Südkorea zwischen allen Stühlen

Auffällig in der jüngsten Taiwan-Krise ist nicht zuletzt das ausgesprochen zurückhaltende Verhalten der südkoreanischen Regierung gegenüber den militärischen Drohgebährden der Volksrepublik China gegenüber Taiwan. Im Unterschied zu den beiden anderen zentralen Demokratien Ostasien, selbstredend Taiwan selbst und Japan, welches das chinesische Vorgehen etwa im Rahmen der G7, entsprechende Äußerungen Premierminister Kishidas und durch einen diplomatischen Protest in Beijing klar verurteilt hat, hält sich die Republik Korea in der Angelegenheit deutlich bedeckt. So wurde Nancy Pelosi, die Sprecherin und Mehrheitsführerin im US-Repräsentantenhaus auf ihrer Asienreise nach Singapur, Malaysia, Taiwan, Südkorea und Japan, welche als Auslöser der gegenwärtigen Spannungen diente, nur in Südkorea nicht von der Staats- und Regierungsspitze empfangen, sondern nur von ihrem Gegenpart in südkoreanischen Parlament. Der seit März amtierende südkoreanische Präsident Yoon Suk-yeol konnte offiziell wegen seines Urlaubs lediglich mit ihr telefonieren, was in Südkorea auch durchaus kritisch kommentiert wurde, und Premierminister Han Duck-soo und Außenminister Park Jin waren wegen Auslandsreisen ebenfalls nicht verfügbar. Letzterer bestreitet im Übrigen diese Woche seinen Antrittsbesuch in China.

Die Gründe für das vorsichtige Agieren Südkoreas (ROK) in der Taiwanfrage sind relativ klar:

Erstens liegt der Fokus der südkoreanischen Außen- und Sicherheitspolitik aus historischen, geographischen und militärstrategischen Gründen auf dem Verhältnis zu Nordkorea. Zwischen beiden koreanischen Staaten besteht seit dem Ende des Korea-Krieges 1953 lediglich ein Waffenstillstand und ein ideologischer Grundkonflikt, in dem die Führung der totalitären Demokratischen Volksrepublik Korea (DVRK) immer wieder mit militärischer Gewalt droht, sei es, um das politische System nach innen und außen zu stabilisieren, sei es, um angesichts seiner maroden Wirtschaft ökonomische Zugeständnisse und Hilfeleistungen vom Rest der Welt zu erpressen. Die koreanische Halbinsel ist einer der am stärksten militarisierten Räume der Welt. Laut Military Balance 2021 verfügt allein Nordkorea bei einer Bevölkerung von knapp 26 Millionen über geschätzt fast 1,3 Mio. Soldaten (zuzüglich etwa 600.000 Reservisten und 190.000 Mann an aktiven paramilitärischen Sicherheitskräften) mit mehr als 3.500 (zumeist veraltete) Kampfpanzern, 2.500 Schützenpanzern, 21.600 Artilleriegeschützen und 545 (ebenfalls meist deutlich veralteten) Kampfflugzeugen. Demgegenüber umfassen die Streitkräfte Südkoreas (ca. 53 Mio. Einwohner) fast 600.000 Soldaten (plus 3,1 Mio. Reservisten), rund 2.200 meist moderne Kampfpanzer, fast 2.500 Schützenpanzer, über 12.200 Artilleriesysteme und knapp 580 Kampfflugzeuge. Außerdem sind in Südkorea rund 29.000 US-Soldaten stationiert. 

Obwohl man davon ausgehen kann, dass die nordkoreanischen Truppen in einem großen konventionellen Krieg gegen den Süden wohl nicht bestehen könnten, wäre ein bewaffneter Konflikt aufgrund der Zahl der involvierten Streitkräfte und der Geographie des Landes mit horrenden militärischen und Zivilen Opfern und wirtschaftlichen Kosten verbunden. So liegt Seoul lediglich rund 50 Kilometer von der nordkoreanischen Grenze entfernt und die Metropolregion damit in Reichweite Tausender nordkoreanischer Geschütze und Raketenwerfer. Selbst wenn es den südkoreanischen und US-amerikanischen Verbänden im Ernstfall gelingen sollte, aufgrund ihrer technischen Überlegenheit die Masse dieser Artillerie schnell auszuschalten, wäre in jedem Fall damit zu rechnen, dass Zehn- oder Hunderttausende von Granaten und Raketen dort einschlagen könnten. Die Gefahr einer nuklearen Eskalation durch Nordkorea ist dabei noch gar nicht berücksichtigt. 

In jedem Fall ist die absolute Priorität der südkoreanischen Führung vor diesem Hintergrund verständlicherweise seit jeher die Vermeidung eines neuen Krieges mit dem Norden. Inwieweit der Auftrag einer friedlichen und demokratischen Wiedervereinigung der beiden koreanischen Staaten, welcher in der Präambel der südkoreanischen Verfassung (ähnlich wie im Grundgesetz vor 1990) niedergelegt ist, angesichts der Diktatur in Nordkorea und der potenziell immensen Kosten – ausgehend vom deutschen Beispiel gibt es etwas Schätzungen von bis zu 2,8 Billionen US-Dollar bei einer Vereinigung im Jahr 2030 (bei einem gegenwärtigen BIP der ROK von 1,6 Billionen USD) – in der Praxis tatsächlich eine wichtige Rolle spielt, ist schwer zu beurteilen. 

Zweitens bemüht sich die ROK darum, die Beziehungen zur VR China nicht zu stark zu belasten. Denn die chinesische Führung wird als zentraler Akteur angesehen, der angesichts der internationalen Isolation Nordkoreas noch politischen Einfluss auf Pjöngjan hat. Schließlich ist China der größte und mit 90% Anteil fast einzige Handelspartner der DVRK und ihr bedeutendster Lieferant von Strom und Nahrungsmitteln. Es erscheint zwar fraglich, dass dieser Einfluss das nordkoreanische Regime tatsächlich zu einem bestimmten Verhalten zwingen kann – so hat letzteres trotz chinesischer Ablehnung etwa sein Nuklearprogramm seit dem ersten Atomtest 2006 immer weiter vorangetrieben, und aus chinesischer Sicht würde ein Kollaps des bestehenden politischen Systems der DVRK wohl zu massiven Flüchtlingsbewegungen nach China, einer von Südkorea dominierten Wiedervereinigung unter demokratischen Vorzeichen sowie damit einer Stationierung von US-Truppen direkt an der Grenze zur Volksrepublik führen. Vor diesem Hintergrund bemüht sich die chinesische Führung seit 2018 um eine Verbesserung der Beziehungen zu Nordkorea, indem auf der einen Seite auf die wirtschaftlichen Abhängigkeiten der DVRK (Sanktionen der Vereinten Nationen) hingewiesen und auf der anderen Seite die Kooperation vorangetrieben und das Regime diplomatisch hofiert wird. Ziel ist es vor dem Hintergrund des Konkurrenzkampfes mit den USA dabei vor allem, den Einfluss Beijings auf der koreanischen Halbinsel aufrechtzuerhalten und den Status quo zu sichern, wozu neben der Bewahrung des nordkoreanischen Regimes auch gute Beziehungen zu Südkorea gehören. 

Dies wiederum führt dazu, dass sich auch die südkoreanische Führung trotz eines zunehmend negativen Images Chinas in der südkoreanischen Öffentlichkeit darum bemüht, ein möglichst gutes Verhältnis zur VR China aufrechtzuerhalten und diese möglichst nicht zu reizen. Denn dass China stets bereit ist, „unbotmäßiges Verhalten“ von Seiten Südkoreas zu bestrafen, wurde etwa 2016/17 nach der Ankündigung, US-amerikanische THAAD-Raketenabwehrsysteme gegen die nordkoreanische Bedrohung zu beschaffen, deutlich. Im Gegenzug kam es zu einem chinesischen „Bürgerboykott“ gegen südkoreanische Automarken, deren Absatzzahlen in der Volksrepublik massiv einbrachen. Die Sanktionen konnten erst dadurch überwunden werden, dass die ROK erklärte, sich nicht in das US-Raketenabwehrsystem integrieren und keinen Verteidigungspakt mit Japan eingehen zu wollen. Ein anderes Beispiel ist der Internet-Shitstorm mitsamt Boykottaufrufen nach Kommentaren der K-Pop-Gruppe BTS anlässlich des 70. Jahrestags des Ausbruchs des Korea-Krieges 2020, in denen die gemeinsamen Opfer der ROK und der USA gewürdigt wurden, was von chinesischer Seite als einseitig und gegen die Volksrepublik gerichtet interptetiert wurde. Ganz abgesehen davon sollte nicht vergessen werden, dass China mittlerweile der mit Abstand größte Außenhandelspartner der ROK ist, mit dem rund ein Viertel aller Exporte und Importe abgewickelt werden, fast doppelt so viel wie mit den USA auf Platz 2.  

Drittens impliziert diese vorsichtige Haltung gegenüber der Volksrepublik China quasi automatisch, dass die südkoreanische Politik gegenüber Taiwan mehr oder weniger reserviert bleibt. Dies wurde insbesondere in den 1990er und 2000er Jahren deutlich, als die ROK die sogenannte „Sonnenschein“-Politik verfolgte, welche auf Entspannung und Kooperation mit Nordkorea setzte – und damit gleichzeitig auf eine Annäherung an Beijing. Dies führte etwa dazu, dass Südkorea und China 1992 volle diplomatische Beziehungen aufnahmen, was von Taipei u.a. mit einem teilweisen Handelsembargo beantwortet wurde. Zugleich hat sich das südkoreanisch-taiwanesische Verhältnis in den letzten Jahren auf informellem Weg wieder deutlich verbessert, insbesondere durch die rasante Zunahme des wirtschaftlichen Austausches sowie durch die um sich greifende „koreanische Welle“ (hallyu) südkoreanischer Popkultur, etwa K-Pop und K-Dramen, welche der ROK einen deutlichen Zuwachs an soft power und gesellschaftlicher Attraktivität verleiht. Auch die Vereinigten Staaten bemühen sich verstärkt um eine Einbindung Südkoreas in eine letztlich antichinesische regionale Sicherheitsarchitektur, was im Februar 2022 dazu führte, dass auf einem südkoreanisch-US-amerikanischen Gipfeltreffen eine gemeinsame Erklärung verabschiedet wurde, in der zum ersten Mal explizit die Bedeutung der Friedens- und Stabilitätswahrung in der Taiwanstraße unterstrichen wurde. 

Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass Südkorea seinen außenpolitischen Pfad der Vorsicht gegenüber der Volksrepublik verlässt und sich etwa deutlich kritisch zum chinesisch-taiwanesischen Verhältnis äußert.  Im Gegenteil, letzteres wird wohl umso unwahrscheinlicher, als die chinesische Führung aufgrund zunehmender demographischer und wirtschaftlicher Herausforderungen und damit Legitimationsprobleme der KPCh mehr und mehr auf die nationalistische Karte und außenpolitisches Säbelrasseln setzt, wie aktuell unter anderem in Form von Militärübungen im Gelben Meer, d.h. vor der Westküste Südkoreas. 

Viertens ist auch das Verhältnis der ROK zu Japan als eigentlich geostrategisch und politisch-ideologisch (als Demokratie) natürlichem Partner Südkoreas alles andere als gut. Angesichts der historischen Erfahrungen – Korea war zwischen 1905 und 1945 zunächst japanisches Protektorat und (ab 1910) Teil des japanischen Kaiserreichs, der wie eine Kolonie ausgebeutet wurde, und im Zweiten Weltkrieg Schauplatz weitreichender Kriegsverbrechen – und deren bis heute unzureichenden Aufarbeitung durch die japanische Gesellschaft und Politik gibt es eine Reihe grundlegender Friktionen, welche einer vertieften und unvoreingenommenen sicherheitspolitischen Zusammenarbeit entgegenstehen. Dazu gehören ungeklärte Entschädigungsfragen für südkoreanische Zwangsprostituierte („Trostfrauen“) und Zwangsarbeiter während des Krieges sowie der andaiernde Territorialdisput um die (von Südkorea besetzten) Liancourt-Felsen (koreanisch: Dokdo, japansch: Takeshima) im Japanischen Meer. Seit Ende der 1990er Jahre zeigen sich die historischen Empfindlichkeiten Südkoreas auch etwa in der von Japan vehement abgelehnten Forderung, das Japanische Meer selbst nurmehr als „Ostmeer“ zu bezeichnen.  

Entsprechend gibt es gerade von südkoreanischer Seite durchaus Vorbehalte gegenüber US-Bemühungen um eine intensivere trilaterale Kooperation mit Japan im Rahmen der „Free and Open Indo-Pacific“-Strategie. Zumindest gibt es aber jüngst wieder Bemühungen um eine Verhandlungslösung in der Frage der Zwangsarbeiterentschädigung, und die südkoreanische Führung hat auch ein vorsichtiges Interesse an einer Annäherung an die Quad, d.h. die lose sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen den USA, Indien, Australien und den USA geäußert. Prioritär für Südkorea bleibt dabei aber zweifellos die nordkoreanische Gefahr.

Fünftens pflegt die ROK zwar eine vertiefte Kooperation mit den USA, mit denen seit 1953 ein Verteidigungspakt und seit 2012 ein Freihandelsabkommen besteht. Diese engen Beziehungen einschließlich der Stationierung starker US-Truppenverbände in Südkorea werden schon allein aus Gründen der militärischen Abschreckung Nordkoreas als notwendig angesehen. Zugleich gibt es eine gewisse Skepsis gegenüber der zunehmenden Betonung der regionalen, d.h. über Korea hinausgehenden Rolle der US-Verbände in Südkorea, durch die USA. Denn diese impliziert eine offensichtlich antichinesische Konnotation, welche es aus der Sicht Seouls bislang ja möglichst zu vermeiden gilt. Neben den mehr oder weniger üblichen Friktionen mit der einheimischen Bevölkerung bei der Stationierung ausländischer Truppen ist die Verlegung der Basis der U.S. Army von Seoul ins weiter südlich an der Küste gelegene Yongsan auch ein Zeichen für die Erweiterung der operativ-strategischen Perspektive der US-Streitkräfte in Südkorea über die Bewachung der Grenze zu Nordkorea hinaus.

Es bleibt abzuwarten, ob das zunehmend aggressive Auftreten Chinas gegenüber Taiwan und darüber hinaus im indo-pazifischen Raum zu einem grundlegenden Kurswechsel der südkoreanischen Regierung unter ihrem neuen Präsidenten in Richtung einer verstärkten Integration in außen- und sicherheitspolitische Strukturen zur Ausbalancierung chinesischer Ambitionen führen wird. Das Problem Nordkorea und die bisherigen Erfahrungen sprechen aber vorerst eher gegen eine eindeutige Positionierung der ROK in einem Kalten Krieg 2.0. In diesem Sinne sitzt Südkorea in seiner delikaten diplomatischen und strategischen Situation (noch) zwischen allen Stühlen. 

   

Literatur/Links:

Hilpert, Hanns Günther/Sakaki, Alexandra/Wacker, Gudrun (Hg.) (2022): Vom Umgang mit Taiwan. SWP-Studie 4, Berlin: SWP, https://www.swp-berlin.org/publications/products/studien/2022S04_Taiwan.pdf .

International Institute for Strategic Studies (2021): The Military Balance 2021. London: Routledge.

Manyin, Mark E. u.a. (2022): U.S.-South Korea Relations. Washington D.C.: CRS, https://sgp.fas.org/crs/row/R41481.pdf .

Sook Jong Lee (2022): Rebuilding the US-South Korea-Japan Trilateral Relations in the Indo-Pacific Region. Wilson Center 23. Mai 2022, https://www.wilsoncenter.org/article/rebuilding-us-south-korea-japan-trilateral-relations-indo-pacific-region .

Sung Deuk Hahm/Sooho Song (2021): The Impact of the Korean Wave on South Korea–Taiwan Relations. The Importance of Soft Power. Asian Survey 61 (2): 217-240, https://www.researchgate.net/publication/350880394_The_Impact_of_the_Korean_Wave_on_South_Korea-Taiwan_Relations/link/607e2788881fa114b414bd7f/download

Zhang, Weiqi (2018): Neither friend nor big brother: China’s role in North Korean foreign policy strategy. Palgrave Communications 4 (16), https://www.researchgate.net/publication/323151454_Neither_friend_nor_big_brother_China's_role_in_North_Korean_foreign_policy_strategy/link/5a831d0a45851504fb37dad7/download .