Carl Schmitt goes to America

Am 1. Juli 2024 wurde der Beschluss des Obersten Gerichtshofes der USA (SCOTUS) zur Frage der strafrechtlichen Immunität von US-Präsidenten veröffentlicht, welcher für die Verfolgung der Wahlmanipulations- und Umsturzversuche unter Ägide Donald Trumps 2020/21 von zentraler Bedeutung sein könnte. Der Leitsatz der Entscheidung lautet: „Under our constitutional structure of separated powers, the nature of Presidential power entitles a former President to absolute immunity from criminal prosecution for actions within his conclusive and preclu- sive constitutional authority. And he is entitled to at least presumptive immunity from prosecution for all his official acts. There is no immunity for unofficial acts.“ 

Begründet wird diese Position unter Bezug auf vorangegangene Urteile, etwa im Fall Richard Nixons, und unter Berufung auf die Gründerväter der Verfassung letztlich damit, dass letztere Absicht gehabt hätten, „to provide for a ‘vigorous‘ and ‘energetic‘ Executive. (...) They vested the President with ’supervisory and policy responsibilities of utmost discretion and sensitivity.’ (…) Appreciating the ’unique risks’ that arise when the President’s energies are diverted by proceedings that might render him ’unduly cautious in the discharge of his official duties,’ the Court has recognized Presidential immunities and privileges ‘rooted in the constitutional tradition of the separation of powers and supported by our history.’” Im Ergebnis gelangt der Suprime Court trotz formeller Einschränkungen, welche, weil in der Praxis nicht wirklich relevant, wirkungslos bleiben, faktisch zu einer fast uneingeschränkten strafrechtlichen Immunität des US-Präsidenten für Handlungen während seiner Amtszeit.  

Mit dieser Entscheidung bestätigt die (konservative) Mehrheit der Supreme Court-Richter nicht nur den Verdacht ihrer loyalen Haltung gegenüber dem Ex-Präsidenten, dem sie ideologisch nahestehen oder zumindest teilweise ihr Amt verdanken, sondern auch die grundsätzliche Tendenz eines gewissen Laissez-faire-Ansatzes gegenüber staatlichen inklusive rechtlichen Befugnissen und Restriktionen. Ebenso wie etwa bei der Revision des föderalen Abtreibungsrechts zugunsten einzelstaatlicher Regelungen wird hier eine Verfassungsinterpretation gewählt, die sich einerseits möglichst eng an den Verfassungstext (und nicht zuletzt an das, was dort nicht explizit geschrieben steht) sowie seinen vermeintlichen – und durchaus sehr umstrittenen – originären historischen Kontext halten und übermäßige interpretative Interventionen von Seiten des Höchsten Gerichts vermeiden will. Andererseits wird juristische Systematik auf ein Minimum reduziert und macht einer Mischung aus eher allgemeinen Aussagen und Verweisen auf den Einzelfall bzw. vorgelagerte Institutionen Platz. Anstatt konkrete Kriterien für die Unterscheidung zwischen „offiziellen“ und „nichtoffiziellen“ Akten des Präsidenten aufzustellen, wird diese Aufgabe eben an das Bundesgericht zurückverwiesen, welches den Fall von Trumps versuchtem Wahlbetrug und Umsturz verhandelt. Im Rahmen der zu erwartenden Entrüstung der politischen Gegner Trumps und unbeteiligter Beobachter über die faktische Akzeptanz eines „König“ Trump durch den Supreme Court – welche auch deutlich von den drei abweichenden Richtern kritisiert wurde – wurde in den liberalen US-Medien etwa auf die weitgehende Aushebelung rechtsstaatlicher Kontrolle des Präsidenten durch das „Death Squad Ruling“ des SCOTUS oder dessen Selbstermächtigung zum letzten Richter über die Verantwortlichkeiten der gestärkten Exekutive (durch die Definitionsmacht offizieller und nicht offizieller Aktivitäten des Präsidenten) gegenüber einer solcherart geschwächten Legislative hingewiesen. Selbst der amtierende Präsident Joe Biden sah sich im Wahlkampf gegen Trump dazu bemüßigt, seine Missbilligung des Urteils deutlich zu äußern: „Today's decision almost certainly means that there are virtually no limits on what the president can do. (...) The only limits will be self-imposed by the president alone. (…) Now the American people will have to do what the court should have been willing to do, but will not (…) render a judgment about Donald Trump's behavior.“ Tatsächlich dürfte die anstehende US-Präsidialwahl von nun an vor allem unter der überwölbenden Fragestellung stehen, wem die US-Amerikaner vertrauen, im Amt kein von seinen autoritären Allüren getriebener, potenzieller Tyrann – bzw. genau dies – zu werden. 

Dem politik- und rechtstheoretisch ansatzweise versierten Beobachter dürfte die Begründung der SCOTUS-Entscheidung zusammen mit den damit verbundenen Forderungen und Ankündigungen Trumps und seiner Getreuen, dem wahren Volk, dem „kleinen Mann“ wieder zu seinem Recht zu verhelfen, nicht unbekannt vorkommen. Steve Bannon, einer der führenden Köpfe hinter der rechtspopulistischen bis faschistoiden Bewegung, für die Trump die Galionsfigur ist, hat postuliert, dass „What the ruling class in our nation should fear is President Trump’s audience, from Wildwood, New Jersey, to South Bronx to Miami to Charlotte, (...). The commonality is that American citizens who work their ass off – the whole country depends on them – of every race and ethnicity don’t think they’re at the table and they don’t think anybody except Trump wants them at the table.” Im maßgeblich von der Heritage Foundation mitentwickelten erzkonservativen „Mandate of Leadership“ („Project 2025“) werden gleich auf Seite 3 explizit als Ziele einer neuen Präsidentschaft Donald Trumps angegeben: „1. Restore the family as the centerpiece of American life and protect our children. 2. Dismantle the administrative state and return self-governance to the American people. 3. Defend our nation’s sovereignty, borders, and bounty against global threats. 4. Secure our God-given individual rights to live freely—what our Constitution calls ‘the Blessings of Liberty.’” James Goodwin hat diese Agenda jüngst in der Boston Review folgendermaßen umrissen: „Project 2025 is candid about its ultimate goal: to reprogram the U.S. administrative state to support and sustain archconservative rule for decades to come. The distinguishing features of this regime would include a far more politicized bureaucracy, immunity against meaningful public or congressional oversight, abusive deployment of agency enforcement capabilities as a tool of political retribution, and aggressive manipulation of federal program implementation in the image of Christian nationalism, white supremacy, and economic inequality.“ 

Das Zusammenspiel von erzkonservativ-pseudochristlichen Werten, individualistisch-antietatistischem Liberalismus und xenophob-nativistischen Nationalismus ist typisch für rechtspopulistische Bewegungen und Parteien, die eine weitgehende Zerschlagung des bestehenden politischen Establishments und der sie ermöglichenden Strukturen propagieren. Die juristischen Ergänzungen und Konkretisierungen zur potenziellen Realisierung dieses Programms durch eine gestärkte Exekutive, wie sie in der SCOTUS-Entscheidung und ihrer Begründung aufscheinen, erinnern vor diesem Hintergrund deutlich an Argumentationslinien, wie sie aus der Spätphase der Weimarer Republik bekannt sind. Die Interpretation der herausragenden Position des US-Präsidenten und seiner umfangreichen Sonderrechte bei der Durchsetzung seiner Politik im Zusammenspiel mit dem hochantagonistischen und vergifteten (partei-) politischen Umfeld der aktuellen USA erinnern insbesondere an drei zentrale Motive von Carl Schmitts politischer Philosophie und Rechtstheorie, welche im Zusammenhang mit der US-amerikanischen Rechten bereits seit Längerem diskutiert werden. Exemplarisch seien die Beiträge von Neil McInnes (2005), Damon Linker (2009), William Scheuerman (2021), Blake Smith (2021), Quinta Jurecic (2022) oder Jay Engel (2024) genannt.

Erstens ist da der „Begriff des Politischen“.  Im Sinne Schmitts ist das Politische eine Freund-Feind-Dichotomie, gemäß der der politische Gegner eben kein Konkurrent im Diskurs und im regelgebundenen, zivilisierten Wettbewerb um Mehrheiten ist, mit dem auf der Basis gemeinsamer Grundwerte und Überzeugungen diskutiert und um Kompromisse gerungen werden kann. Vielmehr ist er ein Feind, der letztlich nur politisch ausgeschaltet, im Extremfall sogar physisch neutralisiert werden muss. Der politische Prozess ist damit ein Entweder-oder der Durchsetzung der eigenen und der Vernichtung der gegensätzlichen anderen Position: 

„Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind. Sie gibt eine Begriffsbestimmung im Sinne eines Kriteriums, nicht als erschöpfende Definition oder Inhaltsangabe. Insofern sie nicht aus ändern Kriterien ableitbar ist, entspricht sie für das Politische den relativ selbstständigen Kriterien anderer Gegensätze: Gut und Böse im Moralischen; Schön und Hässlich im Ästhetischen usw. Jedenfalls ist sie selbstständig, nicht im Sinne eines eigenen neuen Sachgebietes, sondern in der Weise, dass sie weder auf einem jener anderen Gegensätze oder auf mehreren von ihnen begründet, noch auf sie zurückgeführt werden kann. (...) Die Unterscheidung von Freund und Feind hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen; sie kann theoretisch und praktisch bestehen, ohne dass gleichzeitig alle jene moralischen, ästhetischen, ökonomischen oder ändern Unterscheidungen zur Anwendung kommen müssten. Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch hässlich zu sein; er muss nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen. Er ist eben der Andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, dass er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas Anderes und Fremdes ist, so dass im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines „unbeteiligten" und daher „unparteiischen" Dritten entschieden werden können. (...) Den extremen Konfliktsfall können nur die Beteiligten selbst unter sich ausmachen; namentlich kann jeder von ihnen nur selbst entscheiden, ob das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktsfalle die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft wird, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren. (...) Die Begriffe Freund und Feind sind in ihrem konkreten, existenziellen Sinn zu nehmen, nicht als Metaphern oder Symbole, nicht vermischt und abgeschwächt durch ökonomische, moralische und andere Vorstellungen, am wenigsten in einem privat-individualistischen Sinne psychologisch als Ausdruck privater Gefühle und Tendenzen. Sie sind keine normativen und keine ‚rein geistigen‘ Gegensätze. Der Liberalismus hat in einem für ihn typischen (...) Dilemma von Geist und Ökonomik den Feind von der Geschäftsseite her in einen Konkurrenten, von der Geistseite her in einen Diskussionsgegner aufzulösen versucht. (...) Feind ist also nicht der Konkurrent oder der Gegner im Allgemeinen. Feind ist auch nicht der private Gegner, den man unter Antipathiegefühlen hasst. Feind ist nur eine wenigstens eventuell, d. h. der realen Möglichkeit nach kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht. Feind ist nur der öffentliche Feind, weil alles, was auf eine solche Gesamtheit von Menschen, insbesondere auf ein ganzes Volk Bezug hat, dadurch öffentlich wird. (...) Den Feind im politischen Sinne braucht man nicht persönlich zu hassen, und erst in der Sphäre des Privaten hat es einen Sinn, seinen „Feind", d. h. seinen Gegner, zu lieben. (...) Der politische Gegensatz ist der intensivste und äußerste Gegensatz und jede konkrete Gegensätzlichkeit um so politischer, je mehr sie sich dem äußersten Punkte der Freund-Feindgruppierung, nähert“ (Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 14-17).

Wenn Trump und seine Anhänger also „Retribution“ und Ähnliches ankündigen und das „Projekt 2025“ einen völligen Umbau des politisch-administrativen Systems zur dauerhaften Bewahrung und Durchsetzung konservativer Macht und Wertvorstellungen fordert, in dem abweichende Haltungen auch institutionell ausgeschlossen und unterdrückt werden, dann passt das zu dieser extremen Auffassung von Politik als existenziellem Verdrängungskampf, welcher so grundsätzlich ist, dass er selbst von konkreten materiellen Interessen oder Emotionen losgelöst ist und auf das Anderssein des Gegenüber als Urgrund des Konflikts fokussiert.

Dieses Politikverständnis verbindet sich zweitens mit einem besonderen Begriff von Legitimität und Demokratie, den Schmitt in „Legalität und Legitimität“ entwickelt. Ausgehend von der an Max Weber angelehnten Unterscheidung von „Gesetzgebungsstaat“, „Jurisdiktionsstaat“, „Regierungsstaat“ und „Verwaltungsstaat“ (je nach dominierender Rechtsetzungs- und Machtinstanz) verweist er anhand der innenpolitischen Probleme der Weimarer Republik und den Inkonsistenzen ihrer Verfassung auf die Grundschwierigkeit einer liberal-parlamentarischen Demokratie, die Teilhabe an der Willensbildung für den Staat insgesamt mit den Sonderinteressen von Lobbys und Parteien unter einen Hut zu bekommen. Angesichts verschiedener Gesetzgeber (das Parlament im normalen Gesetzgebungsverfahren, das Volk bei Referenden, der Reichspräsident durch Notverordnungen), der parteipolitischen Zersplitterung des politischen Willensbildungsprozesses und der willkürlichen Unterdrückung der Minderheit durch die (temporäre) Mehrheit verlor die Weimarer Republik laut Schmitt ihre Legitimation, weil die nicht den Willen des gesamten Volkes widerspiegelte. Das quasi rechtspositivistische Festhalten an den formaljuristischen Verfassungsregeln (Legalität) konterkarierte daher deren materielle Rechtfertigung des (Verfassungs-) Rechts, weshalb ein Umsturz des Systems zugunsten der „Anerkennung substanzhafter Inhalte und Kräfte des deutschen Volkes“ (Schmitt, Legalität und Legitimität, S. 97) vertretbar, ja sogar wünschenswert erschien.

Schmitt relativiert entsprechend zum einen die Idee des Rechtsstaates, denn sowohl „der Gesetzgebungsstaat wie der Jurisdiktionsstaat können sich ohne weiteres als einen Rechtsstaat ausgeben; aber auch jeder Regierungs- und jeder Verwaltungsstaat, wenn er sich in der Sache darauf beruft, Recht zu verwirklichen, unrichtiges altes Recht durch richtiges neues Recht zu ersetzen und vor allem die normale Situation zu schaffen, ohne die jeder Normativismus ein Betrug ist. Das Wort ,Rechtsstaat‘ kann soviel Verschiedenes bedeuten wie das Wort ,Recht' selbst und außerdem noch soviel Verschiedenes wie die mit dem Worte ,Staat‘ angedeuteten Organisationen. Es gibt einen feudalen, einen ständischen, einen bürgerlichen, einen nationalen, einen sozialen, ferner einen naturrechtlichen, vernunftrechtlichent historisch-rechtlichen Rechtsstaat. Es ist begreiflich, dass Propagandisten und Advokaten aller Art das Wort gern für sich in Anspruch nehmen, um den Gegner als Feind des Rechtsstaates zu diffamieren. Ihrem Rechtsstaat und ihrem Rechtsbegriff gilt der Spruch: ‚Recht aber soll vorzüglich heißen, was ich und meine Gevattern preisen‘“ (ebd., S. 19). 

Zum anderen eröffnet er durch die Unterscheidung von Legalität und Legitimität eine Argumentationslinie zur Rechtfertigung auch formal illegaler und prozedual verfassungsfeindlicher Aktivitäten, welche dem wahren Willen eines als politisch homogen angenommenen Volkes zur Realisierung verhelfen: „Der Sinn der plebiszitären Willensäußerung ist (...) nicht Normierung, sondern, wie das Wort ,Volksentscheid‘ treffend zum Ausdruck bringt, Entscheidung durch einen Willen. Auch liegt es in der Natur der Sache, dass Plebiszite nur augenblicksweise und intermittierend veranstaltet werden können; (...) . Das Volk kann nur Ja oder Nein sagen; es kann nicht beraten, deliberieren oder diskutieren; es kann nicht regieren und nicht verwalten; es kann auch nicht normieren sondern nur einen ihm vorgelegten Normierungsentwurf durch sein Ja sanktionieren. Es kann vor allem auch keine Frage stellen, sondern nur auf eine ihm vorgelegte Frage mit Ja oder Nein antworten. (...) Und doch ist die plebiszitäre Legitimität die einzige Art staatlicher Rechtfertigung, die heute allgemein als gültig anerkannt sein dürfte. Es ist sogar wahrscheinlich, dass ein großer Teil der heute zweifellos vorhandenen Tendenzen zum ‚autoritären Staat‘ hier eine Erklärung findet. Diese Tendenzen lassen sich nicht einfach als reaktionäre oder restaurative Sehnsucht erledigen. Von weitaus größerer Bedeutung ist die Erkenntnis, dass in der Demokratie die Ursache des heutigen ,totalen Staates‘, genauer der totalen Politisierung des gesamten menschlichen Daseins zu suchen ist (...). Das stärkste Motiv jener Tendenzen zur auctoritas liegt aber, verfassungstheoretisch gesehen, in der Situation selbst und entspringt unmittelbar dem Faktum, dass gegenwärtig die plebiszitäre Legitimität als einziges, anerkanntes Rechtfertigungssystem übrig geblieben ist. Infolge ihrer Abhängigkeit von der Fragestellung setzen nämlich alle plebiszitären Methoden eine Regierung voraus, die nicht nur Geschäfte besorgt, sondern auch Autorität hat, die plebiszitären Fragestellungen im richtigen Augenblick richtig vorzunehmen. Die Frage kann nur von oben gestellt werden; die Antwort nur von unten kommen. (...) Die plebiszitäre Legitimität braucht eine Regierung oder irgendeine andere autoritäre Instanz, zu der man das Vertrauen haben kann, dass sie die richtige Frage richtig stellen und die große Macht, die in der Fragestellung liegt, nicht missbrauchen werde. (...) Darum bedarf es klarer Bewusstheit der grundlegenden konstruktiven Zusammenhänge, die eine Verfassung von irgendwelchen Produkten des parteipolitischen Gesetzgebungsbetriebes unterscheiden. Vor allem muss die erste und wichtigste Frage deutlich herausgestellt werden, vor welcher heute jeder ernsthafte Plan einer Neugestaltung des deutschen Verfassungswesens steht. Sie betrifft die grundlegende Alternative: Anerkennung substanzhafter Inhalte und Kräfte des deutschen Volkes oder Beibehaltung und Weiterführung der funktionalistischen Wertneutralität mit der Fiktion gleicher Chance für unterschiedlos alle Inhalte, Ziele und Strömungen. Eine Verfassung, die es nicht wagen würde, sich hier zu entscheiden, sondern statt einer substanzhaften Ordnung den kämpfenden Klassen, Richtungen und Zielsetzungen die Illusion geben wollte, dass sie legal auf ihre Rechnung kommen, alle ihr Parteiziel legal erreichen und alle ihren Gegner legal vernichten können, ist heute nicht einmal mehr als ein dilatorischer Formelkompromiss möglich und würde im praktischen Ergebnis auch ihre eigene Legalität und Legitimität zerstören“ (ebd., S. 92-98).

Drittens legitimiert nach Schmitt eine existenzielle Krise des Gemeinwesens auch die Aussetzung der bestehenden Rechts- und Verfassungsordnung durch den Souverän, im Kontext der plebiszitären Vorstellung von (Volks-) Souveränität also das Volk bzw. seinen Vertreter und Fürsprecher. Denn, so Schmitts berühmtes Diktum, „souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. (...) Dazu gehört (...) eine prinzipiell unbegrenzte Befugnis, das heißt die Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung. Ist dieser Zustand eingetreten, so ist klar, dass der Staat bestehen bleibt, während das Recht zurücktritt. Weil der Ausnahmezustand immer noch etwas anderes ist als eine Anarchie und ein Chaos, besteht im juristischen Sinne immer noch eine Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung. Die Existenz des Staates bewährt hier eine zweifellose Überlegenheit über die Geltung der Rechtsnorm. Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut. Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft eines Selbsterhaltungsrechtes, wie man sagt“ (Schmitt, Politische Theologie, S. 11-19).

Schmitt verdeutlicht den quasi metaphysischen Charakter des Ausnahmezustands als Ausdruck von Souveränität, indem er die Entwicklung des Souveränitätsbegriffs in Parallelität zu theologischen Perspektiven des Verhältnisses von Mensch und Gott betrachtet: „Der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie“ (ebd., S. 49). Die Verbindungen zum quasi-messianischen Selbst- und Fremdbild Trumps (bei seinen Anhängern) sind offensichtlich: Wenn die Werte-, Vertrauens- und Gerechtigkeitskrise der von illegitimen Eliten beherrschten und von deren Tyrannei zu befreienden US-amerikanischen Politik und Gesellschaft tatsächlich so massive Ausmaße angenommen hat, wie es die Trump hörigen (bzw. ihn als nützliches Instrument für die eigene Agenda des „Projekts 2025“ sehenden) Teile der Republikaner offenbar wahrnehmen, dann ist gemäß Punkt 2 die Überwindung der dysfunktionalen US-Verfassung herkömmlicher Lesart auf der Basis des Volkswillens legitim, auch wenn damit etablierte Aspekte von Legalität aufgehoben werden. Hat die Krise gar existenzielle Ausmaße für das Weiterbestehen der Vereinigten Staaten - wie sie von den betreffenden Kreisen analog zu Verschwörungstheoretikern oder linksintellektuellen Antisemiten unter sozial induzierter Ignorierung von Fakten imaginiert werden - angenommen, dann ist auch eine völlige Außerkraftsetzung von Verfassungsmechanismen und -rechten auf eben der Basis des souveränen Volkswillens durch denjenigen, der diesen Willen angeblich repräsentiert und artikuliert, legitim. Dies gilt ungeachtet rechtlicher Bedenken, welche aufgrund des Ausnahmezustands sowieso nicht mehr relevant sein können. In diesem Sinne ist Trump dann wahlweise ein (autistischer und narzistischer) Superheld, Erlöser oder „Punisher“, der die USA vor zerstörerischen Mächten von innen und außen rettet und dafür nicht an Recht und Gesetz gebunden (und damit in seiner Mission eingeschränkt) werden darf.

Diese Wege des Räsonnierens über die Immunität des US-Präsidenten (insbesondere in Gestalt Donald Trumps) sind offenbar typisch für die chauvinistisch-plebiszitäre Begründung der Machtposition von Führerpersonen im Faschismus oder gar die ersatzreligiösen Erlösungsattribute des Nationalsozialismus. Entsprechend nimmt es nicht wunder, wenn die Entscheidung des US Supreme Court in gewisser Weise fatal an Carl Schmitts Verteidigung des Agierens Adolf Hitlers im Zusammenhang mit dem „Röhm-Putsch“ von 1934 erinnert, wonach alle „Erfahrungen und Warnungen der Geschichte des deutschen Unglücks (...) in ihm lebendig [sind]. Die meisten fürchten sich vor der Härte solcher Warnungen und flüchten lieber in eine ausweichende und ausgleichende Oberflächlichkeit. Der Führer aber macht Ernst mit den Lehren der deutschen Geschichte. Das gibt ihm das Recht und die Kraft, einen neuen Staat und eine neue Ordnung zu begründen. (...) Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Missbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft (...). Der wahre Führer ist immer auch Richter. Aus dem Führertum fließt das Richtertum. Wer beides voneinander trennen oder gar entgegensetzen will, macht den Richter entweder zum Gegenführer oder zum Werkzeug eines Gegenführers und sucht den Staat mit Hilfe der Justiz aus den Angeln zu heben. (...) In Wahrheit war die Tat des Führers echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern war selbst höchste Justiz. (...) Wir dürfen uns nicht blindlings an die juristischen Begriffe, Argumente und Präjudizien halten, die ein altes und krankes Zeitalter hervorgebracht hat“ (Schmitt, Der Führer schützt das Recht, S. 946-948). Mit anderen Worten: Um Recht, Staat und Volk entschlossen und effektiv schützen zu können, muss die höchste Schutzmacht selbst über dem Recht stehen, und die erfolgreiche Schutzfunktion legitimiert dies in fundamentaler, quasi vorkonstitutioneller Weise. Dieses Hobbessche Argument entspricht ganz offensichtlich demjenigen des Supreme Court, wenn er - unter tatsächlicher Vernachlässigung seiner Betonung der Gewaltenteilung - die angebliche Absicht der US-Verfassungsväter betont "'(...) to encourage energetic, vigorous, decisive, and speedy execution of the laws by placing in the hands of a single, constitutionally indispensable, individual the ultimate authority that, in respect to the other branches, the Constitution divides among many.'"  

Die Vereinigten Staaten wurden bekanntlich als Gegenmodell zum als tyrannisch empfundenen europäischen Konzept der absolutistischen Monarchie und Ständegesellschaft gegründet. Das verstärkte Aufkommen rechtspopulistischer und bigott-evangelikaler Gruppierungen, der Aufstieg des faschistoiden Trumpismus und die Relativierung des Rechtsstaates durch das politisierte höchste US-Gericht zeigen, wie stark die USA mittlerweile dabei sind, sich massiv den politischen Erfahrungen und Phänomenen Europas anzunähern. Nach der SCOTUS-Entscheidung bleibt wohl die einzige realistische Möglichkeit, das Abgleiten der USA in den Autoritarismus zu verhindern, ein entschlossenes Machtwort des Souveräns – indem die US-Amerikaner sich bei der Wahl gegen die Republikaner entscheiden. 

   

Literatur/Links

Scheuerman, William E. (2019): Donald Trump meets Carl Schmitt. Philosophy and Social Criticism 45 (9-10): 1170-1185, https://edisciplinas.usp.br/pluginfile.php/7679178/mod_resource/content/1/Donald%20Trump%20meets%20Carl%20Schmitt%20%28Philosophy%20%20Social%20Criticism%2C%20vol.%2045%2C%20issue%209-10%29%20%282019%29.pdf.

Schmitt, Carl (1934): Der Führer schützt das Recht. Zur Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 13. Juli 1934. Deutsche Juristen-Zeitung 39 (15): 945-950, https://www.flechsig.biz/DJZ34_CS.pdf .

Schmitt, Carl (2012): Legalität und Legitimität. Berlin: Duncker & Humblot (8. Aufl.).

Schmitt, Carl (2015): Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. Berlin: Duncker & Humblot (9. Aufl.).

Schmitt, Carl (2021): Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin: Duncker & Humblot (11. Aufl.).