Schwierige Regierungsbildung in Südtirol
Über zweieinhalb Monate nach der Landtagswahl in Südtirol scheint es nun eine neue Koalition um die Südtiroler Volkspartei und damit gute Aussichten auf eine neue Regierung unter ihrem amtierenden Landeshauptmann (Ministerpräsidenten) Arno Kompatscher zu geben, der voraussichtlich am kommenden Donnerstag (18. Januar 2024) im Amt bestätigt werden wird. Damit sind anscheinend auch mögliche Neuwahlen vom Tisch, die laut Autonomiestatut drohen würden, wenn es nicht binnen 90 Tagen nach der Wahl (also bis 20. Januar) eine Mehrheit für einen neuen Landesausschuss (Landesregierung) gibt.
Die in der ersten Januarhälfte vereinbarte Koalition, die im Landtag mit 19 von 35 Sitzen über eine klare Mehrheit verfügen wird, besteht aus der SVP (13 Sitze), den Freiheitlichen (2 Sitze), den Fratelli d’Italia (2 Sitze), der Uniti per l’Alto Adige – Lega Alto Adige Südtirol (1 Sitz) und La Civica (1 Sitz). Entgegen der bis zuletzt vor allem von den Grünen gehegten Hoffnung auf eine Mitte-Links-Koalition spiegelt dieses Bündnis den bei der Wahl verzeichneten Rechtsruck in Südtirol wider, nachdem außer der konservativen SVP lediglich die eher pragmatisch bis sozialliberal einzuordnende Bürgerliste La Civica nicht dem rechtspopulistischen bis rechtsradikalen Spektrum zuzuordnen sind: Die Freiheitlichen sind die Schwesterpartei der österreichischen FPÖ, und die postfaschistische FdI sowie die Lega sind aus der gegenwärtig amtierenden italienischen Regierung unter Giorgia Meloni bekannt. Gemeinsam ist diesen drei Parteien ihre Euro- und Klimaskepsis, ihre Xenophobie und ihr eher ethnonationales, autoritär-populistisches Demokratieverständnis.
Entsprechend trifft die neue Regierungskoalition auch auf deutlichen Widerstand der Südtiroler Zivilgesellschaft. So kam es während der Koalitionsverhandlungen zu Demonstrationen gegen eine Regierungsbeteiligung der Rechtspopulisten und Postfaschisten, und Mitte Dezember wurde ein von über 200 Südtiroler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterzeichneter offener Brief an den Landeshauptmann publiziert, in dem es heißt:
„Sehr geehrter Herr Landeshauptmann Arno Kompatscher! Die Südtiroler Volkspartei (SVP) hat Koalitionsverhandlungen mit den Parteien Fratelli d’Italia (FdI), Lega per Salvini Premier, Die Freiheitlichen und La Civica aufgenommen. Damit öffnet die SVP (ultra)rechten Parteien das Tor zur Regierungsbeteiligung. FdI hat sich nie eindeutig vom Faschismus distanziert, der die deutschsprachige Minderheit assimilieren wollte. Die Lega ist eine antieuropäische Partei, die das Integrations- und Friedensprojekt Europa rückgängig machen will. Die Freiheitlichen sind eine rechtspopulistische Partei. Zumindest FdI und Lega relativieren die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Klimawandels. Der Tausch Regierungsbeteiligung gegen einige Autonomiebestimmungen wird die drohende Klimakatastrophe und die Zerstörung des Ökosystems nicht aufhalten, dafür aber unsere Gesellschaft zusätzlich spalten und unsere Demokratie schwächen. Wir alle tragen eine gemeinsame Verantwortung für unser Land, für den Schutz aller Minderheiten und das friedliche und konstruktive Zusammenleben der Sprachgruppen, für die Achtung der Menschenwürde. An diesen Werten halten wir fest und appellieren an Sie und an die Südtiroler Volkspartei, ihre Koalitionsabsichten zu überdenken.“
Auch Vertreter des konservativen Südtiroler Schützenbundes haben deutliche Kritik insbesondere an einer Regierungsbeteiligung der FdI geäußert, die sich nicht klar von ihrem faschistischen Erbe und insbesondere von der Italianisierungspolitik Mussolinis distanziert habe.
Die Proteste waren jedoch dahingehend fruchtlos, dass sie die Koalitionsbildung nicht verhindern konnten. Allerdings sah sich Kompatscher immerhin genötigt, die Handschrift der SVP im Koalitionsvertrag zu unterstreichen und auf dessen Präambel zu verweisen, in der sich die beteiligten Parteien u.a. zur europäischen Integration und zur Südtiroler Autonomie bekennen. Auch die Einbeziehung der Liste Civica in die Regierung diente neben der Absicherung der Mehrheit wohl auch der Abschwächung der Dominanz der Rechtspopulisten bei den kleineren Koalitionspartnern.
Was nun offenbar noch immer bleibt, ist jedoch die Frage nach der konkreten Ausgestaltung der Regierung, was die Zahl und Besetzung der Landesratsposten (Ministerien) betrifft. Für den Zuschnitt der Landesregierung und ihrer Ressorts ist weitgehend der Landeshauptmann verantwortlich. Sowohl die FdI als auch die Lega fordern ein Ressort für sich. Nach Art.50 des Autonomiestatuts muss die „Zusammensetzung des Landesausschusses von Südtirol (...) im Verhältnis zur Stärke der Sprachgruppen stehen, wie sie im Landtag vertreten sind.“ Nachdem nach der letzten Wahl nurmehr fünf der 35 Abgeordneten italienischsprachig sind (14,3%), nämlich diejenigen von FdI, Lega, Civica und Partito Democratico (PD, 1 Sitz), würde ihnen demnach jedoch nur ein Landesrat zustimmen, sollte die neue Landesregierung wie die bisherige aus acht Mitgliedern (inklusive Landeshauptmann) bestehen. Nur eine Vergrößerung der Regierung würde damit die Möglichkeit schaffen, sowohl den FdI als auch der Lega einen Landesratsposten zukommen zu lassen.
Verkompliziert wird die Lage dadurch, dass es sich widersprechende Rechtsgutachten zu dieser Frage gibt. So gelangt ein Gutachten des Rechtsamtes des Landtags zu dem Schluss, dass auch bei einer elfköpfigen Regierung ein zweiter italienischsprachiger Landesrat nur möglich wäre, wenn die ladinische Sprachgruppe, die besonderen Minderheitenschutz genießt, auf ihren Posten verzichtet. Ein u.a. von den Lega- und FdI-Abgeordneten vorgelegtes Gegengutachten einer auf Minderheitenrechte spezialisierten Anwältin kommt zu dem gegenteiligen Ergebnis, dass es zwei italienischsprachige Landesräte sein müssten. Die vom Interimspräsidenten des Landtages zur Klärung eingeholte Stellungnahme der Staatsadvokatur (Generalstaatsanwaltschaft) in Trient, die auf der Ebene der übergeordneten Region Trentino-Südtirol (zu der die autonomen Provinzen Bozen-Südtirol und Trentino gehören) rechtsberatend und -prüfend tätig ist, bestätigt die letztere Position. Danach stünden der italienischen Sprachgruppe bei bis zu zehn Regierungsmitgliedern nur ein, ab elf jedoch zwei Landesräte zu, nachdem die relevante Bezugsgröße die Gesamtzahl der Abgeordneten (35) und nicht, wie vom Landtagsgutachten vorausgesetzt, diejenige der nichtladinischen Landtagsmitglieder (34) ist. Während diese Interpretation des Autonomiestatuts und des Wahlgesetzes juristisch umstritten bleibt, scheint damit eine Zusammensetzung der zukünftigen Regierung aus neun deutsch-, zwei italienisch- und einem ladinischsprachigen Mitgliedern wahrscheinlich.(Letzterer wird ebenfalls von der SVP gestellt.)
Die Opposition im Landtag in Gestalt der separatistischen Süd-Tiroler Freiheit hat für den Fall einer solcherart parteitaktischen Aufstockung der Landesregierung auf elf Mitglieder bereits mit rechtlichen Schritten gedroht und spricht von einer „Erpressung“ Kompatschers und der SVP durch die italienischen Rechtsparteien. Andere Kritiker bemängeln, dass mit einer Aufstockung der Landesratssitze eines der Wahlziele der SVP, nämlich die (2013 vom Landtag beschlossene) dauerhafte Verkleinerung der Regierung aufgegeben und zusätzliche Kosten für die öffentliche Hand verursacht würden, selbst wenn dies nach der aktuellen Gesetzeslage (wohl bis zu einer Maximalgröße von eben elf Regierungsmitgliedern) durchaus formal legal ist.
Diese Diskussionen um die Frage der Landesräte haben bereits zu einer Verschiebung der Wahl des Landeshauptmanns geführt, die ursprünglich für den 16. Januar geplant war. Zudem haben sie mittlerweile auch Vertreter der Regierung in Rom, etwa Regionenminister Roberto Caleroli (Lega) und Landwirtschaftsminister Francesco Lollobrigida (FdI) auf den Plan gerufen, welche ebenfalls eine elfköpfige Südtiroler Regierung und je einen Landesrat für die FdI und die Lega fordern. Nachdem Kompatscher bei der Weiterentwicklung des Autonomiestatuts auf den guten Willen der Zentralregierung angewiesen ist, kann er diese Forderungen nicht ignorieren und gegebenenfalls die Lega vor den Kopf stoßen, nachdem der Landesratsposten für die FdI angesichts der Fraktionsstärken gesetzt scheint.
Zugleich ergibt sich auch ein Konflikt unter den italienischen Parteien selbst, nachdem neben der Lega auch La Civica Ansprüche auf den zweiten italienischsprachigen Landesrat angemeldet hat. Beide drohen damit, die Koalition zu verlassen, sollte ihrer Forderung nicht nachgekommen werden. Allerdings wäre ein Auszug der Lega laut Äußerungen aus der FdI möglicherweise auch mit dem der Fratelli d’Italia verbunden, was bedeuten würde, dass Kompatscher mit den verbleibenden 16 Abgeordneten von SVP, Freiheitlichen und La Civica keine Mehrheit mehr hätte, ganz abgesehen davon, dass er bei einer elfköpfigen Regierung nicht beide Landesratsposten für die Italienischsprachigen besetzen könnte.
Auch wenn der Landeshauptmann wohl Angelo Gennaccaro von Civica als Landesrat bevorzugen würde, nachdem dieser der italienischsprachige Abgeordnete mit dem besten Wahlergebnis und kein Rechter ist, muss er im Zweifel wohl dessen Ambitionen eine Absage erteilen, sollte dieser im Postenpoker nicht freiwillig zurückstecken. Denn dann hätte er zumindest eine, wengleich knappere Mehrheit von 18 Stimmen im Landtag. Angesichts der politischen Polarisierung im Land und der noch größeren Abhängigkeit von seinen rechtspopulistischen Koalitionspartnern wären dies jedoch noch schlechtere Vorzeichen für die neue Legislaturperiode als sie ohnehin schon bestehen.