Warten auf die große Offensive

Je länger die erwartete ukrainische Gegenoffensive gegen die russischen Aggressoren auf sich warten lässt, desto drängender wird die Frage nach ihren tatsächlichen Erfolgsaussichten. Während grundsätzlich klar scheint, dass die geplanten ukrainischen Angriffe zum strategischen Ziel haben müssen, die Landverbindung zwischen Russland und der besetzten Krim zu unterbrechen und so die russischen Streitkräfte in der Südukraine und auf der Halbinsel vom Nachschub abzuschneiden – die Brücke von Kertsch reicht als dann einzig verbleibender Versorgungsweg zweifellos nicht aus – und zum Rückzug oder zur Aufgabe zu zwingen, erscheint der taktische und operative Weg dorthin ausgesprochen schwierig. Einige Analysten weisen darauf hin, dass die ukrainischen Truppen gar nicht bis auf die Krim selbst vorstoßen müssen, sondern es reicht, in Artilleriereichweite gegen wichtige Infrastruktur (Eisenbahnlinien, Straßen, Flughäfen etc.) zu kommen, um diese gravierend zu stören. Andere unterstreichen, dass die innenpolitischen Folgen weiterer Niederlagen oder hoher Verluste das Kalkül der russischen Führung grundsätzlich verändern könnte oder sie zu einer innenpolitisch risikoreichen Mobilisierung und damit potenziell gefährlichen Politisierung der bislang weitgehend apolitischen russischen Öffentlichkeit zwingen würden. 

Gleichzeitig stellt sich jedoch das Problem, dass die russische Seite im Unterschied zum Vorjahr wohl kaum fundamental überrascht werden kann und sich nach Kräften auf die ukrainische Offensive vorbereitet hat, auch wenn die eigenen Angriffe in der Ostukraine unverhältnismäßig hohe Verluste an frisch Mobilisierten und Material gekostet haben. Etwas skeptischere Stimmen betonen, dass die Russen in der Südukraine mittlerweile über vorbereitete Abwehrstellungen inklusive ausgedehnter Minenfelder und Panzerhindernisse verfügen. Zudem besitzt die russische Seite, nicht zuletzt wegen des wachsenden Munitionsmangels der Ukrainer und insgesamt trotz allem überschaubarer Waffenlieferungen durch den Westen, noch immer eine deutliche artilleristische Überlegenheit, auch wenn die Verwendung alter T-55-Panzer als mobile Artillerie auch hier auf deutliche Probleme hinweist. Die in den westlichen Medien wiederholt berichteten Schwierigkeiten der Ukrainer bei der Munitionierung ihrer Luftabwehr ist ein zusätzliches Indiz dafür, dass eine große Offensive schwierig werden wird, da vorstoßende Verbände gegen Angriffe der russischen Luftwaffe und Drohnenaufklärung für die russische Artillerie geschützt werden müssen. Gerade die zahlenmäßig noch immer weit überlegene russische Luftwaffe scheint in den letzten Wochen deutlich aktiver über der Front geworden sein, und auch ihr Einsatz von Gleitbomben aus größerer (und sicherer) Distanz deutet auf ihre wachsende Rolle hin. 

Welche Konsequenzen hat dies? Zum einen könnte es sein, dass die erwartete ukrainische Offensive eher eine Reihe kleinerer Stöße sein wird, mit dem Ziel, die russische Front an verschiedenen Stellen zu zerrütten und zurückzudrängen, ohne große eigene Truppenkonzentrationen zu einem optimalen Ziel für die russische Artillerie und Flugzeuge zu machen. Zum anderen dürften die Forderungen nach einer deutlich gesteigerten Materialunterstützung durch den Westen noch weiter zunehmen und damit der Druck vor allem auf die europäischen Regierungen. Wenn es den Ukrainern nicht wider Erwarten doch gelingt, die russische Seite nochmals in die Irre zu führen und zu überrumpeln – möglicherweise sind die Berichte über die Bildung eines Brückenkopfes östlich des Dnipro bei Cherson dafür ein Indiz -, droht eine weitere Verlängerung des Krieges. Das könnte gegen alle Hoffnungen auch bei einem größeren ukrainischen Erfolg der Fall sein, denn eine unmittelbare Bedrohung der Krim als aus russischer Perspektive seit 2014 (und historisch) genuines Staatsgebiet der Russischen Föderation könnte Putin das innenpolitisch schlagende Propaganda-Argument für eine bislang verzögerte weitere Mobilisierungswelle geben.