"Zeitenwende" auf japanische Art

Praktisch unbemerkt von der hiesigen Öffentlichkeit vollzieht sich gerade auch in Asien eine sicherheitspolitische „Zeitenwende“, und zwar von Seiten Japans, das traditionell eine, was die militärische Sicherheit angeht, recht zurückhaltende Politik betrieben hat, nicht zuletzt aufgrund der – bislang nicht systematisch aufgearbeiteten – Last des Zweiten Weltkriegs und der Beschränkungen des Artikels 9 der Verfassung. Letzterer lautet: „(1) In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten. (2) Um das Ziel des vorhergehenden Absatzes zu erreichen, werden keine Land-, See- und Luftstreitkräfte oder sonstige Kriegsmittel unterhalten. Ein Recht des Staates zur Kriegsführung wird nicht anerkannt.“ Dieser, auf Betreiben der USA in die Verfassung aufgenommene Artikel, ursprünglich als Instrument gegen eine Wiederbelebung des japanischen Militarismus und Expansionismus gedacht, hat dazu geführt, dass Japan bis heute offiziell nur Selbstverteidigungskräfte (JSDF, faktisch mit Heer, Luftwaffe und Marine) mit knapp 160.000 Soldaten und Soldatinnen sowie eine Küstenwache (JCG) mit über 350 Patrouillen-Booten besitzt und seine Verteidigungsausgaben lange Zeit auf maximal ein Prozent des BIP beschränkt hat. Zwar hat es verschiedene Schritte zur Aufweichung dieser Restriktionen gegeben – wiederum nicht zuletzt auf Drängen der Vereinigten Staaten, welche sich eine Entlastung bzw. Stärkung der gemeinsamen Verteidigung im Indo-Pazifik erhoffen –, etwa durch die Ermöglichung von Kampfeinsätzen im Rahmen kollektiver Verteidigung im Jahr 2015. Dennoch war die japanische Sicherheits- und Verteidigungspolitik bislang noch immer eher unauffällig. Dies scheint sich vor dem Hintergrund der russischen Aggression gegen die Ukraine, der allgemeinen Verschärfung des US-amerikanisch-chinesischen Gegensatzes sowie der sich zuspitzenden Taiwan-Krise nun jedoch zu ändern: 

1. Das neue Weißbuch zur Verteidigung Japans vom Juli 2022 benennt ganz klar die zentralen Bedrohungswahrnehmungen der japanischen Politik, als da sind: (a) die verstärkten Bemühungen Chinas um die Schaffung eines „Militärs der Weltklasse“, insbesondere durch immer höhere Militärausgaben, den Ausbau der Flotte sowie eine intensivierte „Civil-Military Fusion“, d.h. Nutzung und Verschmelzung ziviler Ressourcen für bzw. mit militärischen, und „intelligentization“ (Nutzung künstlicher Intelligenz etc.), welche etwa der Entwicklung von neuen UAVs und HGVs (unbemannten Flugkörpern/Drohnen bzw. hypersonic glide vehicles) dienen; (b) die Gefahr unilateraler, gewaltsamer Versuche einer Änderung des Status quo auch in Asien, nach dem Muster der russischen Aggression gegen die Ukraine sowie generell hybrider Kriegführung; (c) die sich verstärkende strategische Konkurrenz zwischen Großmächten, welche die bestehende internationale Ordnung und das bestehende globale Machtgleichgewicht gefährdet, wobei auch ökonomische und technologische Aspekte als zunehmend für die nationale Sicherheit relevant betrachtet werden; und (d) spezifische sicherheitspolitische Gefahren im indo-pazifischen Raum mit den immer offensiver vertretenen chinesischen Territorialansprüchen im Süd- und Ostchinesischen Meer, der wachsenden Kooperation und Koordination der Volksrepublik mit Russland sowie den zunehmenden (auch nuklearen) Provokationen durch Nordkorea.

2. Im gleichen Dokument unterstreicht die japanische Regierung ihre Antwort auf diese Bedrohungen, welche sich in drei Bereiche aufteilen lässt: (a) Abschreckung zur Verhinderung gewaltsamer Veränderungen des Status quo, was etwa durch eine Stärkung der JSDF, ihrer Ausrüstung (z.B. mit neuen Luft- und Raketenabwehrsystemen, Kampfflugzeuge oder Anti-Schiffssystemen) und ihrer Dislozierung gewährleistet werden soll sowie durch gemeinsame Übungen mit Partnern, allen voran den USA, mit denen Kooperation und Allianzbindungen weiter ausgebaut werden sollen; (b) verstärkte Anstrengungen in neuen sicherheits- und verteidigungspolitischen Feldern, etwa dem Weltraum (z.B. SSA/space situation awareness und Nutzung von Satellitenkonstellationen zur Raketenabwehr), dem Cyberraum (z.B. Schaffung eines eigenen SDF Cyber Defense Command, Kooperation mit den USA, NATO und Australien bei der Cyberabwehr), der elektromagnetischen Sphäre (Fähigkeiten zur elektronischen Kriegführung und deren Abwehr, z.B. gegen Jamming oder die Lähmung wichtiger Infrastruktur) sowie der Technologieentwicklung (z.B. Echtzeitkoordination von UAVs und bemannten Flugzeugen durch KI, elektromagnetische rail guns oder hochenergetische Mikrowellentechnologie zur Drohnenabwehr); sowie (c) Schaffung einer stabilen Sicherheitsarchitektur im Indo-Pazifik („Free and Open Indo-Pacific“), insbesondere durch politische und militärische Kooperation mit den USA, Indien und Australien (etwa in der „Quad“), sowie mit Kanada, Neuseeland und europäischen Staaten wie Frankreich, dem UK oder Deutschland, aber auch etwa mit ASEAN, den Inselstaaten des Pazifik oder den Anrainerstaaten des Indischen und Pazifischen Ozeans im Mittleren Osten, Afrika und Lateinamerika.

3. Bereits im Vorfeld des Weißbuches hat Japan einen Verteidigungsetat für 2022 und einen Nachtragshaushalt für 2021 beschlossen, der die Ausgaben auf knapp 5,9 Billionen Yen (ca. 53 Mrd. USD) erhöhen wird, eine Steigerung um rund 6,5% gegenüber dem Vorjahr (oder 7,8% bei Einberechnung der Kosten für den Teilabzug der US-Verbände von Okinawa nach Guam). Dies entspricht rund 1,1 Prozent des BIP gegenüber 0,9 Prozent des ursprünglichen Ansatzes und nähert sich in etwa dem deutschen Niveau (je nach Rechnung rund 1,3 bis 1,4 Prozent des BIP) an, auch wenn die japanischen Verteidigungsausgaben im Vergleich zu denen etwa Südkoreas (65,4 Mrd. USD oder 2,6% des BIP) oder Australiens (30,4 Mrd. USD oder 2,1% des BIP) mit ihrer deutlich geringeren Bevölkerung (ca. 52 bzw. 26. Mio. gegenüber rd. 126 Mio. Japans) noch immer wenig beeindruckend erscheinen. Auffällig ist aber der mit gut 3,8 Billionen Yen (ca. 34 Mrd. USD) hohe Anteil der Materialbeschaffung im Budget, eine Steigerung um fast 11% gegenüber 2021. Außerdem will Japanin relativ kurzer Frist, möglicherweise binnen fünf Jahren, wohl nach dem Wunsch der Regierung dauerhaft mindestens zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Verteidigung aufwenden, auch wenn dies offiziell noch nicht für verbindlich erklärt worden ist.

4. Priorität bei der Modernisierung der japanischen Selbstverteidigungskräfte sollen u.a. Satellitensysteme (etwa ein neuer Aufklärungssatellit inklusive lasergestützter Entfernungs- und Zielerfassung), Kommunikationsfähigkeiten und Ausbildung haben. An neuer Hardware sollen u.a. 12 zusätzliche F-35-Kampfflugzeuge, zwei Zerstörer, ein U-Boot, ein Minenräumboot, ein Versorgungsschiff (LSV), ein Landungsboot (LCU), zwei Ozeanüberwachungsschiffe, sechs Kampfpanzer, 33 andere Kampffahrzeuge (Radpanzer), sieben Panzerhaubitzen sowie 31 Mörsersysteme. Zudem sollen etwa die bestehenden Kampfflugzeuge vom Typ F-15 und F-2 (ein japanisches Modell auf der Basis der F-16)  modernisiert und die beiden (aus verfassungsrechtlichen Gründen offiziell „Zerstörer“ genannten) Izumo-Klasse-Hubschrauberträger mit verbesserten Landeführungssystemen ausgestattet werden (vier der geplanten neuen F-35 sind Senkrechtstarter in der Version für das U.S. Marine Corps). In diesem Zusammenhang ist interessant, dass das Weißbuch auch darauf verweist, dass bereits seit 2016 ein deutlicher Ausbau der militärischen Fähigkeiten auf den Ryuku-Inseln stattgefunden hat, insbesondere durch die Stationierung von Überwachungs- und Frühwarnsystemen, Kampfflugzeugen, Luftabwehrsystemen sowie insbesondere landestützten Antischiffsraketen. Die Ryuku-Inseln als Kette von Stützpunkten zwischen Japan und Taiwan versperren damit der chinesischen Marine den Weg über die „erste Inselkette“ aus dem Ostchinesischen Meer in den Pazifik, aus chinesischer Perspektive zweifellos ein strategisches Ärgernis.

5. Ein mittlerweile klareres und robusteres außen- und sicherheitspolitisches Auftreten der japanischen Regierung zeigt sich auch in der Verurteilung des russischen Angriffs auf die Ukraine und den japanischen Sanktionen gegen Russland. Zudem haben japanische Politik in den letzten Monaten den weiterbestehenden Anspruch Japans auf die südlichen Kurilen-Inseln bekräftigt, welche 1875 von Russland an Japan abgetreten und 1945 von der UdSSR besetzt wurden. Russland hat mit militärischen Drohungen und einer Aufrüstung der Inseln mit Raketen reagiert, was wiederum japanische Proteste nach sich zog. Die härtere Haltung gegenüber Russland kann zum Teil auch als Signal gegenüber China interpretiert werden, dessen wachsende Nähe und Kooperation mit Russland im Weißbuch explizit als Sicherheitsbedrohung genannt werden – sehr zum Unwillen der chinesischen Führung, die im Gegenzug prompt auf die aggressive Vergangenheit Japans verwies. Zudem besteht auch mit China ein langanhaltender und von beiden Seiten national überhöhter Territorialkonflikt um die Senkaku-/Diaoyu-Inseln östlich von Taiwan. 

Vor dem Hintergrund der aktuellen Taiwan-Krise ist auch interessant, dass Japan seine militärische Kooperation mit Taiwan in den letzten Jahren intensiviert hat und trotz seiner offiziellen Ein-China-Politik eine gewaltsame Änderung des Status quo ablehnt. In den Worten des Weißbuchs (S. 10): „In this situation, besides the U.S., countries in Europe and elsewhere have expressed their interest and concern in peace and stability in the Taiwan Strait. Taiwan is an extremely important partner for Japan, sharing the same fundamental values such as freedom and democracy. The stability of the situation surrounding Taiwan is also critical for Japan’s security and must be closely monitored with a sense of urgency while cooperating with the international community, based on the recognition that changes to the status quo by coercion are globally shared challenges.“ Bereits seit Mitte 2021 gibt es zudem Stimmen wie diejenige des stellvertretenden japanischen Verteidigungsminister, welche im Fall eines chinesischen Angriffs auf Taiwan die gemeinsame Hilfeleistung durch US-amerikanische und japanische Streitkräfte zur Verteidigung der taiwanesischen Demokratie fordern.

6. Das deutlichste Zeichen einer grundsätzliche Neuausrichtung der japanischen Sicherheitspolitik im Sinne einer echten „Zeitenwende“ ist aber die potenzielle Änderung des Artikels 9 der Verfassung und die Umwandlung der JSDF in ein „echtes“ Militär, ein Schritt, der bis vor kurzem trotz langandauernder Debatten als wenig aussichtreich betrachtet wurde. Zum einen kann die nun durchaus realistisch erscheinende Option einer solchen Verfassungsänderung quasi als Vermächtnis Shinzo Abes ansehen, zum anderen gibt es einen ganz pragmatischen Grund für die Aufgabe der verfassungsrechtlichen Restriktionen für die japanischen Streitkräfte: das Bündnis mit den USA, welches ja laut Weißbuch noch deutlich intensiviert werden soll. 

Bislang gibt es auf der Basis des Artikels 9 eine ausgesprochen komplexe, mehrstufige Gesetzeslage für einen Streitkräfteeinsatz an der Seite der Vereinigten Staaten ohne vorhergehenden Angriff auf japanischen Territorium - auch wenn letzterer bei einer Konfrontation um Taiwan unter Beteiligung der USA wohl kaum zu vermeiden wäre, einerseits, weil wichtige US-Stützpunkte in Japan liegen (Okinawa), und andererseits, weil die südwestlichsten Ryuku-Inseln unmittelbar in der Nähe des Kriegsschauplatzes liegen würden. Nicht umsonst hat ein Sprecher der japanischen Regierung darauf hingewiesen, dass die chinesischen Seemanöver in Folge des Taiwan-Besuchs von Nancy Pelosi in der japanischen Ausschließlichen Wirtschaftszone stattfinden würden. Eine direkte Unterstützung US-amerikanischer Gegenmaßnahmen gegen eine chinesische Blockade oder Invasion Taiwans wäre aber wohl rechtlich schwierig. Gelingt es der jetzigen Regierung tatsächlich, die Verfassung zu ändern, wofür jeweils eine Zwei-Drittel-Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments und eine einfache Mehrheit in einer Volksabstimmung erforderlich ist – letzteres wurde bislang als größtes Hindernis angesehen –, könnte man endgültig von einer Zeitwende sprechen.

  

Literatur/Links:

Japanese Ministry of Defense (2022): Defense of Japan 2022 - Booklet. Tokio: MoD. https://www.mod.go.jp/en/publ/w_paper/wp2022/DOJ2022_Digest_EN.pdf .

Japanese Ministry of Defense (2022): Defense Programs and Budget of Japan - Defense-Strengthening Acceleration Package - Overview of FY2022 Budget (Including FY2021 Supplementary Budget). Tokio: MoD, https://www.mod.go.jp/en/d_act/d_budget/pdf/20220420.pdf .