Äthiopien: Der vergessene Krieg eskaliert

Angesichts der beherrschenden Rolle des Ukraine-Krieges sowie sporadischer Meldungen etwa zur Lage in Mali oder zum Wiederaufflammen der Kämpfe zwischen Aserbeidschan und Armenien ist der seit über zwei Jahren andauernde Krieg in Äthiopien in den Medien praktisch völlig in Vergessenheit geraten. Dies ist umso dramatischer, als der dortige Konflikt bislang zu einer ungleich höheren Opferzahl als die genannten Auseinandersetzungen geführt hat und sich dort eine massive humanitäre Tragödie anbahnt, welche nicht nur Hunderttausende weiterer Menschenleben bedroht, sondern möglicherweise sogar die Existenz des noch vor ein paar Jahren als Hoffnungsträger Afrikas betrachteten Landes gefährden könnte. 

Die Hintergründe des Bürgerkrieges sind angesichts der Diversität der äthiopischen Gesellschaft und Komplexität des politischen Systems vielschichtig, können aber auf einige wenige Grundaspekte heruntergebrochen werden: Äthiopien ist ein Vielvölkerstaat mit mehr als 80 Ethnien, welche für die Einwohner meist identitätsprägender sind als die gemeinsame äthiopische Nationalität. Bis 1974 war das Land als Kaiserreich Abessinien eine Monarchie, welche sich in der Vergangenheit bis auf eine Periode italienischer Besetzung (1935 bis 1941) erfolgreich gegen Kolonisierungsversuche der imperialistischen Mächte zur Wehr gesetzt hatte. 1974 erfolgte ein Putsch, der Äthiopien bis 1991 zu einer sozialistischen Einparteien-Diktatur unter einer Militärjunta („Derg“) machte. Gegen diese Diktatur bildete sich eine Allianz von Widerstandsgruppen, welche schließlich als Parteienkoalition „Ethiopian Peoples’ Revolutionary Democratic Front“ (EPRDF) an die Macht kam. Dominiert wurde diese Allianz und damit die Regierung von der „Tigray People’s Liberation Front“ (TPLF), die ihre Basis in der nördlichsten Provinz Tigray hat und die militärisch erfolgreichste Rebellengruppe gegen die sozialistische Regierung war, obwohl Tigray als eine der mittlerweile zehn der ethnisch definierten Regionen (Kililoch) des Bundesstaates Äthiopien (seit 1995) lediglich knapp sechs Millionen Einwohner oder gut fünf Prozent der Gesamtbevölkerung von geschätzt 118 Millionen umfasst. 

Gegen die autoritäre und korrupte Regierung, welche zudem von 1998 bis 2000 einen verlustreichen und ökonomisch kostspieligen Krieg gegen Eritrea führte, das 1993 von Äthiopien unabhängig geworden war, bildete sich bald eine neue Opposition. Wirtschaftliche Probleme, soziale Ungleichheit, politische Unterdrückung und nicht zuletzt Umweltkatastrophen (Dürre, Überschwemmungen) führten ab 2015 zu Unruhen, welche von der Regierung zunächst niedergeschlagen wurden, 2018 jedoch zu einer neuen Regierung unter Ministerpräsident Abiy Ahmed führte. Dieser war als Parteivorsitzender der „Demokratischen Organisation des Oromovolkes“ (OPDO) Teil der EPRDF, verschrieb sich jedoch schnell einer Reformpolitik, welche der bisherigen Machtposition der TPLF zuwiderlief. Dazu gehörten Wirtschaftsreformen, die Aufhebung des Ausnahmezustands, die Freilassung politischer Gefangener, die Förderung der Presse- und Meinungsfreiheit sowie die Korruptionsbekämpfung. 

Nicht zuletzt durch große Investitionen von Seiten der Volksrepublik China stabilisierte sich die äthiopische Wirtschaft gegen Ende der 2010er Jahre, und zusammen mit dem Ausbau der Infrastruktur, etwa durch das Projekt des Great Ethiopian Renaissance Dam am Nil zur Gewährleistung einer zukünftigen Energieversorgung (welcher freilich zu Spannungen mit Ägypten und dem Sudan führten), den demokratischen Reformen und dem Friedensschluss mit Eritrea 2018 wurde Äthiopien zu einem Hoffnungsträger der sozioökonomischen Entwicklung Afrikas. Die äthiopische Wirtschaft wuchs seit 2004 beständig, teilweise im zweistelligen Bereich (noch 2021 um 5,6 Prozent) auf mittlerweile 111 Mrd. US-Dollar (2021); das Pro-Kopf-Einkommen verzehnfachte sich innerhalb der letzten 20 Jahre auf 944 USD p.c.), die Armutsrate (definiert als weniger als 2,15 USD verfügbaren Einkommens pro Kopf und Tag) sank von 35% (2005) auf 27% (2015) der Bevölkerung. 2019 wurde Abiy bekanntlich der Friedensnobelpreis für seine Aussöhnung mit Eritrea zugesprochen. 

Die innenpolitische Situation wurde jedoch in der Folge instabiler; nach Anschlagsversuchen auf den Ministerpräsidenten wurde ein Teil der von der TPLF dominierten Spitze des Militärs entlassen und Abiy Ahmed regierte angesichts wachsender Unruhen mit zunehmend autoritären Mitteln. Angesichts der Covid-19-Epidemie wurden die für August 2020 geplanten Parlamentswahlen verschoben, worauf die TPLF in Tigray im September 2020 eigene Wahlen veranstaltete (die sie mit angeblich über 98% der Stimmen gewann) und ankündigte, sich nicht mehr an die Vorgaben der angeblich nicht mehr demokratisch legitimierten Zentralregierung halten zu wollen. Dabei konnte sich die TPLF auf ihre starken Milizverbände stützen. Bereits zuvor war die TPLF faktisch auf der EPRDF ausgetreten, als diese auf Betreiben Abiy Ahmeds Ende 2019 zusammen mit weiteren Gruppierungen in eine neue Partei, die „Wohlstandspartei“  („Prosperity Party“, PP) unter seiner Führung umgewandelt wurde.

Der gegenwärtige Bürgerkrieg begann im November 2020, als Abiy Ahmed nach (nicht wirklich verifizierten) Angriffen der TPLF-Milizen („Tigray Defence Force“, TDF) auf Stützpunkte der Armee Bundestruppen gegen Tigray in Marsch setzte, welche von Eritrea unterstützt wurden, das aufgrund des Krieges von 1998 bis 2000 und weiteren Grenzscharmützeln mit der TPLF noch ein Hühnchen zu rupfen hat. Es kam zu heftigen Kämpfen, die schließlich im Juni 2021 zum Rückzug der Regierungstruppen aus der Provinz und zur Deklaration eines Waffenstillstandes führte, welcher von der TPLF jedoch nicht akzeptiert wurde. Stattdessen gingen die TDF zur Gegenoffensive über, eroberten bis Herbst große Teile der Nachbarregionen Afar und Amhara und drohten, nach Addis Abeba zu marschieren, um die Zentralregierung zu stürzen. Unterstützt wurden sie dabei von einer Reihe weiterer ethnischer Milizen, welche sich den TDF angeschlossen haben.           

Im November 2021 erschien die militärische Lage der Zentralregierung prekär, doch war es ihr schließlich möglich, durch mehrere Maßnahmen die Gefährdung der Hauptstadt abzuwenden. Dazu gehörten (1) umfangreiche Waffenkäufe im Ausland, u.a. in der Türkei, in Israel und im Iran;  (2) die intensive Zusammenarbeit mit den eritreischen Streitkräften; (3) die Generalmobilmachung der Armee; sowie (4) ein Unterstützungsaufruf und die Aufrüstung anti-tigrayischer ethnischer Milizen im ganzen Land, v.a. der größten Amhara-Miliz FANO.

In der Folge gelang es, die TDF weitgehend auf ihre eigene Provinz zurückzudrängen, worauf sich beide Seiten im März 2022 auf einen Waffenstillstand einigten. Gegenseitige Vorwürfe massiver Kriegsverbrechen sowie die horrende Versorgungslage der tigrayischen Bevölkerung in Folge der seit Jahren anhaltenden Dürre am Horn von Afrika, welche nach Auffassung der TDLF durch die systematische Behinderung von Hilfslieferungen durch die Zentralregierung als Instrument der Bekämpfung des Widerstands maßgeblich verschärft wurde, führten jedoch Ende August 2022 zur Wiederaufnahme der Kämpfe, nachdem die Regierung den vollständigen Rückzug der TDF zur Vorbedingung für die vollständige Wiederaufnahme der Hilfslieferungen gemacht hatte. Die Regierung Abiy Ahmends dementiert jedoch, Hunger als Waffe im Bürgerkrieg einzusetzen. Stattdessen wird gegen Weizenimporte und deren Verteilung u.a. eingewandt, dass eine kohlenhydratreiche Ernährung Übergewicht und Diabetes fördere und die Getreideproduktion in Äthiopien selbst angekurbelt werden soll. Mitte September haben die äthiopischen Regierungstruppen und ihre Verbündeten nun mit einer Großoffensive gegen Tigray begonnen, offenbar, um in enger Kooperation mit Eritrea den Widerstand der TPLF endgültig zu brechen. Friedensbemühungen der Afrikanischen Union und der Vereinten Nationen sowie  Waffenstillstandsangeboten der TPLF war bislang kein Erfolg beschieden.   

Der Bürgerkrieg beschränkt sich mittlerweile jedoch nicht mehr nur auf Tigray und den Norden Äthiopiens. So werden der FANO zahlreiche Übergriffe auf die Oromo in der Provinz Oromia vorgeworfen, in der etwa 40 Prozent der äthiopischen Bevölkerung leben. Im Gegenzug hat die größte Oromo-Miliz, die „Oromo Liberation Army“ (OLA), ihrerseits mit Angriffen auf die FANO, die äthiopische Bundesarmee und die Zivilbevölkerung begonnen, was umso problematischer erscheint, weil dadurch auch andere Gebiete des Landes außer dem Norden destabilisiert werden, ganz abgesehen davon, dass Abiy Ahmed selbst der Volksgruppe der Oromo angehört. Zudem gibt es Hinweise dafür, dass die OLA, die traditionell für eine Unabhängigkeit Oromias kämpft, enge Verbindungen zu Al-Shabab unterhält, welche wiederum mit Al Qaeda verbunden ist und hauptsächlich in und von Somalia aus operiert. Äthiopien scheint damit nicht nur von einem umfassenden ethnischen Bürgerkrieg und im schlimmsten Fall von einem faktischen Staatszerfall bedroht, sondern auch von einem Übergreifen des transnationalen Djihadismus. Dazu gesellen sich in den letzten Wochen Grenzscharmützel mit dem Sudan und die Auseinandersetzung der TDF mit Eritrea um umstrittene Gebiete zwischen Äthiopien und Eritrea. Der äthiopische Bürgerkrieg könnte also auch auf die Nachbarländer übergreifen.   

Diese komplexe und sich verschärfende Konfliktlage hat zu einer humanitären Katastrophe geführt, deren Ende nicht absehbar ist. Zum einen wird der Krieg zu großen Teilen von irregulären Kämpfern und einer wenig disziplinierten Armee geführt, welche sich immer wieder Kriegsverbrechen und Massaker an der Zivilbevölkerung zuschulden kommen lassen, die gerade in dieser Art des Krieges die Hauptleidtragende ist. Zudem gibt es laut UNHCR aufgrund des Krieges 4,2 Millionen Binnenflüchtlinge und 1,5 Mio. ehemalige Binnenflüchtlinge (Rückkehrer). Zusammen mit über 800.000 Flüchtlingen aus den Nachbarländern Südsudan, Somalia und Eritrea, welche ebenfalls unter Dürre, Bürgerkrieg und Unterdrückung leiden, ergibt sich eine Gesamtzahl von etwa 8,5 Millionen Menschen, die gegenwärtig als Entwurzelte versorgt werden müssen. Zusammen mit den Missernten der vergangenen Jahre resultiert dies nach Zahlen des Welternährungsprogramms in mehr als 20 Millionen Menschen, die in Äthiopien von Hunger bedroht oder bereits ernsthaft betroffen sind. Etwa 13 Millionen davon benötigen allein in den unmittelbar von den Kämpfen betroffenen Regionen Tigray, Afar und Amhara Nahrungsmittelhilfe. Bislang ist durch die diversen Hilfsprogramme erst rund ein Drittel der betroffenen äthiopischen Bevölkerung erreicht worden. 

Es wird geschätzt, dass im Tigray-Krieg bislang bis zu 400.000 Menschen gestorben sind, 50.000 bis 100.000 als direkte Opfer der Kämpfe, 150.000 bis 200.000 durch Hunger und über 100.000 durch fehlende medizinische Versorgung. Damit stellt er wohl zusammen mit der Katastrophe des internationalisierten Bürgerkriegs im Yemen jeden anderen aktuellen Gewaltkonflikt in der Welt deutlich in den Schatten - und wird bei uns trotzdem kaum wahrgenommen.

  

Literatur/Links:

Assefa, Tefera (2022): The Imperial Regimes as a Root of Current Ethnic Based Conflicts in Ethiopia. Journal of Ethnic and Cultural Studies 9 (1): 95-130, https://www.researchgate.net/publication/357837705_The_Imperial_Regimes_as_a_Root_of_Current_Ethnic_Based_Conflicts_in_Ethiopia . 

Bethke, Felix S. (2021): Civil War in Ethiopia - The Instrumentalization and Politicization of Identity. PRIF Spotlight 16/2021, https://www.hsfk.de/publikationen/publikationssuche/publikation/civil-war-in-ethiopia .

Donelli, Federico (2022): The Ethiopian Crisis: A Dangerous Precedent for Future Conflicts? Al Sharq Strategic Research Expert Brief, 18 January 2022, https://www.researchgate.net/publication/358046744_The_Ethiopian_Crisis_A_Dangerous_Precedent_for_Future_Conflicts .

Macrae, Joanna/Zwi, Anthony B. (1992): Food as an Instrument of War in Contemporary African Famines: A Review of the Evidence. Disasters 16 (4): 299-321, https://www.researchgate.net/publication/47499405_Food_as_an_Instrument_of_War_in_Contemporary_African_Famines_A_Review_of_the_Evidence .