Reykjavik 2.0 oder: der "Demosthenes-Moment" Europas

Nun scheint es also doch so zu kommen, wie dies in den Hauptstädten Europas stets gefürchtet wurde: Donald Trumps Administration macht gleich zu Beginn seiner zweiten Präsidentschaft klar, dass sich das US-Engagement in Europa wohl grundlegend ändern wird. Nicht nur wird von den europäischen Bündnispartnern ein größerer Beitrag zum burden sharing in der NATO verlangt, vor allem in Form deutlich höherer Verteidigungsausgaben (was im Übrigen absolut nichts Neues ist und bereits während des Kalten Krieges und unmittelbar danach intensiv diskutiert wurde). Vielmehr will Trump offenbar direkt mit Präsident Putin über eine Beendigung des Ukraine-Krieges verhandeln, und anscheinend werden dafür auch massive Zugeständnisse von Seiten der Ukraine (Territorialverluste, keine NATO-Mitgliedschaft) ins Auge gefasst. Zwar hat die russische Seite eine Beteiligung der ukrainischen Führung an den Verhandlungen in Aussicht gestellt, doch die europäischen Verbündeten, die sich prompt zu einer Erklärung zur weiteren Unterstützung der Ukraine bemüßigt sahen, wurden und werden offenbar nur indirekt einbezogen, nämlich für die finanzielle und militärische Absicherung eines etwaigen „Deals“ zwischen Washington und Moskau. Zudem will Trump, wie er bereits mehrfach angedeutet hat, anscheinend mit Russland und China über eine nukleare Abrüstung verhandeln, um Verteidigungsausgaben einzusparen - natürlich auch ohne die Europäer.      

Historisch aufmerksamen Beobachtern wird dieses Szenario bekannt vorkommen: Nicht nur gab es seit den 1950er Jahren immer wieder Stimmen, welche die Dominanz der USA in der NATO und die sicherheitspolitische Abhängigkeit der europäischen Verbündeten von den Vereinigten Staaten und ihrem goodwill in Frage stellten, ganz prominent natürlich etwa Charles de Gaulle. Im Jahr 1986 gab es zudem den „Reykjavik-Schock“, als es kurzzeitig so aussah, als könnten sich US-Präsident Reagan und KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow darauf einigen, die strategischen Nukleararsenale inklusive der Mittelstreckenraketen beider Seiten massiv abzubauen oder gar völlig zu eliminieren, bis hin zur Vorstellung einer völligen Abschaffung von Atomwaffen. Die Verhandlungen scheiterten zwar schließlich am Festhalten der US-Seite am SDI-Projekt, aber für die Europäer, die angesichts der konventionellen Überlegenheit der Sowjetunion immer davon ausgegangen waren, dass Nuklearwaffen für eine effektive Abschreckung unabdingbar seinen, kamen sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel, wurden sie doch weder konsultiert noch gar an den Gesprächen beteiligt. Entsprechend wurde auch von der Bundesregierung die Gefahr gesehen, dass sich die Supermächte über die Köpfe der Europäer hinweg arrangieren und am Ende die strategischen Sicherheitsinteressen Europas (wie der USA) aufs Spiel gesetzt werden könnten. 

Geht man davon aus, dass mit Trump die bisherigen US-amerikanischen Sicherheitsgarantien der „extended deterrence“ für die europäischen NATO-Verbündeten nicht mehr gelten bzw. zumindest so unzuverlässig sind, dass man im Ernstfall nicht unbedingt darauf zählen kann, hat dies offensichtlich zur Folge, dass die Verteidigung Europas zukünftig faktisch allein die Sache der Europäer selbst sein wird. Man muss sich von Seiten der europäischen Staaten also auf das Alptraumszenario einstellen, vor dem bereits während des Kalten Krieges gewarnt wurde. Damit stehte die europäischen Staaten vor der fundamentalen Herausforderung, ihre Sicherheit mit immer weniger und schließlich ohne US-amerikanischer Unterstützung realisieren zu müssen. Im Anbetracht der gegenwärtigen russischen Bedrohung impliziert dies wohl vor allem drei drängende Diskussions- und Handlungserfordernisse, welche bislang im öffentlichen Diskurs nur sehr bedingt eine Rolle spielen und quasi eine Revolution in der strategischen Kultur Europas darstellen würden: 

(1) Die Europäische Union muss sich, gestützt auf die Verteidigungsklausel des Art. 42 (7) EUV und die GSVP, und im engen Verbund mit den bleibenden NATO-Partnern Großbritannien, Norwegen und Kanada endlich als echter sicherheits- und verteidigungspolitischer Akteur verstehen, der auch als Militärallianz und unabhängig von den USA allein handeln und Russland die Stirn bieten will und kann.   

(2) Dies impliziert eine schleunige und massive konventionelle Aufrüstung und Entwicklung einer effektiven, unabhängigen Verteidigungsdoktrin in engster Abstimmung der größeren europäischen Akteure Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien, Polen und Spanien, sowie umfangreiche und rapide Investitionen in die materielle und immaterielle (sozialpsychologisch-gesellschaftliche) Resilienz gegen die russische Hybridkriegführung. Vorbild hierfür könnte das „total defence“- oder "comprehensive defence"-Konzept der nordischen Staaten sein, das auch auf Deutschland und die ganze EU übertragen werden müsste.  

(3) Dringend zu klären ist schließlich die nukleare Frage. Wenn die USA nicht mehr als verlässlicher Sicherheitsgarant in diesem Bereich zur Verfügung stehen, sieht sich Europa der Gefahr einer nuklearen Erpressbarkeit durch Russland ausgesetzt, insbesondere durch die russischen taktischen/substrategischen Systeme, denen die europäischen Atommächte Frankreich und Großbritannien nichts entgegenzusetzen haben, welche aber zur Absicherung der Gewinne einer etwaigen russischen Aggression von höchster Bedeutung wären. Zusammen mit dem auch innerhalb Europas bestehenden Glaubwürdigkeitsproblem etwa einer „extended deterrence“ durch Frankreich führt dies zu bislang kaum vorstellbaren, gravierenden Szenarien etwa eines Ausbaus der aktuell luftgestützten französischen substrategischen Atomwaffen (bislang rund 50 Mittelstreckenraketen vom wiederholt modernisierten Typ ASMPA als Mittel der "letzten Warnung" gegenüber Aggressoren)  und deren Stationierung in Ost- und Mitteleuropa oder gar einer Nuklearbewaffnung Polens als Frontstaat gegenüber Russland. 

Verschiedene europäische Think Tanks haben bereits Ende 2023 einen „Demosthenes-Moment“ der europäischen Politik angemahnt, ein Bild, das im Frühjahr 2024 auch vom Hohen Repräsentanten der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, aufgegriffen wurde. In dem Papier heißt es aufrüttelnd: „Alarm bells are ringing. While Ukrainian forces are struggling on the frontline, unequipped for a long war of attrition, Russia is cranking up its arms production, Europe is falling behind on its promise of ammunition deliveries, and the US, with its upcoming election, is threatening to end its military aid. Against this backdrop, some believe that the most reasonable option is to force Ukraine to make concessions and end the war. Today, we – think-tankers who have been working on European security for many years – make a solemn appeal to the citizens of Europe and their leaders. Abandoning Ukraine would render Europe terribly vulnerable. We would not return to the Europe of 2021. We would, instead, fall back to a state of permanent insecurity. Europe would be profoundly weakened by the loss of the Ukrainian bulwark and the loss of mutual trust between European states. And we would face an empire emboldened by the demonstration that it can strengthen itself through aggression. It would be a return to the Europe of the 1930s. (…) Europe does possess the economic resources to confront Russia. The most urgent measure is to coordinate a vast industrial mobilisation to supply more arms and ammunitions to Ukraine, and eventually, to outproduce Russia. (…) If we fail to make armament efforts today, we would have to make them tomorrow, and — if Russia achieves its objectives in Ukraine — under significantly more difficult and threatening conditions. And we would have lost precious time. If we commit ourselves fully to guarantee Ukrainians a European future, Russia would be no match for us. Russia’s strength rests largely on our indecision. In his speeches, known as the ‘Philippics’, the ancient orator Demosthenes called on the Athenians not to remain passive in the face of King Philip II of Macedonia’s expansionism. He urged them that they support those who were under Macedonians’ attack and that they mount their resistance by producing weapons and mobilising the whole of Greece. For Demosthenes, what was at stake was the survival of the Greece of free and democratic cities. For us, the stakes are just as existential. The survival of a free and democratic Europe depends on Ukrainian victory.“

Wie es – dem Stil der Zeit entsprechend – in einem Geschichtsbuch aus der Mitte des 19. Jahrhunderts), so anschaulich dargestellt wurde, war Demosthenes mit seinen Mahnungen jedoch letztlich kein Erfolg beschieden, denn die “Griechen in ihrer Verblendung hielten den kleinen nordischen König für gar nicht gefährlich (...). (...) Schon waren die Griechen sittlich verdorben; aber mit unermüdlichem Eifer suchte Demosthenes den alten Muth und die alte Tugend wieder in dem leichtsinnigen Volke anzufachen; er erinnerte die Athener an die Heldenthaten des Miltiades und Themistokles, ermahnte sie, nicht ihren Nacken dem Unterdrücker zu beugen, nicht die Beschützung ihrer Freiheit gemietheten Söldlingen zu überlassen. Er forderte die Reichen auf, Beisteuern zum Kriege zu geben und der trägen Ruhe und Bequemlichkeit zu entsagen. Leider hatten aber die besten und begeistertsten Reden des trefflichen Mannes wenig Erfolg, denn es gab in Athen nicht bloß viel verdorbenes Volk, sondern auch unter den bessern Bürgern Viele, die an der Rettung des Vaterlandes verzweifelten und den Frieden mit dem makedonischen Könige um jeden Preis erhalten wollten. (...) Zwar gelang es den Bemühungen des Demosthenes, die Athener zu bewaffnen; doch konnten diese nicht hindern, daß Philipp Amphissa eroberte und dann auch noch Elatea in Lokris besetzte. Nun hatte der Macedonier festen Fuß in Lokris gefaßt, und der Uebergang nach Böotien war leicht. Jetzt ward es den Athenern klar, daß ihnen im folgenden Jahre der Entscheidungskampf um ihre Freiheit bevorstände. Mit rastlosem Feuereifer ermahnte Demosthenes seine Landsleute zur Eintracht und zum Kampfe gegen den gemeinsamen Feind. Die Thebaner, welche auch die Gefahr erkannten, verbanden sich mit den Athenern, und im J. 338 v. Chr. zog das vereinigte Griechenheer nach Böotien in die Ebene von Chäronea, den Macedoniern entgegen. (...) Tapfer fochten die Griechen, aber die heilige Schaar der Thebaner, 400 Mann stark, ward niedergehauen, die Athener wichen dem Andrange der makedonischen Phalanx und bald war die Flucht des Griechenheeres allgemein. Selten mag sich ein Feldherr so gefreuet haben, wie Philipp über den glänzenden Sieg von Chäronea.“

Angesichts der über Jahrzehnte ignorierten strukturellen Probleme der Atlantischen Allianz, wie sie in der Kritik de Gaulles und seiner Nachfolger oder dem „Reykjavik-Schock“ von 1986 deutlich wurden, und der bisherigen Verzögerungen bei der tatsächlichen Umsetzung der „Zeitenwende“ inklusive nationaler deutscher Nabelschau im aktuellen Bundestagswahlkampf beschleichen einen damit doch Zweifel daran, ob nun tatsächlich ein wirklich tatkräftiges Aufwachen der europäischen Regierungen und Öffentlichkeit zu erwarten ist, um sich den akuten sicherheitspolitischen Herausforderungen endlich wirklich zu stellen. Die bisherigen Erfahrungen lassen befürchten, dass der „Demosthenes-Moment“ womöglich zu einem „Chaironeia-Effekt“ verkommen könnte.

    

Literatur/Links

Conze, Eckart (1995): Hegemonie durch Integration? Die amerikanische Europapolitik und ihre Herausforderung durch de Gaulle. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 43 (2): 297-340, https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1995_2_4_conze.pdf

Gonzalez, Rodolfo A./Mehay, Stephen L. (1991): Burden sharing in the NATO alliance: An empirical test of alternative views. Public Choice 68: 107-116.

Lozier, Jean-Louis (2023): French Nuclear Policy. RKK/ICDS Brief, Tallinn: International Centre for Defence and Security, https://icds.ee/wp-content/uploads/dlm_uploads/2023/01/ICDS_Brief_French_Nuclear_Policy_Jean-Louis_Lozier_January_2023.pdf .

Zanella, Anthony (2020): An Analysis of Burden Sharing in NATO and the Problem of Free Riding. Policy Analysis 21: art. 5, DOI: 10.70531/2474-2295.1058 , https://scholarship.shu.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1058&context=pa .