Wohl und Wehe der Spieltheorie: Die Anschläge auf die Nordstream-Pipelines

Bislang sind die Verantwortlichen für die Anschläge auf die Ostsee-Gaspipelines Nordstream 1 und 2 Ende September nicht bekannt; entsprechend gibt in der Öffentlichkeit wie in der Wissenschaft Diskussionen über die Hintergründe und –männer der Sabotageaktionen. Die Liste der Verdächtigen reicht von der russischen Führung über die Ukraine, die USA, Polen und andere NATO-Staaten inklusive Deutschland bis hin zu russischen Hardlinern und Oppositionellen, Terroristen sowie außereuropäischen staatlichen und privatwirtschaftlichen Erdgaslieferanten. Je nach Beurteilung der Motive und der Erfolgserwartungen der Akteure (sowie der Voreingenommenheit des jeweiligen Betrachters) kommt fast jeder der Genannten in Betracht, im Zentrum der Debatte im Internet und in den sozialen Medien scheinen jedoch Russland und die Vereinigten Staaten zu stehen.

Ein Beispiel für die ökonomische spieltheoretische Analyse der Nordstream-Sabotage ist ein spannender Beitrag von Christian Rieck, der zum Ergebnis kommt, dass die Interessenlage der USA am ehesten auf einen rational begründbaren Anschlag auf die Pipelines verweist – wobei er sich ganz explizit nicht darauf festlegt, dass tatsächlich die US-amerikanische Regierung dahintersteckt. Abgesehen davon, dass ein Blick in die Kommentare zu dem diesbezüglichen Youtube-Video zeigt, wie leicht dieses Ergebnis von antiamerikanischen und/oder prorussischen, der extremen Rechten wie Linken Nahestehenden sowie Querdenkern und Verschwörungstheoretikern überinterpretiert und als Bestätigung für ihre jeweilige Weltanschauung genutzt wird, ist die Betrachtung exemplarisch für die Probleme der Anwendung der Spieltheorie auf politisch-strategische Zusammenhänge. 

So wird im vorliegenden Fall der größere politische und strategische Kontext (z.B. die militärische Situation in der Ukraine, die innenpolitische Lage in Russland und den NATO-Ländern oder die bündnispolitischen Gegebenheiten) weitgehend ausgeblendet und die wirtschaftlich-finanziellen Motive und handlungsspielraumbegrenzenden Konsequenzen der Anschläge in den Mittelpunkt gestellt. Dabei wird – für die Nachvollziehbarkeit der Analyse wohl unabdingbar – impliziert, dass die betreffenden Entscheidungsträger vor allem Maximierer (oder Optimierer) ihres ökonomischen Nutzens sind und dabei dem gängigen Kosten-Nutzen-Kalkül der Mikroökonomie folgen. Weitergehende politische und ideologische Motive, Verzerrungen im rationalen Kalkül oder die breitere Signalwirkung bzw. die Bedeutung der Ambiguität durch fehlende Zurechenbarkeit der Sabotage bleiben unberücksichtigt oder werden kaum wahrgenommen. Letztlich geht es immer um das Erdgas selbst und seine Ex- und Importmöglichkeiten. Zudem werden implizit recht starke Annahmen getroffen, etwa, dass die russische Führung Nordstream 1 und 2 angesichts der diplomatischen und militärischen Kriegslage nicht längst abgeschrieben oder die US-Administration die Gefahr einer Entdeckung und deren Folgen für die Beziehungen innerhalb der NATO für vernachlässigbar erachtet hat. Im Endeffekt gelangt man auf diese Weise zu formal einleuchtenden Ergebnissen, die der strategischen Komplexität der Entscheidungssituation nur bedingt gerecht werden. 

Ein interessanter Gegenentwurf oder zumindest ergänzender Ansatz aus militärtheoretischer und politikwissenschaftlicher Perspektive ist ein Beitrag von Anders Puck Nielsen. Er macht erstens auf den militärisch-operativen Aspekt der Sabotage aufmerksam, bei der die Aktion selbst nicht im Verborgenen stattfand (statt beispielsweise in Form einer Simulation genuin technischer Probleme), gleichzeitig aber offenbar Wert darauf gelegt wurde, den Urheber nicht zu verraten. Zweitens bezieht er sich auf die gemäß der Prospekttheorie nach den militärischen Rückschlägen der letzten Wochen als deutlich gestiegen zu erachtende Risiko- und Eskalationsbereitschaft des Kreml, der weitere Verluste im Krieg vermeiden bzw. die bereits erlittenen wettmachen möchte und dazu auch zu kostspieligen Drohungen (gegen die westeuropäische kritische Infrastruktur) und riskanten Versuchen einer Spaltung der NATO (etwa durch die Förderung von Desinformation bezüglich einer Involvierung der USA in einen Anschlag auf einen Bündnispartner) greift.

Laut Prospekttheorie hätten die USA keine Veranlassung, sich auf größere Risiken einzulassen und würden angesichts des gerade „gut“ laufenden Krieges in der Ukraine eher risikoavers sein – was übrigens nicht zuletzt zur ebenfalls zu findenden, ausgesprochen provokativen These passen würde, wonach die russische Führung mit dem Angriff auf die Ukraine in eine Falle der USA (unter tätiger Mithilfe der Bundesregierung getappt sein könnte, eine These, die im Übrigen begeistert von der chinesischen Propaganda aufgegriffen worden ist. Auf dieser Basis kommt Anders Nielsen zu dem Ergebnis, dass die Anschläge doch am wahrscheinlichsten auf Russland zurückzuführen sind.    

Alles in allem zeigen die gegenwärtigen entscheidungs- und insbesondere die spieltheoretischen Betrachtungen der Anschläge auf die Nordstream-Pipelines den Wert der verwendeten Methoden und Modelle für eine multiperspektivische Rationalisierung der Analyse der Konstellation, solange es keine klaren Open Source-Beweise für die tatsächlichen Täter gibt. Auf der anderen Seite werden auch die Grenzen der Spieltheorie deutlich, welche letztlich in ihrer Annahmelastigkeit und ihrem materiell dominierten Rationalitätsverständnis liegen. Dies ist zum einen augenscheinlich auf die zumindest in einfachen Anwendungen übliche Quantifizierung in den Auszahlungsmatrizen zurückzuführen, welche für ökonomische und finanzielle Zusammenhänge einfacher plausibel zu konstruieren scheinen als für immaterielle Faktoren. Zum anderen wird deutlich, dass die Entwicklung der spieltheoretischen Tools in den letzten Jahrzehnten von den Wirtschaftswissenschaften dominiert wurde, deren Standardansätze sich traditionell mit – gerade im Krieg – politisch bedeutsamen Entscheidungselementen wie Rationalitätsverzerrungen oder ideologischen Weltwahrnehmungen schwertun.