Wackelt die österreichische Neutralität?

Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine und des nunmehr beantragten Beitritts Schwedens und Finnlands zur NATO hat sich auch in Österreich in den letzten Wochen eine Diskussion um die Zukunft der „immerwährenden Neutralität“ des Landes, deren Ausgestaltung oder gar Aufgabe entwickelt. Zwar ist diese Diskussion nichts per se Neues und besteht seit mindestens der Aufnahme Österreichs in die Europäische Union und deren GASP (1995) sowie insbesondere seit der NATO-Intervention im Kosovo 1999

Jüngster Beitrag zur aktuellen Diskussion ist ein offener Brief von rund 50 mehr oder weniger Prominenten aus Diplomatie, Wissenschaft, Militär und Wirtschaft an den österreichischen Bundespräsidenten vom 9. Mai 2022. Darin heißt es: „Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist nicht nur ein Verbrechen und eine Tragödie, sondern auch der letzte Warnruf an die freie Welt, der auch Österreich angehört. Wenn wir unser Lebensmodell einer unabhängigen, demokratischen und dem Rechtsstaat verpflichteten Gesellschaft beibehalten wollen, müssen wir uns dringlich einer ehrlichen Diskussion stellen, auf welche Weise und mit welchen Fähigkeiten wir uns verteidigen wollen. Unsere Neutralität - in der Praxis sehr flexibel interpretiert - wurde nie auf ihre aktuelle Zweckmäßigkeit überprüft, sondern zum vermeintlich unantastbaren Mythos erhoben. Als EU-Mitglied und Teilnehmer an der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU ist Österreich schon jetzt zur Solidarität verpflichtet. Angesichts der aktuellen Bedrohung muss es eine Debatte ohne Scheuklappen geben. Die Unterzeichner:innen dieses Aufrufs haben unterschiedliche Positionen zu Fragen wie Neutralität und Bündnisfreiheit, einer vertieften EU-Verteidigungspolitik oder einem Betritt Österreichs zur NATO. Uns eint die Überzeugung, dass der Status quo unserer Sicherheitspolitik nicht nur unhaltbar, sondern gefährlich für unser Land ist. Unsere Nachbarschaft ist in den letzten Jahren unsicherer geworden und unsere Gesellschaft zunehmend bedroht: Konflikte in der östlichen und südlichen Nachbarschaft, islamistischer Terror, Einflussnahme auf demokratische Prozesse durch Russland und China, Erstarken gewaltbereiter rechtsradikaler Gruppierungen, Cyberangriffe. Trotz eindringlicher Warnrufe von Experten kam es in der Folge nicht nur zu keiner Stärkung des Bundesheeres und unserer Nachrichtendienste, sondern sogar zu deren Schwächung. Wir sind nun unvorbereitet, und das in der schwersten sicherheitspolitischen Krise Europas seit 1945. Wir müssen die sicherheitspolitischen Lehren daraus ziehen, dass sich Österreich energiepolitisch von Russland abhängig gemacht und sich an Putin angebiedert hat – trotz seiner autoritären und menschenrechtsverletzenden Führung, trotz Auftragsmorde in EU-Mitgliedstaaten, trotz kriegerischer Aggressionen. Wir schlagen daher eine breit angelegte Debatte über die Zukunft der österreichischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vor, geleitet durch eine vom Bundespräsidenten eingesetzte unabhängige Expertengruppe.“

Während dieser Brief in den österreichischen Medien diskutiert wird, hat die Bundesregierung wiederholt klar gemacht, dass an der Neutralität nicht zu rütteln sei, was Österreich jedoch nicht davon abhält, sich am Sanktionsregime der EU gegen Russland zu beteiligen oder neben humanitären Gütern auch nichtlethale Ausrüstung wie Helme und Schutzwesten an die Ukraine zu liefern. Dabei ist gar nicht völlig klar, was die verschiedenen Beteiligten an dem Diskurs überhaupt konkret unter Neutralität verstehen

Betrachtet man die rechtliche Lage, so ist die österreichische Neutralität in der Verfassung verankert. Artikel 1 des diesbezüglichen Neutralitätsgesetzes („Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität Österreichs“) vom 26. Oktober 1955 lautet: „(1) Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen. (2) Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.“

Die Konsequenzen dieser Neutralitätserklärung wurden in den erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage vom 19. Juli 1955 folgendermaßen formuliert: „Der dauernd neutrale Staat ist verpflichtet, die Unversehrtheit seines Staatsgebietes gegen Angriffe von außen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen; die dauernde Neutralität ist somit meist auch eine bewaffnete Neutralität. Der dauernd neutrale Staat ist verpflichtet, keine Bindungen einzugehen, die ihn in einen Krieg verwickeln könnten. Er darf daher keinen militärischen Bündnissen beitreten und. die Errichtung. militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiet nicht zulassen. Bei allen Kriegen zwischen anderen Staaten hat der dauernd neutrale Staat – so wie die anderen nur in dem betreffenden Krieg neutralen Staaten – die Normen des völkerrechtlichen Neutralitätsrechtes zu beobachten. Damit ist der Inhalt der dauernden, bewaffneten Neutralität dargelegt. Ein dauernd neutraler Staat bleibt in seinen sonstigen völkerrechtlichen Grundrechten vollkommen unbeschränkt. Auch die Schweiz hat ihre Neutralität in diesem Sinne gehandhabt. Der dauernd neutrale Staat ist in der Gestaltung seiner Außen- und Innenpolitik keinen weiteren als den oben genannten Beschränkungen unterworfen. Die dauernde Neutralität ist mit der Zugehörigkeit zu internationalen Staatenorganisationen durchaus vereinbar sofern diese nicht einen militärischen haben.“ 

In der gegenwärtigen Diskussion sind vor allem drei Punkte von Bedeutung: Erstens wird von den Befürwortern einer Neugestaltung des sicherheitspolitischen Kurses Österreichs bezweifelt, dass die Alpenrepublik das Kriterium der bewaffneten Neutralität tatsächlich erfüllt. So wird im Vergleich zur Schweiz, an deren Neutralitätspraxis sich Österreich orientiert, wesentlich weniger in das Bundesheer investiert. Bei ungefähr gleicher Bevölkerung (Österreich: knapp 9 Mio., Schweiz: 8,5 Mio.) gab Österreich 2021 gut 3 Mrd. Euro für seine Verteidigung aus (CH: 5,5 Mrd.). Die österreichischen Streitkräfte umfassen bei weiterbestehender Wehrpflicht zwar rund 22.000 Mann (CH: 20.000) mit etwa 125.000 Reservisten (CH: 123.000), sind jedoch deutlich schlechter ausgestattet. So verfügt das österreichische Heer laut Military Balance 2021 über gerade einmal 56 Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 (CH: 134), 256 Schützen- und Mannschaftstransportpanzer (CH: 1.421), 105 Geschütze (CH: 433) und 15 Kampfflugzeuge vom Typ Eurofighter (CH: 56 Tiger II und F/A-18C). Obwohl diese Zahlen im Vergleich zur Bundeswehr gar nicht so schlecht aussehen, wird häufig argumentiert, dass das österreichische Bundesheer gar nicht in der Lage ist, Österreich und die österreichische Neutralität tatsächlich zu verteidigen.

Dies führt zweitens zum Vorwurf, dass die österreichische Sicherheitspolitik tatsächlich nichts anderes sei als Trittbrettfahrerei. Das Land ist neben der wehrhaften neutralen Schweiz ausschließlich von EU- und NATO-Mitgliedsstaaten umgeben und profitiert damit indirekt vom Schutz beider. Selbst im Hinblick auf die Beistandsklausel des Art. 42 (7) des EU-Vertrages kann sich Österreich auf dessen Ausnahmeregelung berufen wonach sie „den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt“ lässt. Faktisch bedeutet dies, dass sich Österreich im Fall eines Angriffs auf einen anderen EU-Mitgliedsstaat auf seine Neutralität berufen könnte, um nichts zu tun, zugleich aber rein rechtlich Anspruch auf „alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“ durch die anderen EU-Staaten einfordern könnte, wenn es selbst attackiert würde, seine Neutralität also hinfällig würde. Dass dies zumindest innerhalb der EU politisch schwer zu vermitteln wäre, liegt auf der Hand, entspricht aber bislang der verteidigungspolitischen Praxis Österreichs, auch wenn es sich seit langem an UN-Friedensmissionen (seit 1960), dem Partnership for Peace-Programm der NATO (seit 1995), dem Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat (seit 1997), den EU-Battle Groups (seit 2007) oder an der PESCO der EU (seit 2017) beteiligt. 

Drittens stellt sich die Frage, ob Österreich seinen Neutralitätsstatus eigenständig ändern könnte. Für die entsprechende Änderung oder Aufhebung des Verfassungsgesetzes wäre eine Zwei-Drittel-Mehrheit im österreichischen Nationalrat (Abgeordnetenhaus des Zweikammernparlaments) notwendig; formal entscheidend ist jedoch die Frage, ob es eine völkerrechtlich bindende Verpflichtung zur Neutralität gibt. Obwohl dieser Aspekt noch immer diskutiert wird, ist klar, dass das Moskauer Memorandum vom 15. April 1955, in dem die österreichische Verhandlungsdelegation der sowjetischen Führung zusagte, die Neutralität nach dem Vorbild der Schweiz in der Verfassung zu verankern, keinen völkerrechtlichen Vertrag darstellt, sondern lediglich eine politische Erklärung. Im Staatsvertrag („Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich“) zwischen Österreich und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges vom 15. Mai 1955 findet sich die Neutralitätsverpflichtung nicht. Folgt man der klassischen Argumentation Alfred Verdross’, so war das Neutralitätsversprechen als Erklärung ein einseitiges völkerrechtliches Rechtsgeschäft, das durch seine stillschweigende Akzeptanz und Kenntnisnahme durch die Siegermächte zumindest eine gewisse rechtliche Verpflichtung nach dem Grundsatz von Treu und Glauben begründete. 

Zugleich geht diese Verpflichtung aber wohl nicht so weit, dass irgendeinem anderen Staat ein Veto-Recht gegen eine Aufgabe der Neutralität zustände. Selbst die Schweiz, deren dauernde Neutralität durch den Frieden von Münster und Osnabrück (1648) und den Wiener Kongress (1815) festgeschrieben, d.h. von den europäischen Mächten anerkannt wurde, nimmt diesbezüglich für sich grundsätzlich Handlungsfreiheit in Anspruch. Folgt man etwa dem „Bericht zur Neutralität 1993“ des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (S. 5), so ist die Schweiz völkerrechtlich „durchaus berechtigt, ihre Neutralität einseitig aufzugeben. Die Eidgenossenschaft hat historisch gesehen den völkerrechtlichen Status der dauernden Neutralität selbst gewählt. Sie hat bei vielfachen Gelegenheiten ihren Willen zur Neutralität bekundet, hat aber nie eine völkerrechtliche Verpflichtung zur dauernden Neutralität übernommen oder anerkannt. Daher besteht für die Schweiz keine Pflicht, diesen Status für alle Zukunft aufrechtzuerhalten.“ 

Vor diesem Hintergrund kann wohl mit Fug und Recht gesagt werden, dass die Neutralität Österreichs durchaus aufgegeben werden könnte und das Land nach dem Vorbild Schwedens und Finnlands ebenfalls der NATO beitreten oder auf einen Sonderstatus im Kontext der GSVP der EU verzichten könnte. Voraussetzung für eine entsprechende Verfassungsänderung wäre allerdings der politische Wille und eine Mehrheit in der Bevölkerung. Davon scheint Österreich jedoch augenblicklich im Unterschied zu den beiden nordischen Staaten weit entfernt: Tatsächlich gehört die Neutralität zum Gründungsmythos der Zweiten Republik und ist ein wesentlicher Bestandteil der österreichischen Identität seit 1955. Bislang zumindest hat sich der größte Teil der Österreicherinnen und Österreicher sehr gut mit der (vermeintlichen?) Sicherheit durch die Neutralität und der damit verbundenen Trittbrettfahrerei in NATO und EU arrangiert und möchte sie nicht missen. Dass dies in Europa teilweise recht kritisch gesehen wird, könnte bei da auf "Herrn und Frau Österreicher" eher noch bestärkend wirken.

  

Literatur/Links:

Luif, Paul (2000):
Zehn Thesen zur österreichischen Neutralität. Gravierende Fehldeutungen der EU-Entwicklung. Neue Zürcher Zeitung (internationale Ausgabe), Nr. 199, 28.8.2000: 5. https://www.edugroup.at/fileadmin/DAM/eduhi/data_dl/Originaltext_Neutraliteat_Paul_Luif.pdf .

Verdross, Alfred (1958): Die österreichische Neutralität. Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 19: 512-530. https://www.zaoerv.de/19_1958/19_1958_1_3_a_512_530.pdf .