Israel geht aus Ganze
Mit der Tötung des Hisbollah-Chefs Hassan Nasrallah durch einen Luftschlag in Beirut im Rahmen der IDF-Operation mit dem quasi programmatischen Namen „New Order“ hat die israelische Auseinandersetzung mit der Terror-Miliz im Libanon nach Meinung vieler eine neue Qualität erreicht, welche das Risiko eines Flächenbrandes im Nahen Osten nach sich zieht. Warum aber geht Israel gerade jetzt und in dieser Form gegen die Hisbollah vor? Fünf Gründe dürften im strategischen Kalkül der israelischen Führung dafür ausschlaggebend:
1. Der Krieg in Gaza hat sich festgefahren. Nach fast einem Jahr Krieg sind kaum noch weitreichende Fortschritte der IDF zu verzeichnen, und die Kampfhandlungen haben sich weitgehend auf das tägliche Kleinklein der Counterinsurgency verringert. Zwar ist das Kalkül der Hamas zweifellos nicht aufgegangen: Weder hat sich die israelische Armee im Straßen- und Häuserkampf verblutet noch ist es zu einem Massenaufstand gegen die Besatzung im Westjordanland oder einem allgemeinen Krieg der islamischen Welt gegen Israel gekommen. Stattdessen hat die Hamas den größten Teil ihrer militärischen Infrastruktur, ihrer Ausrüstung und ihres besten Personals verloren, ganz zu schweigen von ihrer Legitimation, im Gazastreifen weiter die politische Herrschaft auszuüben. Auf der anderen Seite hat auch Israel sein Ziel der Vernichtung der Hamas und ihrer Vertreibung aus Gaza erreicht. Auch die restlichen Geiseln konnten nicht befreit werden; eine Verhandlungslösung scheint kaum möglich angesichts der Weigerung der israelischen Führung, die Hamas zukünftig als politische Kraft in Gaza zu akzeptieren und der Rolle der Geisel als letztes verbliebenes Faustpfand für die Hamas. Mit einer Ausschaltung oder zumindest Schwächung der Hisbollah würde Israel schließlich den letzten Strohhalm eines irgendwie gearteten Erfolges für die Hamas beseitigen. Zusammen mit dem internationalen Druck, die humanitäre Lage in Gaza durch eine Beendigung der Kämpfe zu verbessern und den bereits andauernden Gefechten an der Nordgrenze lag es entsprechend nahe, die frei werdenden Ressourcen für einen Angriff auf die Hisbollah zu nutzen.
2. Der Krieg gegen die Hisbollah ist derjenige, auf den sich die IDF seit ihrer ambivalenten Performance 2006 akribisch vorbereitet haben und bei der sie – ganz im Unterschied zur Invasion des Gazastreifens – durchaus selbstbewusst und siegessicher in den Kampf gehen. Die bisherigen eindrucksvollen Erfolge der Streitkräfte im Zusammenspiel mit den Geheimdiensten (inklusive der offenbar gelungenen Unterwanderung der Hisbollah) bei der umfassenden Ausschaltung der höheren und mittleren Führungsebene der Miliz sowie der Zerstörung von Hisbollah-Stellungen und -arsenalen spricht hier Bände. Auch die Sabotageaktion gegen die Pager und Walkie-Talkies als vorbereitender Schlag der Offensive zeugt von der detaillierten Planung und Organisation der IDF, selbst angesichts ihrer schwierigen völkerrechtlichen Beurteilung als möglicher Verstoß gegen das Verbots des Ensatzes von Sprengfallen und von Heimtücke bzw. gegen das Prinzip der ständigen Unterscheidung des humanitären Völkerrechts, und eines möglicherweise gegebenen Zeitdrucks aus vermuteter Planung eines großen Hisbollah-Angriffs nach dem Muster des 7. Oktober oder drohender Entdeckung des israelischen Komplotts. In diesem Sinne ist die Offensive der Krieg, auf den die Israelis lange gewartet haben und den zu führen sie nun die Gelegenheit nutzen.
3. Die israelische Führung, notabene Premierminister Netanyahu, sieht sich unter massivem innenpolitischen Erfolgsdruck. Nicht nur gibt es etwa seit Monaten Massenproteste der Angehörigen der Geiseln und ihrer Unterstützung; auch die Regierungskoalition ist extrem brüchig. So konnte Netanyahu bislang seinen ungeliebten Verteidigungsminister Yoav Galant (der sich 2022/23 etwa gegen die umstrittene Justizreform gewandt und nach seiner kurzzeitigen Entlassung aufgrund von Protesten aus den Reihen der Opposition, des Likud, der Zivilgesellschaft und von Experten wieder eingesetzt werden musste) nicht austauschen, nachdem sich ein Deal mit dem Vorsitzenden der bisherigen Oppositionspartei „Neue Hoffnung“, Gideon Sa’ar, zunächst nicht materialisiert hatte. Noch stärker ist jedoch der Druck der extremen Recht in der Regierung, vor allem von Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvirs „Otzma Jehudit“, welche jeden Kompromiss mit den Palästinensern und eine Waffenstillstand mit der Hamas und der Hisbollah ablehnt. Nicht zuletzt dieser Widerstand von rechts hat offenbar auch die maßgeblich von den USA und Frankreich initiierten Verhandlungen um einen Waffenstillstand an der Nordfront torpediert, da Ben-Gvir mit einem Bruch der Koalition drohte, sollte nicht die sichere Rückkehr der rund 70.000 aus dem Grenzgebiet zum Libanon evakuierten Israelis (militärisch) gewährleistet werden. Netanyahu konnte also gar nicht anders, als eine militärische Eskalation gegenüber der Hisbollah zu wagen, wollte er nicht seine Regierung und damit auch seine politische Karriere (und angesichts einer Reihe von Anklagen wegen Korruption auch persönliche Zukunft) aufs Spiel setzen.
4. Das internationale Umfeld erschien verhältnismäßig günstig. Angesichts der Endphase des engen US-amerikanischen Wahlkampfes war von Seiten der Vereinigten Staaten, dem einzigen Akteur, der über seine Rüstungslieferungen noch halbwegs Einfluss auf die israelische Regierung hat, wenn überhaupt nur verhaltener Widerstand zu erwarten. Dies ergibt sich nicht zuletzt deswegen, weil insbesondere die Demokraten in der Positionierung zum Nahost-Konflikt einen vorsichtigen Mittelweg verfolgen müssen, um möglichst weder proisraelische noch propalästinensische Wählerinnen und Wähler zu verprellen. Erste Reaktionen aus Washington verzichteten entsprechend auf eine Verurteilung der israelischen Aktion gegen Nasrallah. Auch die Drohung eines Eingreifens des Iran, welche nun als nächster Eskalationsschritt befürchtet wird, erschien offenbar wenig glaubhaft, angesichts der bis dato ausgebliebenen militärischen Reaktion auf die Ausschaltung Ismail Hanijas in Teheran Anfang August. Nicht zuletzt dürfte auch Irans zentraler Verbündeter Russland, welches natürlich das israelische Vorgehen ebenfalls lautstark verurteilt hat, angesichts des wachsenden eigenen Bedarfs an Waffenlieferungen aus dem Iran für den Ukrainekrieg kaum ein Interesse daran haben, dass das iranische Militärpotenzial und seine Rüstungskapazitäten in einem Nahost-Krieg massiv in Mitleidenschaft gezogen werden.
5. Wie Netanyahu in seiner – von vielen Staaten des Globalen Südens boykottierte – Rede vor der UN-Vollversammlung nachdrücklich unterstrichen hat, sieht sich Israel im Kampf um seine schiere Existenz und ist entsprechend entschlossen, sich mit allen Mitteln gegen seine Feinde zu wehren. Geht man mit Carl von Clausewitz davon aus, dass der Krieg ein Ringen zweier Willen ist, dann erscheint die Position Israels unter diesem Aspekt tatsächlich stärker zu sein als diejenige seiner Gegner (vielleicht mit Ausnahme der Hamas). Auch wenn Präsident Erdogan mit seinen unsinnigen Auslassungen das Gegenteil behauptet, kann es offenbar nicht das Ziel Israels sein, den Iran noch etwa den Libanon zu vernichten; zumindest die Rhetorik seiner Gegner lässt dies umgekehrt nicht vermuten. Neben der impliziten Drohung, dass Israel im Fall der Fälle auf alle Mittel zurückgreifen wird, die ihm zu Gebote stehen – und damit der durchaus sehr problematischen Anreizwirkung für den Iran, sein Atomprogramm voranzutreiben -, ist der Versuch einer militärischen „Lösung“ der Bedrohungslage auch Teil der etablierten israelischen Strategie der kumulativen Abschreckung, welche im Zweifel mit immer stärkeren militärischen Mitteln aufrechterhalten oder wiederhergestellt werden muss. Ein nicht näher genannter höherrangiger israelischer Beamter hat diese Haltung unlängst folgendermaßen zusammengefasst: „What Hezbollah hasn't understood through force, it will understand through more force.“
Ob nun tatsächlich eine Eskalation zu einem großen Krieg zwischen Israel und dem Iran droht, bleibt abzuwarten. Interessanterweise scheint in Teheran noch Unschlüssigkeit über eine angemessene Reaktion zu herrschen. Nicht umsonst bestand die erste Reaktion von Seiten der iranischen Regierung zwar in einer zu erwartenden harschen Verurteilung des israelischen Vorgehens, doch man beschränkte sich zunächst auf einen allgemeinen Aufruf zum Widerstand aller Muslime gegen Israel und die Ankündigung, die Verbündeten Irans (nicht der Iran selbst!) würden den Kampf weiterführen. Auch die Anrufung des Weltsicherheitsrates durch den Iran deutet nicht darauf hin, dass man in Teheran einen starken Wunsch nach einem Krieg mit Israel verspürt. (Ironischerweise verweist man in Israel auf den Bruch der Resolution 1701 von 2006 durch die Hisbollah, nach der sich die Miliz aus dem Gebiet südlich des Litani hätte zurückziehen müssen.)
Zusammen mit der Ankündigung Netanyahus, jeder im Nahen Osten, also einschließlich der iranischen Führung sei in Reichweite der Israelis – anscheinend wurde der Oberste Führer Khamenei prompt an einen sicheren Ort evakuiert , wohl auch aus Sorge vor einer Unterwanderung des iranischen Sicherheitsapparats – und der sofortigen Entsendung der Flugzeugträgergruppe (CSG) um die USS Harry S. Truman ins östliche Mittelmeer (die USS Gerald R. Ford CSG und die USS Dwight D. Eisenhower CSG wurde im Sommer abgezogen) und der Verweis auf die weitere Präsenz der USS Abraham Lincoln im Arabischen Meer reichen die militärischen Drohungen möglicherweise aus, eine direkte Intervention des Iran abzuschrecken.
Entscheidend dafür dürfte sein, wie schnell und wie erfolgreich eine potenzielle israelische Bodenoffensive südlich des Litani-Flusses stattfinden kann und wie schnell dann Waffenstillstandsverhandlungen auf der Basis eines „Sieges“ der IDF erfolgen. Sollte sich die Hisbollah schneller erholen als im Augenblick erwartet oder die iranische Führung zur Gesichtswahrung doch noch direkt zu den Waffen greifen, droht gleichwohl noch immer eine große Eskalation, wenngleich ihre Wahrscheinlichkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt eher gering erscheint. Die nächsten Tage und Wochen werden zeigen, ob die israelische Führung mit ihrer Entscheidung, auf einen militärischen Sieg zu setzen, Erfolg hat, oder ob Bundesaußenministerin Annalena Baerbok mit ihrer impliziten Kritik richtig liegt hat, wenn sie sagt: „Die Militärlogik, das ist die eine, mit Blick auf die Zerstörung von Hisbollah-Terroristen. Aber die Sicherheitslogik ist eine andere.“ Und was die Zukunft der durchaus fragilen Staatlichkeit des Libanon angeht, so ist diese wohl unsicherer denn je.