Russland macht teilmobil

Präsident Putin hat nun also die Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte angeordnet, und laut russischem Verteidigungsministerium sollen zunächst 300.000 Reservisten, möglichst mit Kampferfahrung, eingezogen werden. Interessant an Putins Ankündigung sind dabei drei Punkte: Erstens verzichtet er auf eine allgemeine russische Mobilmachung, die möglicherweise zu stärkerem innenpolitischen Widerstand geführt hätte, zumindest in passiver Form, etwa in der Weigerung der Mobilisierten, sich zum Dienst zu melden. Durch das Instrument er Teilmobilisierung ist es weiterhin möglich, die Regionen, aus denen die Soldaten stammen, zu differenzieren, und etwa die heiklen, weil noch relativ politisch alerten Städte wie Moskau und St. Petersburg zu großen Teilen zu schonen, um den relevanten Widerstand in der russischen Bevölkerung zu minimieren.

Zweitens hat Putin in seiner Ankündigung seine weiterbestehenden Kriegsziele umrissen, welche nun auf die Loslösung des Donbas und des ukrainischen Südens und deren Einverleibung in das russische Staatsgebiet fokussiert. Dies wird mit dem Schutz der dortigen russischstämmigen Bevölkerung begründet und soll offenbar nach dem Muster der Krim-Annexion durch die anstehenden Referenden in den betreffenden ukrainischen Oblasten formal legitimiert werden. Das mittlerweile unrealistisch erscheinende Ziel eines Regime Change in der Ukraine steht wohl nicht mehr auf Putins Agenda, ebenso wie eine völlige Unterwerfung des Landes.

Drittens hat der russische Präsident wiederum klargemacht, dass Russland in einem existenziellen Konflikt mit dem Westen sieht und der NATO unterstellt, sein Land zerstören zu wollen. Dagegen hat er erneut mit dem Einsatz aller notwendigen Mittel, insbesondere der russischen Nuklearwaffen, gedroht, um das Überleben Russlands zu sichern. Zusammen mit der zu erwartenden Deklarierung der besetzten ukrainischen Gebiete zu russischem Staatsterritorium erleichtert dieses Narrativ im Zweifel auch die Überzeugung der russischen Bürger, dass zur Verteidigung des Vaterlandes und der Russen insgesamt noch weitere Entbehrungen und Verluste zu ertragen sein werden. 

Was sind nun die Implikationen der Teilmobilmachung? Zum einen zeigt die Ankündigung Putins wohl, dass er sich sicher im Sattel wähnt und nicht mit Widerstand in der Bevölkerung rechnet, der seinem Regime gefährlich werden könnte. Tatsächlich war die mediale Kritik der letzten Tage in Russland wohl zumindest teilweise Part einer Teststrategie des Kreml, um auszuloten, was der insgesamt eher apolitischen Bevölkerung noch zuzumuten sein könnte und die Teilmobilmachung propagandistisch vorzubereiten. Nicht umsonst kam die vehementeste Kritik am bisherigen Verlauf des Krieges von nationalistischer Seite, welche sich ein härteres Durchgreifen gegen die Ukraine wünscht. Andere potenzielle Opposition in den Eliten wurde in abschreckender Weise ja bereits durch verschiedene „Unfälle“ russischer Oligarchen und Wirtschaftsfunktionäre unterdrückt. Zudem hat Putin wohl sicherheitshalber erwähnt, dass er mit der Teilmobilmachung einem Vorschlag des Verteidigungsministeriums folgt, was im Zweifel bedeutet, dass im Fall eines weiteren Scheiterns der russischen Armee dessen Spitze, also der Verteidigungsminister und der Generalstabschef zum Sündenbock gemacht würden. Sofern sich der russische Staatschef nicht fundamental verschätzt hat, scheinen Hoffnungen, dass demnächst im russischen Staatsfernsehen wieder Tschaikowskys „Schwanensee“ zu sehen sein wird, also tatsächlich verfrüht zu sein. – „Schwanensee“ ist praktisch traditionell das Pausenprogramm, wenn der reguläre TV-Betrieb aufgrund einschneidender Ereignisse, wie es ein Sturz Putins wäre, temporär eingestellt wird. 

Zum anderen wird deutlich, dass die russische Führung schlussendlich realisiert hat, dass die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine ihre strategischen Ziele völlig verfehlt hat, und der Krieg auch in operativer Hinsicht mit den bisherigen Mitteln nicht erfolgreich zu einem Abschluss zu bringen ist. Entsprechend versucht man nun, der ukrainischen Seite durch eine entsprechende Aufstockung der eigenen Kräfte Paroli zu bieten, wohl einerseits, um die ukrainischen Gegenoffensiven zu stoppen und andererseits, ausreichend Kräfte zusammenzuziehen, um den Donbas ganz erobern zu können. Offenbar haben sich die bisherigen Hilfsmittel zur personellen Aufstockung des russischen Heeres (Druck auf Rekruten, sich als Vertragssoldaten zu verpflichten, Einsatz von irregulären Kräften, Milizen und Söldnern, Rekrutierung in Gefängnissen) als unzureichend erwiesen.  

Ob die Teilmobilmachung aber tatsächlich die strukturellen Probleme des russischen Heeres ausräumen wird, ist mit einem großen Fragezeichen zu versehen. Selbst wenn es damit gelingt, die mittlerweile gegebene zahlenmäßige Überlegenheit der Ukrainer hinsichtlich der Mannschaftsstärken auszugleichen – die Ukraine hat naheliegenderweise bereits mobilgemacht -, sind die fundamentalen Probleme der Armee hinsichtlich Logistik, Organisation, Führung und Moral keineswegs ausgeräumt. Selbst die Männer mit Kampferfahrung sind in ihrer aktiven Zeit wohl kaum nach den modernen Standards ausgebildet und eingesetzt worden, die gegen die nach westlichem Vorbild organisierten ukrainischen Verbänden förderlich wären. Auch eine gute Ausrüstung der frisch Mobilisierten erscheint keineswegs gesichert; zu erwarten ist, dass auch sie mit älterem Gerät aus Lagerbeständen ausgestattet werden.  

Und auch der Verweis Verteidigungsminister Schoigus, Russland verfüge über 25 Millionen Reservisten, mit der impliziten Drohung, die Ukraine (oder die NATO) könnte sich im Fall einer weiteren Eskalation mit einem unüberwindlichen Massenheer konfrontiert sehen, ist hauptsächlich Augenwischerei. Bei dieser Zahl handelt es sich wohl um alle Russen, die irgendwann einmal in den Streitkräften gedient haben und formal nicht zu alt (also maximal 50 Jahre) sind, um theoretisch wiedereinberufen zu werden. Die tatsächlich verfügbaren Reserven der russischen Streitkräfte wird mit zwei Millionen Mann beziffert, die in den letzten fünf Jahren Dienst bei der Armee geleistet haben. Berücksichtigt man zudem, dass die russischen Streitkräfte in den letzten Jahren zugunsten der Luftwaffe und Marine umstrukturiert worden sind (nurmehr weniger als 40 Prozent der Truppe gehören zum Heer), stellen die 300.000 Mann wahrscheinlich schon einen erklecklichen Teil (geschätzt bis zu einem Drittel) der für das Heer einsatzfähigen Reservisten dar. Zum Vergleich: In Deutschland gibt es noch gut 10 Millionen Männer, die irgendwann in der Bundeswehr gedient haben, hauptsächlich als Grundwehrdienstleistende; von diesen stehen aber nurmehr 900.000 als Reservisten aller Art zur Verfügung, also weniger als ein Zehntel. Allerdings könnte der Hinweis auf das noch vorhandene Potenzial durchaus ein Hinweis sein, dass Putin zur Durchsetzung seiner Ambitionen (bzw. im Zweifel auch zur Rettung seiner Herrschaft) durchaus zu einer solchen weiteren Eskalation bereit ist und tatsächlich an sein Geschichtsbild eines unbesiegbaren Russlands glaubt. 

Was folgt daraus für den Westen? Erstens rücken die Hoffnungen auf eine diplomatische Lösung des Konflikts in noch weitere Ferne. Die russische Haltung ist ganz offensichtlich für die Ukraine in keiner Weise akzeptabel, so dass Verhandlungen in absehbarer Zeit unmöglich erscheinen. Zweitens sieht man sich einer weiteren Eskalation gegenüber, welche insbesondere in Europa herrschende Befürchtungen um weitere Kosten und Risiken des Krieges weiter bestärken und innenpolitische Verwerfungen intensivieren könnte. Genau damit scheint Putin zu rechnen, wenn er letztlich auf die vermeintliche, letztlich politisch-gesellschaftlich überlegene Durchhaltefähigkeit Russlands setzt - die sich freilich erst noch herausstellen muss. Drittens heißt die Aufstockung der russischen Armee, dass die Ukraine weiter mit westlichen Waffen versorgt werden muss, um ihrerseits den Abnutzungskrieg gegen Russland durchhalten zu können. Dies kann nach Lage der Dinge wohl praktisch nur durch die USA in größerem Maß geschehen, da nur sie umfangreiche Mengen von Gerät eingelagert haben, das vielleicht nicht allerneueste Modelle umfasst, aber gegenüber dem alten sowjetischen Systemen der russischen Armee mehr als konkurrenzfähig sein sollte. Wenn sich nicht doch auf einer Seite eine grundsätzliche innenpolitische Veränderung ergibt, deutet also alles auf eine Verlängerung von Krieg und Leid hin.