Kriegswende in der Ukraine oder Weg zum Patt?

Die überraschenden Angriffserfolge der ukrainischen Armee im Raum Charkiw haben bereits dazu geführt, dass manche Beobachter in den westlichen Medien bereits von einer „Kriegswende“ zuungunsten Russlands sprechen. In der Tat ist das Ausmaß des ukrainischen Vorstoßes im Osten der Ukraine beeindruckend, insbesondere dann, wenn man es mit dem Kriegsgeschehen der letzten Monate vergleicht, welches eher an die Statik der Westfront des Ersten Weltkriegs erinnerte, in dem Erfolge in Größenordnungen weniger hundert Meter eroberten Geländes oder der Besetzung einzelner Dörfer unter massivem Artillerieeinsatz gemessen wurden. Demgegenüber sind die ukrainischen Verbände südlich von Charkiw nach Angaben des Institute for the Study of War vom 10. September in nur fünf Tagen bis zu 70 Kilometer weit vorangekommen, und die russischen Truppen in der Region ziehen sich desorganisiert bis fluchtartig zurück. Selbst das russische Verteidigungsministerium hat die Aufgabe Iziums und Balaklijas im Rahmen einer „Umgruppierung“ zugegeben und bezieht sich dabei auf die „Ziele des militärischen Sondereinsatzes zur Befreiung des Donbas“. 

Ist das nun tatsächlich die Wende des Krieges, an deren Ende die demütigende Vertreibung der russischen Streitkräfte aus der Ukraine stehen wird? Tatsächlich erscheinen die Vorzeichen für die ukrainische Seite augenblicklich durchaus nicht ungünstig: Der zumindest temporäre faktische Kollaps der offenbar nur dünn besetzten russischen Front bei Charkiw zeigt zum einen, wie personell schwach aufgestellt die russische Armee ist, welche nicht in der Lage ist, gegen die stärker gewordenen Ukrainer gleichzeitig den Donbas zu erobern, dies mit Offensiven im Osten (Charkiw) und Süden (Cherson) zu unterstützen und die eroberten Gebiete vor allem im Süden zu halten. Zum anderen sind Organisation und Führung der Russen noch immer stark defizitär, was wenig wundert, wenn man sich vor Augen führt, dass die russischen Streitkräfte in der Ukraine mittlerweile ein zusammengewürfeltes Konglomerat aus regulären Einheiten, Freiwilligenbataillonen, Söldnern und eher milizartigen Verbänden der selbstdeklarierten Republiken Luhansk und Donezk sind. Dass Söldner, etwa der Wagner-Gruppe, oder unter mehr oder weniger dubiosen Umständen rekrutierte „Freiwillige“ zudem wenig Lust verspüren dürften, ihre Haut in der Defensive gegen einen entschlossenen Feind zu Markte zu tragen, erschwert die russische Lage zusätzlich. 

Schließlich zeigt der Überraschungscoup der Ukraine auch, wie wenig effektiv die russische Feindaufklärung ist, während sich die ukrainische Seite auf Informationen auch von Bürgern in den besetzten Gebieten sowie von westlicher Seite stützen kann. Letztere hat sicherlich auch waffentechnisch einen wichtigen Anteil an den ukrainischen Erfolgen, sei es durch die gelieferte weitreichende Artillerie, sei es durch die Luftabwehrsysteme, welche offenbar einen effektiven Einsatz der überlegenen russischen Luftwaffe verhindern. (Letztere mag auch dadurch beeinträchtigt sein, dass ein Großteil der Kampfflugzeuge wahrscheinlich in Reserve gehalten wird, um eine etwaige befürchtete Intervention der NATO-Luftstreitkräfte zu bekämpfen oder abzuschrecken.) 

Entsprechend könnte man die Verlautbarung des russischen Verteidigungsministeriums optimistisch dahingehend interpretieren, dass sich die russische Führung zunehmend ihrer schwierigen militärischen (und ökonomischen) Lage bewusst wird und durch eine Beschränkung ihrer Kriegsziele auf das Minimum der „Befreiung“ des Donbas bereits nach einem gesichtswahrenden Ausweg aus dem Konflikt sucht. Dazu würde potenziell auch die gerade offiziell proklamierte Doktrin der „russischen Welt“ passen, welche Russland zur Schutzmacht aller Russen im Ausland erklärt – welche im Fall der Ukraine bekanntlich schwerpunktmäßig im Osten (und Süden) des Landes zu finden sind.

Auf der anderen Seite gibt es aber auch Grund zur Vorsicht gegenüber einer allzu euphorischen Bewertung der Kriegslage. Denn erstens ist der Erfolg der ukrainischen Gegenoffensive sicherlich auch stark dem Überraschungsmoment geschuldet, welches möglicherweise schwer zu replizieren ist. Die ukrainische Gegenoffensive gegen besser vorbereitete und verstärkte russische Truppen kommt trotz deren logistischer Probleme nur langsam voran, und im Donbas befinden sich die Russen noch immer im Angriff.  

Zweitens ist das Zeitfenster für weitere ukrainische Siege vor dem Einsetzen der üblichen Schlammperiode (ca. Mitte bis Ende Oktober) und dem Beginn des Winters deutlich begrenzt. Auch wenn Kampfhandlungen im Herbst und Winter nicht unmöglich sind, werden sie doch durch die zusätzlich massive Erschwerung der Versorgung der Truppen und der demoralisierenden Wetterbedingungen noch viel problematischer als bisher, zumal sie sich noch deutlicher auf die zentralen Verkehrswege konzentrieren dürften. Selbst wenn Russland in die strategische Defensive gerät, dürfte es also in wenigen Wochen eine mehrmonatige Erholungspause gewinnen, in der die eigenen Streitkräfte aufgefrischt und verstärkt werden könnten, um im Frühjahr nächsten Jahres zu neuen eigenen Offensivoperationen zu schreiten. 

Drittens sind aus einer stärker politischen Perspektive die jüngsten Territorialverluste der Russen in der Ukraine zwar vielleicht eine gewisse Peinlichkeit, aber für die Führung Russlands keineswegs katastrophal. Solange es gelingt, die personellen Verluste und ihr Bekanntwerden weitgehend von den soziopolitischen Zentren Moskau und St. Petersburg fernzuhalten und die (Des-) Informationshoheit im eigenen Land zu behaupten, sind die innenpolitischen Risiken für das Regime wohl auch überschaubar. Im Gegenteil, die Teilniederlagen der letzten Tage könnten sogar das Narrativ, dass die Invasion der Ukraine ein Präventivangriff gegen einen potenziellen Aggressor gewesen sei, sogar noch verstärken. – Denn wie sonst als auf der Basis einer heimlichen, vom Westen gesponserten Kriegsvorbereitung sollte die Ukraine in der Lage sein, die mächtige russische Armee (regional) zurückzuschlagen?

Viertens sollte man das ideologische Narrativ von der Besonderheit und der Unbesiegbarkeit Russlands nicht unterschätzen, welches nicht nur die Propaganda und Geschichtspolitik unter Putin, sondern möglicherweise auch die Weltwahrnehmung der russischen politischen Eliten prägt. Gemäß dieser Perspektive besteht die Überlegenheit Russlands insbesondere gegenüber dem als dekadent betrachteten Westen (vor allem den Westeuropäern) nicht nur in der Vertretung genuin „europäischer“, d.h. v.a. erzkonservativer Werte, sondern nicht zuletzt in der unübertroffenen Opferbereitschaft und Leidensfähigkeit der russischen Bevölkerung. Zieht man das immer wieder bemühte, heroisierte Beispiel des Großen Vaterländischen Krieges 1941 bis 1945 heran, so hat man einen Referenzpunkt, der die Weiterführung des Krieges trotz großer Verluste und massiver Rückschläge bis zum Sieg legitimiert: Schließlich stand auch die damalige Sowjetunion 1941 und 1942 am Rand des Zusammenbruchs; unter horrenden Opfern gelang es jedoch, die „faschistischen“ deutschen Aggressoren bis 1944 aus der UdSSR zu vertreiben und 1945 den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen. Folgt man diesem Argument der letztendlichen Unbesiegbarkeit Russlands, gibt es für die russische Führung keinen Grund, mit militärischen Rückschlägen gleich ein Scheitern der Gesamtoperation gegen die „Neonazis“ in Kiew zu verbinden, zumal man im Kreml noch immer die Hoffnung haben mag, dass ein kalter Winter mit auf Gasmangel zurückzuführenden Blackouts die westeuropäischen „Weichlinge“ doch noch zur Aufgabe der Unterstützung der Ukraine bewegen könnte. 

Fünftens bleibt nicht zuletzt aus der Sicht der Westeuropäer das weiterbestehende Restrisiko einer Eskalation. Aus der Sicht etwa der deutschen oder französischen Diplomatie muss der Krieg durch Verhandlungen nach einem militärischen Scheitern der russischen Expansionspläne beendet werden. Dies setzt neben einer russischen Niederlage und der diesbezüglichen Einsicht der russischen Führung auch voraus, dass die ukrainische Seite ob ihrer Erfolge nicht „übermütig“ wird und etwa zu stark russisches Territorium (inklusive der zumindest von Russland als eigenes Staatsgebiet betrachteten Krim) angreift. Denn eine totaler militärischer Kollaps oder ein Überschreiten der russischen Grenzen durch die Ukrainer könnte der russischen Regierung das bislang fehlende innenpolitische Argument an die Hand geben, die „militärische Spezialoperation“ doch noch zu einem echten „Krieg“ zu erklären und eine Generalmobilmachung auszurufen. Oder eine mit der Auflösung der eigenen Front konfrontierte militärische oder politische Führung könnte sich zur Verzweiflungstat eines Einsatzes nichtkonventioneller Waffen, etwa Chemiewaffen gegen die ukrainischen Nachschublinien, veranlasst sehen, um ein weiteres Vordringen des Gegners zu unterbinden – dem selbstverständlich im Rahmen gängiger Desinformation vorgeworfen würde, selbst solche Instrumente eingesetzt zu haben.

In beiden Fällen wäre das Ergebnis eine maßgebliche Eskalation des Krieges, welche zumindest dessen humanitären und ökonomischen Kosten massiv in die Höhe treiben würden – von der Frage der Sanktionen und Energielieferungen während des Winters ganz abgesehen. So zynisch es klingen mag, ist die Unterstützung der Ukraine für die Westeuropäer, welche nicht wie möglicherweise die Osteuropäer und US-Amerikaner davon ausgehen, dass Russland militärisch völlig geschlagen werden kann oder soll, ein Balanceakt: Die Ukraine soll sich natürlich gegen die Aggression behaupten und möglichst auch seit Februar verlorene Gebiete zurückerobern; dies darf aber nicht auf Kosten einer totalen Niederlage Russlands gehen, mit dem man sich früher oder später wieder arrangieren muss. Aus dieser Ambivalenz erklärt sich wohl auch die zögerliche Haltung der Bundesregierung im Hinblick auf die Lieferung weiteren schweren, „offensiven“ Geräts an die ukrainischen Streitkräfte, insbesondere von Kampfpanzern.      

Schließlich gibt es sechstens aber auch noch grundlegende materielle Aspekte, welche einen schnellen Sieg der Ukraine eher unwahrscheinlich machen und eher auf eine sich anbahnende strategische Pattsituation hindeuten. Beide Seiten haben einen deutlichen Mangel an Personal, insbesondere an ausgebildeter Infanterie und stützen sich zunehmend auf weniger leistungsfähige Milizen und Reservisten. Zudem sind die Materialverluste so hoch, dass bereits die Rede davon ist, dass im Herbst ein materieller „Gleichstand“ (auf niedrigem Niveau) herrschen könnte. So hat Russland neben Zehntausenden Soldaten bislang wohl rund 1.000 von Anfang 2022 verfügbaren geschätzt 2.700 einsatzfähigen Kampfpanzern verloren, welche aufgrund von mangelnden Ersatzteilen, Korruption und ausgebildeten Panzerbesatzungen nur zum Teil durch die Reaktivierung eingelagerter Bestände aus der Sowjetära ausgeglichen werden können. Die russische Neuproduktion von Kampfpanzern (auf dem technischen Stand der späten 1980er) beträgt gegenwärtig lediglich rund 100 Stück – im Jahr; und infolge mangelnder oder mangelhafter Produktionskapazitäten sowie westlicher Sanktionen sieht sich Russland offenbar gezwungen, Drohnen vom Iran und Artilleriegranaten von Nordkorea zu kaufen.

Dies bedeutet aber keineswegs, dass die Ukraine mittelfristig besser aufgestellt und damit auf der Siegerstraße ist. Denn unabhängig vom politischen Willen der westlichen Regierungen kommt auch die Lieferung schwerer Waffen – von denen auch die Ukraine mittlerweile viele verloren hat – an ihre rüstungswirtschaftliche Kapazitätsgrenze: Sobald die ex-sowjetischen Altbestände ehemaliger Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes und die vorhandenen Reserven der europäischen NATO-Staaten an die Ukraine abgegeben worden sind, kann der Westen nur noch das liefern, was neu produziert werden kann. Und hier sieht es, zumindest, was die europäische Industrie angeht, düster aus. Denn die Produktion von militärischem Großgerät ist heutzutage keine Frage der Massenproduktion mehr, sondern eher einer Kleinserienfertigung mit Manufakturcharakter, was an der technischen Komplexität der Systeme, der Vielzahl beteiligter Zulieferer und mangelnden Produktionskapazitäten (inklusive Fachpersonal) liegt. Insbesondere die europäische Rüstungsindustrie leidet zudem noch immer an Ineffizienzen, die auf nationale Alleingänge und Sonderwünsche zurückzuführen sind.

Das Bild eine Panzerproduktion nach dem Muster des Zweiten Weltkriegs – als etwa Deutschland allein in den Jahren 1942 bis 1944 monatlich durchschnittlich knapp 400 mittlere und schwere Kampfpanzer (PzKpfw IV, V und VI) produzierte - trifft heutzutage weder in qualitativer noch in quantitativer Hinsicht noch zu. So werden für die Herstellung eines Kampfpanzers vom Typ Leopard II in aktueller Ausführung durch die deutsche Industrie von Auftragsvergabe bis Auslieferung rund drei Jahre veranschlagt, für einen Schützenpanzer Puma zwei Jahre. Exemplarisch für die langen Lieferzeiten sind etwa die Beschaffung von 104 Leopard II-Panzern bei Krauss-Maffei Wegmann (KMW) durch die Bundeswehr, die im Mai 2017 mit dem Ziel vereinbart wurde, 2019 die ersten und 2023 die letzten Exemplare an das Heer auszuliefern, oder das Angebot von KMW an die ukrainische Regierung im April 2022, den ukrainischen Streitkräften 100 Kampfpanzer zu verkaufen, von denen die ersten (!) nach 36 Monaten geliefert werden sollten. Auch die geplanten Kapazitätserweiterungen der Industrie dürften an diesen Lieferzeiten kurz- und mittelfristig kaum etwas ändern, auch wenn eine veränderte Priorisierung von Aufträgen, etwa durch das Hintanstellen von Lieferverträgen mit dem außereuropäischen Ausland sicherlich eine gewisse Verkürzung im Beschaffungsprozess nach sich ziehen könnte. 

Dies wird auch etwa in der US-amerikanischen Diskussion um eine Beschleunigung der Lieferung von 250 Abrams-Panzern an Polen deutlich, welche als Ausgleich für rund 240 an die Ukraine Kampfpanzer sowjetischer Bauart im April 2022 bestellt wurden, aber geplant erst Ende 2024 oder Anfang 2025 geliefert werden können. Im Übrigen zeigt das Beispiel der einzigen Panzerproduktionsstätte in den USA, in Lima, Ohio, dass selbst in den Vereinigten Staaten die Produktionskapazitäten beschränkt sind: Während die reine Bauzeit für einen M1 A2-Kampfpanzer etwa fünf Monate beträgt, konnten 2019 monatlich nur acht davon fertiggestellt werden; geplante Kapazitätserweiterungen könnten diese Zahl seither auf etwa 34 erhöht haben.

Was folgt daraus für die weitere Versorgung der Ukraine mit schweren Waffen, die sie nicht selbst herstellen kann, was angesichts der Kriegsschäden und wirtschaftlichen Probleme der dortigen Industrie schwierig und zumindest unsicher erscheint und zudem nicht dem westlichen Technologiestand entspricht? Die Zahl der lieferbaren Systeme wird gegenüber derjenigen der letzten Monate notgedrungen zurückgehen müssen, selbst wenn die komplette Produktion an die Ukraine geht. Letzteres ist aber höchst unwahrscheinlich, da auch in den westlichen Streitkräften angesichts der Erfahrungen dort mittlerweile das Bewusstsein groß sein dürfte, dass ein konventioneller Krieg gegenwärtig praktisch nur mit dem Material ausgefochten werden kann, welches von Anfang an zur Verfügung steht; eine schnelle Nachproduktion zum Ausgleich etwaiger Verluste erscheint praktisch unmöglich. Dies heißt aber nichts anderes als dass die Bereitschaft, eigenes Material an die Ukraine abzugeben, bevor nicht eine eigene gesicherte Ausstattung inklusive Reserven (wieder) hergestellt ist, bei den westlichen, vor allem europäischen Militärs, die nicht über die Ressourcen der U.S. Army verfügen, noch weiter abnehmen wird. Für die Bundeswehr etwa ist ja auch bereits festgestellt worden, dass das Ende der Abgabefähigkeit erreicht sei, so dass weitere, vom Bund finanzierte Lieferungen direkt von der Industrie kommen müssen. 

Im Endeffekt bedeutet dies, dass die Ukraine ähnlich wie Russland bald (wieder) mit einem gravierenden Mangel an schwerem Gerät konfrontiert sein dürfte. Beide Seiten sehen sich damit einer zunehmenden militärischen Mangelwirtschaft gegenüber, welche die Aussichten auf überwältigende, raumgreifende Erfolge und ein schnelles Ende des Krieges wohl weitgehend unrealistisch machen und den Abnutzungskrieg weiter verlängern dürften. – Es sei denn, eine drohende allgemeine Erschöpfung führt früher oder später zu echter beiderseitiger Verhandlungsbereitschaft.   

  

Literatur/Links:

Institute for the Study of War (2022): Ukraine Conflict Updates, https://www.understandingwar.org/backgrounder/ukraine-conflict-updates.

Stewart, Susan (2020): Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands. SWP-Studie 22, Berlin (Stiftung Wissenschaft und Politik), November 2020.