Erdogans Spiel mit den Kurden
Aus den jüngsten Entwicklungen in Syrien scheinen insbesondere Präsident Erdogan und die türkische Außenpolitik als Sieger hervorzugehen. Dadurch, dass die Milizen, denen es gelungen ist, das Assad-Regime zu stürzen, maßgeblich von ihr unterstützt worden sind, gewinnt die Türkei nach eher weniger erfolgreichen Anläufe, zu denen etwa auch die vermeintlich proarabische Positionierung gegen Israel bis hin zu militärischen Drohungen gehört, wohl deutlich an Einfluss im Nahen Osten. Dies betrifft nicht zuletzt auch das türkische Gewicht gegenüber regionalen Konkurrenten wie dem Iran und Saudi-Arabien, ganz abgesehen davon, dass auch Russland und den USA die strategische Bedeutung der Türkei verdeutlicht wurde.
Interessanterweise ermöglicht der Erfolg der HTS-Miliz Erdogan auch einen neuen Ansatz zur potenziellen Lösung des aus der Sicht Ankaras virulenten Kurden-Problems. Denn zum einen wird eine Drohkulisse eines massiven militärischen Vorgehens der türkischen Streitkräfte und ihrer syrischen Verbündeten gegen die autonomen Kurdengebiete in Nordsyrien aufgebaut, welche als Rückzugs- und Unterstützungsräume der PKK angesehen werden. Nicht umsonst sind bereits entsprechende Kampfhandlungen in Syrien zu verzeichnen. Gleichzeitig wird diese Drohung zum anderen dazu genutzt, die kurdische Führung mit einem neuen Friedensprozess zu locken, was mittlerweile anscheinend auch beim seit 1999 inhaftierten Führer der PKK, Abdullah Öcalan, positiv zur Kenntnis genommen wird.
Die Erklärung für dieses scheinbar widersprüchliche, zweigleisige Vorgehen liegt in der Verquickung der außen- und sicherheitspolitischen Interessenlage mit der innenpolitischen Position des Präsidenten. Denn für eine wohl angestrebte weitere Amtszeit als Präsident muss Erdogan die Verfassung der Republik Türkei (VRT) ändern lassen, nachdem die Verfassung auch nach ihrer Änderung 2017 in Art. 101 vorsieht, dass maximal zwei Amtszeiten eines Staatspräsidenten möglich sind. Der Interpretationstrick, dass sich der Kontext des Amtes des Präsidenten durch die Verfassungsänderung 2017 so fundamental geändert habe, dass frühere Amtszeiten nicht mitgerechnet werden könnten, welcher in der Wahl von 2023 angewendet wurde, damit Erdogan faktisch zum dritten Mal nach 2014 und 2018 Präsident werden konnte, wird 2028 nicht mehr funktionieren, weshalb nur eine Änderung des Art. 101 VRT den Weg zu einer weiteren oder gar unbeschränkten Zahl von Amtszeiten des heute 70-Jährigen ebnen könnte. Eine Verfassungsänderung erfordert nach Art. 175 VRT jedoch mindestens eine Drei-Fünftel-Mehrheit im türkischen Parlament, der Großen Nationalversammlung der Türkei, sofern sie durch eine anschließende Volksabstimmung bestätigt wird, oder sogar eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Mitglieder der Nationalversammlung, wenn die Änderung ohne Referendum beschlossen werden soll.
Nach den Wahlen von 2023 (welche gemäß Art. 77 VRT immer gleichzeitig für Parlament und Präsidenten stattfinden müssen) verfügt die regierende Koalition des Präsidenten jedoch nurmehr über eine einfache Mehrheit von 323 der 600 Abgeordneten (264 der AKP Erdogans plus 50 der nationalistischen MHP, 8 der islamistischen YRP und HÜDA sowie 1 der sozialistischen DSP als Unterstützer). Neben der kemalistisch bis sozialdemokratisch ausgerichteten CHP (127 Mandate) ist die minderheitenfreundliche und prokurdische DEM Parti mit 57 Abgeordneten die zweitgrößte Oppositionspartei und wäre von der Stimmenzahl ausreichend für eine 60%-Mehrheit von 360 Mitgliedern der Großen Nationalversammlung. Auch die Alternative des Art. 116 VRT, wonach ein zum zweiten Mal amtierender Präsident im Fall von durch das Parlament anberaumten Neuwahlen noch einmal, also ein drittes Mal kandidieren darf, ist Erdogan zunächst versperrt, erfordert eine Selbstauflösung der Nationalversammlung doch ebenfalls eine Drei-Fünftel-Mehrheit.
Es liegt also nahe, die jüngsten Avancen der Regierung Erdogan gegenüber den Kurden, welche etwa in Besuchsmöglichkeiten von DEM-Abgeordneten bei Öcalan oder gar dem Vorschlag aus der MHP, ihn gegen die Beendigung des kurdischen Unabhängigkeitskampfes freizulassen, ihren Niederschlag finden, als Manöver zur Vorbereitung einer Verfassungsänderung, die auch in größerem Stil bereits seit längerem diskutiert und vorbereitet wird, zu interpretieren. Der gleichzeitige militärische Druck auf die Kurden in Syrien soll offenbar die Kooperationsbereitschaft der kurdischen Führung und der DEM zusätzlich fördern bzw. erzwingen.
Bei alledem stellt sich aus kurdischer Sicht natürlich die fundamentale Frage, welche Garantien für die Sicherheit und die Minderheitenrechte der Kurden es für den Fall einer tatsächlichen Verfassungsänderung geben würde. Die jetzige Präsidialverfassung mit ihrer Exekutivlastigkeit und den kaum vorhandenen Kontrollmöglichkeiten gegenüber dem Präsidenten lassen deutliche Zweifel aufkommen, ob solche Garantien überhaupt möglich oder glaubwürdig wären.
Auf der anderen Seite hat Präsident Erdogan in der neuen geostrategischen Lage auch ohne Verfassungsänderung in den nächsten Jahren die aussichtsreiche "Second Best"-Option, die kurdische Sache mit Gewalt massiv zu schwächen, wenn nicht gar die Autonomie der Rojava in Syrien weitgehend zu vernichten. Schließlich haben die Machtübernahme einer eher protürkischen Regierung in Damaskus, die weitgehende Verdrängung Russlands und des Iran aus Syrien, das offen bekundete Desinteresse Donald Trumps an der Region und die Schwäche der Europäer tatsächlich eine für den Augenblick optimale machtpolitische und militärische Situation für regionale türkische Ambitionen geschaffen. In diesem Sinne ist der türkische Präsident anscheinend tatsächlich der große Gewinner der jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten.
Literatur/Link:
Die Verfassung der Republik Türkei, https://www.tuerkei-recht.de/downloads/verfassung.pdf .