“ gemacht.

Die Hintergründe des Bombenattentats auf Darya Dugina bleiben bis dato im Dunkeln. Vor allem vier Lesarten des Attentats werden sowohl in den Meiden als auch im sozialwissenschaftlichen Kontext diskutiert: 

1. Ein ukrainischer Anschlag: Diese Interpretation wird naheliegenderweise von der russischen Führung vertreten und propagandistisch ausgeschlachtet, um die ukrainische Regierung als terroristisches Regime zu brandmarken und so das eigene militärische Vorgehen gegen das Nachbarland weiter zu legitimieren. Laut dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB steckt der ukrainische Geheimdienst hinter dem Attentat; die Instrumentalisierung des Vorfalls durch den Kreml zeigt sich darin, dass Präsident Putin Dugina posthum als russische Heldin ausgezeichnet hat. 

Sollte diese Erklärung zutreffen, und auf den ersten Blick erscheint es plausibel, dass die Ukraine versucht, eine (oder einen) der fanatischsten Vertreter/-innen eines Großrussland und Kriegshetzer/-innen zu eliminieren, müsste sich die russische Führung zwar Sorgen um die Reichweite und Effektivität des ukrainischen Geheimdienstes machen, würde aber ein Propagandageschenk nutzen können, um gegenüber der eigenen Bevölkerung die Notwendigkeit einer „Entnazifizierung“ der Ukraine zu unterstreichen. Daher stellt sich die Frage, warum die ukrainische Führung ein solches Risiko der eigenen Delegitimierung eingehen sollte, zumal es bei entsprechenden Fähigkeiten des eigenen Geheimdienstes sicherlich lohnendere, weil militärische oder für den Kriegsverlauf wichtigere Zielpersonen gegeben hätte, etwa Mitglieder der Regierung oder des Generalstabes oder sogar Putin selbst.   

2. Ein russischer "inside job": Die Zweifel an der erstgenannten Erklärung, welche von ukrainischer Seite prompt dementiert wurde, und die Frage „cui bono“ führen zu der Interpretation des Attentats als „false flag operation“ des russischen Geheimdienstes selbst. Die Tatsache, dass es niemanden aus dem russischen Führungszirkel getroffen hat, aber gleichwohl jemanden, der sich in extremis für eine gewaltsame Ausweitung des russischen Machtbereichs einsetzte, könnte dem Kreml in zweierlei Weise in die Hände spielen: Zum einen würde der Anschlag eine Warnung an rechtsextreme Kreise in Russland sein, die das bisherige Vorgehen gegen die Ukraine (und den Westen) als zu schwach ansehen und einen „echten“ Krieg fordern, den Putin aber wegen seiner Unpopularität (und möglicherweise wegen der militärischen Defizite Russlands) nicht wagen will. Zum anderen könnte er angesichts der Personalprobleme der russischen Streitkräfte einen Versuch darstellen, im Sinne der oben genannten Propaganda die Kriegsbegeisterung in der russischen Bevölkerung neu anzufachen. Ein Indiz hierfür wäre, dass nur fünf Tage nach dem Attentat ein präsidentielles Dekret die Aufstockung der russischen Armee um 137.000 Mann angeordnet hat, von denen zumindest ein Teil freiwillige (und damit auch formal in der Ukraine einsetzbare) Zeitsoldaten sein sollen. In diesem Sinne wäre das Attentat auf Dugina eine Art zynische Rekrutenwerbung.

Obwohl es naturgemäß keine klaren Hinweise dafür gibt, dass hier ein ukrainischer Anschlag von der russischen Seite nur fingiert wurde und diesbezügliche Verdächtigungen schnell in das Feld der Verschwörungstheorien abgleiten, ist darauf hinzuweisen, dass solche Operationen historisch keineswegs ungewöhnlich sind, um die Kriegsbereitschaft der eigenen Bevölkerung zu stärken; man denke nur an den angeblichen Überfall auf den Sender Gleiwitz 1939 oder den Mukden-Zwischenfall 1931, in denen die deutsche und die japanische Führung durch selbstinszenierte gewaltsame Übergriffe von polnischer bzw. chinesischer Seite Kriegsgründe schaffen wollten. Außerdem erscheint eine solche Skrupellosigkeit im vorliegenden Fall angesichts der Geheimdienstherkunft Putins und seiner Entourage aus Silowiki sowie vergangener Anschläge auf Oppositionelle (Anna Politkowskaja und Alexander Litwinenko 2006, Stanislaw Markelow, Anastassija Baburowa und Sergej Magnitski 2009, Boris Beresowski 2013, Boris Nemzow 2015, Sergej und Julija Skripal 2018, Alexej Nawalny 2020) keineswegs abwegig.       

3. Ein Anschlag der russischen Opposition: Laut einem Bekennervideo und Behauptungen des ehemaligen Duma-Abgeordneten Ilja Ponomarjow ist eine bislang unbekannte russischen Widerstandsgruppe namens „Nationale Republikanische Armee“ für die Autobombe gegen Darya Dugina verantwortlich. Sollte dies zutreffen, würde dies auf eine neue Qualität des innerrussischen Widerstands gegen den Krieg in der Ukraine hindeuten, welcher bislang nicht zuletzt deshalb wenig gefährlich für das Regime erschien, weil es die medialen Informationskanäle der Bevölkerung kontrolliert und die potenziell politisch aktiven Städte St. Petersburg und Moskau aufgrund der Rekrutierung und der Einsatzpraxis der Armee unterproportional von den Verlusten in der Ukraine betroffen sind. 

Fraglich bei dieser Hypothese ist wiederum, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Untergrundgruppe sich Darya Dugina oder Aleksandr Dugin als Opfer aussucht, um die Bevölkerung zum Widerstand gegen den Krieg und die Regierung aufzustacheln, wenn alternative und prominentere Ziele denkbar wären. Zudem kann man auch Zweifel an der Glaubwürdigkeit eines exilierten und mittlerweile in der Ukraine ansässigen Ex-Parlamentariers haben, der wohl allen Grund haben müsste, die Opposition in Russland hochzujubeln.   

4. Eine anderweitige Vendetta: Dies ist die aus politischer und politikwissenschaftlicher Sicht am wenigsten spannende, profane Begründung des Anschlags. Persönliche Rache, Eifersucht oder kriminelle Motive können bei medial und ideologisch exponierten Akteuren wohl kaum ausgeschlossen werden. Auch hierfür gibt es bislang aber keine Belege.

Es ist offensichtlich, dass sich die Begründungsfiguren für den Mord an Darya Dugina bis jetzt in Spekulationen verlieren, und ob in absehbarer Zeit glaubwürdig Licht auf die Hintergründe geworfen werden kann, ist angesichts der innen- und außenpolitischen Lage Russlands sehr fraglich. Der Fall Dugina verdeutlicht aber in jedem Fall zweierlei: die rücksichtslose Nutzung auch eines Verbrechens für propagandistische Zwecke im Krieg und die Undurchsichtigkeit eines russischen Regimes, dem man durchaus zutraut, auch seine eigenen Bürger umzubringen. 

   

Literatur/Links:

Clover, Charles (2016): The Unlikely Origins of Russia’s Manifest Destiny. Foreign Policy, 27. Juli 2016, https://foreignpolicy.com/2016/07/27/geopolitics-russia-mackinder-eurasia-heartland-dugin-ukraine-eurasianism-manifest-destiny-putin/ .

Gessen, Maha (2022): The Mysterious Murder of Darya Dugina. The New Yorker, 26. August 2022, https://www.newyorker.com/news/our-columnists/the-mysterious-murder-of-darya-dugina .

Ingram, Alan (2001): Alexander Dugin: Geopolitics and neo-fascism in post-Soviet Russia. Political Geography 20: 1029-1051.

Shekhovtsov, Anton (2009): Aleksandr Dugin’s Neo-Eurasianism: The New Right à la Russe. Religion Compass 3 (4): 697-716, https://www.researchgate.net/publication/229471838_Aleksandr_Dugin%27s_Neo-Eurasianism_The_New_Right_a_la_Russe1 .

Skladanowski, Marcin (2019): Russia’s Mission in Aleksandr G. Dugin’s Eyes: The Ideological Weaknesses of the Soviet Union and the Future Ideology of the Russian Federation. Trames 23 (3): 309-322, https://kirj.ee/public/trames_pdf/2019/issue_3/Trames-3-2019-309-322.pdf .