Europe, pull up your big boy pants!
Von den Zolldrohungen Donald Trumps über die Rede von J.D. Vance auf der Münchener Sicherheitskonferenz und die Ukraine-Verhandlungen zwischen den USA und Russland ohne Mitwirkung der Europäer bis hin zum jüngsten inszenierten Eklat mit Präsident Selenski im Weißen Haus hat der Februar 2025 gezeigt, dass das Engagement der Vereinigten Staaten in Europa und ihre Rolle als Garant einer regelbasierten Liberalen Weltordnung („liberal international order“/LIO) nun endgültig passé sind. Mit anderen Worten: Auch der Artikel 5 des NATO-Vertrages ist damit faktisch tot, weil offenkundig geworden ist, dass ein etwaiger militärischer Beistand der USA im Fall eines Angriffes auf ein Bündnismitglied völlig unsicher, mithin für ein strategisches Kalkül europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik irrelevant ist.
Die Machthaber im Weißen Haus folgen offenbar einem außenpolitischen Konzept, welches davon ausgeht, dass man sich das, was man haben will, entweder kauft, anderen abpresst oder im Zweifel einfach mit Gewalt nimmt. Dieser transaktionale sowie rein macht- und publicityorientierte Ansatz der Außenpolitik ohne tatsächlich durchdachten Plan konterkariert nicht nur alle Gepflogenheiten traditioneller Diplomatie, basiert auf einer grandiosen Selbstüberschätzung und ist sachlich ausgesprochen kurzsichtig und für die längerfristigen US-Interessen kontraproduktiv, sondern richtet sich vornehmlich an das heimische Publikum, wird also von innenpolitischen und keineswegs außenpolitisch-strategischen Interessen dominiert. Zentrale Nutznießer sind zweifellos Russland und auch China, nachdem auch die Unterstützung Taiwans im Falle einer chinesischen Aggression ungewiss ist.
Dies ist nicht nur ein Tatbestand, welcher auf das fundamentale strukturelle Problem der NATO seit ihrer Gründung verweist und nun, da die Büchse der Pandora des explizit begründeten Zweifels an den USA geöffnet ist, auch durch einen etwaigen Regierungswechsel in den USA 2029 nicht wieder rückgängig gemacht werden kann. Es ist auch ein Tatbestand, der unterstreicht, dass eine ganze Generation politischer Entscheidungsträger und der sie wählenden Bürgerinnen und Bürger in Europa auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik vollkommen und kläglich versagt hat, indem sie sich nach 1990 darauf verließen, dass, komme was da wolle, die Vereinigten Staaten stets die Sicherheit Europas gewährleisten würden und man selbst entsprechend die „Friedensdividende“ des Endes des (ersten) Kalten Krieges genießen könne.
Die Konsequenz dieser quasi-rheinischen Grundhaltung in der Außenpolitik, „Et hätt noch emmer joot jejange.“, welche nicht zuletzt auch zur weitverbreiteten „Überraschung“ der mittlerweile bereits wieder versandeten „Zeitenwende“ von 2022 geführt hat, sehen wir nun: Ohne die Unterstützung der USA, welche in der LIO im Unterschied zu den Europäern immerhin den Aspekt der „hard power“ und die Einsicht, dass nicht jeder Akteur in der Welt ein Anhänger einer regelbasierten Außenpolitik ist, nicht vergessen haben, stehen die europäischen Staaten der russischen Bedrohung extrem schwach gegenüber und dürften massive Schwierigkeiten haben, ihrer vollmundig geäußerten Solidarität mit der Ukraine tatsächlich weiterhin ausreichend Taten folgen zu lassen.
Es mutet geradezu grotesk an, dass etwa die Europäische Union mit einer gegenüber Russland über dreimal so großen Bevölkerung (449 Mio. vs. 143 Mio.) und einer achtmal so großen Wirtschaftsleistung (EUR 17 Bio. vs. EUR 2 Bio.) nun ängstlich einem aggressiven Regime gegenübersteht, welches die Anwendung militärischer Gewalt und die Umstellung auf Kriegswirtschaft und Hochrüstung quasi zu seinem Markenzeichen gemacht hat. Schon das gemeinsame Potenzial Deutschlands und Frankreichs (Bevölkerung: 151 Mio., BIP: EUR 7,5 Bio.) müsste eigentlich problemlos ausreichen, Russland rüstungswirtschaftlich und konventionell militärisch die Stirn zu bieten – im Kalten Krieg der 1980er Jahre verfügte allein die Bundesrepublik über aktive Streitkräfte von rund 500.000 Mann mit 7.000 Panzern aller Art, 1.000 Kampfflugzeugen und einer Mobilmachungsstärke von 1,3 Mio. Mann. Im Jahr 2024 gaben die EU-Staaten insgesamt 326 Mrd. Euro für Verteidigung aus, was etwa einer Verdoppelung gegenüber 2015 entspricht, weisen aber noch immer deutliche Defizite insbesondere bei der Zahl der verfügbaren Kräfte, bei der Luftabwehr, bei der Logistik und bei der Aufklärung inklusive der weltraumgestützten Dienste auf.
Was bedeutet dies alles für die nähere Zukunft und insbesondere für die Herausforderungen, denen sich die neue Bundesregierung zu stellen hat?
Erstens gilt nicht nur, dass „Europa allein zuhause“ ist, sondern dass es sich vielmehr in einer Situation befindet, in der es von den Machtinteressen Russlands, Chinas und nun auch der USA zerrissen und dominiert zu werden droht.
Zweitens stehen die Europäer und damit die deutsche Politik vor der Wahl, sich in dieses Schicksal zu fügen und sich auf der Basis einer nationalstaatlichen Spaltung des Kontinents unter die Führung einer der Großmächte zu begeben, oder ihr Schicksal endlich, endlich in die eigene Hand zu nehmen und selbst im europäischen Verbund eine eigene Großmachtpolitik auf Augenhöhe mit den genannten zu betreiben. Wählt man den ersten Weg, wie es in Bezug auf Russland wohl den außenpolitischen Vorstellungen der AfD und des BSW entspricht, befände man sich ironischerweise über kurz oder lang in einer Situation, wie sie die europäischen imperialen Mächte im 19. Jahrhundert China mit den „ungleichen Verträgen“ aufoktroyierten.
Wählt man drittens den zweiten Weg, so ist klar, dass dies ungeheure Anstrengungen materiell-finanzieller und nicht zuletzt politisch-psychologischer Art erfordert, von einer Veränderung der Perzeption der internationalen und europäischen Umwelt über eine Reform der außen- und sicherheitspolitisch relevanten Institutionen bis hin zu massiven Investitionen in die nationale und europäische Sicherheit. Nachdem es dabei nicht mit einer Aufrüstung der Bundeswehr (inklusive der fälligen Diskussion um die Wehrpflicht) getan ist, nachdem die Stärkung der Resilienz gegenüber hybrider Kriegführung auch die kritische Infrastruktur, den Zivilschutz, die Cyberabwehr, den Kampf gegen Desinformation bis hin zur Frage nach einer Neudefinition von Verfassungsfeindlichkeit, Sabotage, Landesverrat u.ä. nach §§ 88 ff. StGB beinhaltet. Was jenseits ideologischer und sonderinteressengeleiteter Kleingeisterei ebenfalls deutlich werden muss, ist, dass die allfällige umfassende gesellschaftliche Anstrengung mit der Schuldenbremse des Grundgesetzes nicht zu stemmen sein wird, selbst wenn eine neue Konstruktion mit „Sondervermögen“ angestrebt wird, und dass alle weiteren, völlig legitimen Anliegen etwa in Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich hinter der Gewährleistung von Sicherheit und strategischer Autonomie hintanstehen müssen, wenn letztere im Sinne einer Verteidigung politischer Freiheit und Selbstbestimmung realisiert werden sollen. Verstärkt wird der Zeitdruck nicht zuletzt dadurch, dass sich auch hinsichtlich der aus nuklearstrategischer Perspektive unabdingbaren Zusammenarbeit mit Frankreich das verbleibende Zeitfenster für eine Stärkung der gemeinsamen europäischen Verteidigung relativ schnell zu schließen droht, nachdem sich die für die Präsidentschaftswahlen 2027 aussichtsreiche Kandidatin des Front National, Marine Le Pen, strikt gegen eine solche Europäisierung nationaler Politik wendet.
Viertens erscheint angesichts der Unzuverlässigkeit auch von EU-Mitgliedsstaaten wie etwa Ungarn eine sicherheitspolitische Neugründung der autonomiewilligen Europäer notwendig, welche zugleich ein demonstratives Signal an Feinde wie (ehemalige) Partner sein würde, dass Europa sich seiner Lage endlich bewusst geworden ist und gemäß dieser Einsicht bestrebt ist, die seit langem von französischer Seite geforderte Vision eines „Europe puissance“ nun tatsächlich zu realisieren. Einen solcher symbolischer Akt könnte etwa die Wiederbelebung des Bündnisvertrages der Westeuropäischen Union von 1954 (unter Einschluss Großbritanniens) mit seiner klaren militärischen Beistandspflicht des Art. 5 WEUV („Sollte einer der Hohen Vertragschließenden Teile das Ziel eines Angriffs in Europa werden, so werden ihm die anderen Hohen Vertragschließenden Teile im Einklang mit den Bestimmungen des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen alle in ihrer Macht stehende militärische und sonstige Hilfe und Unterstützung leisten.“) sein, der 2009/11 formal in der Europäischen Union mit dem Art. 42 (7) EUV aufgegangen ist, allerdings weder formal noch im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger nie den gleichen Allianzcharakter entwickelt hat wie das ursprüngliche Bündnis.
Es liegt also an den Europäern und ihren Regierungen, sich trotz aller innenpolitischen und sozioökonomischen Widrigkeiten auf eine Phase harter (und teurer) Entscheidungen einzustellen, um das wettzumachen, was über mindestens drei Jahrzehnte in der Sicherheitspolitik praktisch verschlafen wurde. In dieser Situation trifft es sich gut, dass vor wenigen Tagen das Institut für Weltwirtschaft in Kiel eine historisch-empirische Studie vorgelegt hat, die zu dem Schluss kommt, dass, um „ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen, (...) Deutschland und Europa Schulden aufnehmen und das Gebot eines ausgeglichenen Haushalts nachrangig behandeln“ sollten. Oder, wie es der englische Politik-Youtuber Phil Moorehouse unlängst formuliert hat: „Europe should pull up its big boy pants with defence”.
Literatur/Link
Marzian, Johannes/Trebesch, Christoph (2025): Europas Verteidigung finanzieren: Was lehrt uns die Geschichte? Kiel Policy Brief Nr. 184, Februar 2025, Kiel: Institut für Weltwirtschaft, https://www.ifw-kiel.de/fileadmin/Dateiverwaltung/IfW-Publications/fis-import/f21d6245-cbb5-4a17-b6aa-bc70aaf2d2c9-Policy_brief_184_de_.pdf.