Maduros Malvinas-Moment?

Am vergangenen Sonntag (3. Dezember 2023) hat in Venezuela ein (formal nichtbindendes) Referendum über den Status Guyana Esequibas stattgefunden, ein Gebiet, das rund zwei Drittel des Territoriums des östlichen Nachbarstaates Guyana ausmacht und das von Venezuela beansprucht wird. Bei einer – von der Opposition bezweifelten – Wahlbeteiligung von rund 50 Prozent stimmten offiziell über 95 Prozent für die Einverleibung Esequibos als neuem Bundestaat Venezuelas und die Beendigung der diesbezüglichen Verhandlungen und internationalen Vermittlungsbemühungen. Das Regime Nicolás Maduros sieht sich durch dieses Ergebnis nachhaltig bestätigt und hat unmittelbar danach sein offizielles Bestreben einer sofortigen Förderung von Erdöl und Erdgas durch venezolanische Firmen in der international anerkannten Ausschließlichen Wirtschaftszone Guyanas verkündet, den Bundesstaat Esequibo in neue Landkarten Venezuelas verzeichnen lassen und zusätzliche Truppenverlegungen an die Grenze veranlasst. Entsprechend nimmt die Sorge um eine mögliche militärische Annexion des Gebiets durch Venezuela zu.

Worum geht es bei dem Territorialstreit? Im Jahr 1814 übernahm Großbritannien im Kontext der Napoleonischen Krieg das niederländische Kolonialgebiet im Norden Südamerikas von den Niederländern und bildete die Kolonie Britisch-Guyana, dessen unklare Westgrenze gegenüber dem seit 1830 selbstständigen Venezuela nicht anerkannt wurde. Letzteres beanspruchte (und beansprucht) den gesamten westlichen Teil des Landes bis zum Fluss Essequibo. Die Briten wiederum beauftragten 1840 die Demarkation der Grenze (bis zur Mündung des Orinico in Venezuela selbst), welche von Venezuela jedoch nicht anerkannt wurde. 

In den 1890er Jahren wandte sich Venezuela schließlich an die Vereinigten Staaten, in der Hoffnung diese könnten als Schutzmacht Lateinamerikas gemäß der Monroe-Doktrin von 1823 in seinem Sinne Druck auf die Briten ausüben, und tatsächlich stimmte die britische Regierung nach anfänglicher Weigerung 1897 einem Schiedsverfahren zu, nachdem aus Washington deutliche Warnungen kamen, die als Kriegsdrohung verstanden werden konnten. Der einstimmige Schiedsspruch einer Kommission mit zwei von den USA und Venezuela ausgewählten (US-amerikanischen) und zwei britischen Mitgliedern sowie dem russischen Diplomaten und Völkerrechtler Friedrich Martens als Vorsitzendem schlug 1899 den größten Teil des umstrittenen Gebiets Britisch-Guyana zu und legte die bis heute gültige Grenze fest. Venezuela akzeptierte vertragsgemäß das Resultat, auch wenn die Enttäuschung darüber immens war. 

Spätestens in den 1960er Jahren revidierte Venezuela seine Anerkennung des Schiedsspruchs von 1899 jedoch, nachdem 1949 aus Dokumenten des Nachlasses des Sekretärs der amerikanisch-venezolanischen Delegation bei den Schiedsverhandlungen hervorzugehen schien, dass das Schiedsergebnis ein abgekartetes Spiel der britischen und der russischen Seite gewesen sei. Diese hätten die beiden US-amerikanischen Kommissionsmitglieder vor die Wahl gestellt, entweder den dann beschlossenen Vorschlag zu unterstützen und so ein einstimmiges Urteil zu ermöglichen, oder im Falle einer Ablehnung bei einem 3:2-Ergebnis noch zusätzliche venezolanische Gebietseinbußen in Kauf zu nehmen. Um die Verluste Venezuelas zu minimieren hätten jene einem 5:0-Beschluss schließlich widerstrebend zugestimmt.

Als Guyana 1966 dann unabhängig wurde, vereinbarten Großbritannien, Guyana und Venezuela, den Grenzstreit durch internationale Vermittlung zu lösen, und sofern dies nicht möglich sein würde, den Streit an den Generalsekretär der Vereinten Nationen weiterzureichen. Letzteres geschah dann auch, und bis 2017 bemühten die UN um eine Verhandlungslösung, bis der neue UN-Generalsekretär Guterres die Angelegenheit an den Internationalen Gerichtshof weiterreichte. Dieser nahm 2018 eine Klage Guyanas auf Bestätigung seiner Grenze an und stellte gegen den anfänglichen Widerstand Venezuelas auch seine diesbezügliche Zuständigkeit fest; ein Urteil wird im Laufe des kommenden Jahres erwartet. Am 1. Dezember 2023 hat der IGH auf guyanisches Ersuchen hin in einer Eilentscheidung jegliche venezolanische Aktivität zur Veränderung des Status quo untersagt und beide Seiten zur Zurückhaltung aufgefordert.        

Warum spielt die Regierung Maduro gerade jetzt so hoch? Ein Aspekt sind sicherlich die noch immer bestehenden gravierenden Wirtschaftsprobleme des Landes. Zwar ist es gelungen, die Hyperinflation durch Sparmaßahmen der Regierung von über 65.000% bzw. knapp 20.000% in den Jahren 2018 und 2019 auf „nur“ noch 187% bzw. geschätzt 360% 2022 und 2023 zu drücken; und die venezolanische Wirtschaft verzeichnet nach zweistelligen Einbrüchen in den letzten Jahren gegenwärtig wieder ein Wachstum infolge einer (mittlerweile auch offiziell akzeptierten) Dollarisierung und Teilprivatisierungen. Doch diese Fortschritte erfolgen unter massiven sozialen Verwerfungen sowie vor dem Hintergrund wachsender Korruption und Kriminalität und stoßen auch auf Widerstand auf lokaler und basisdemokratischer Ebene, welcher sich in lautstarken Forderungen nach mehr staatlicher Unterstützung für Kommunen äußert. Die anhaltende Krise hat zudem dafür geführt, dass in den letzten zehn Jahren über sieben Millionen Menschen aus Venezuela geflohen sind, insbesondere in Nachbarländer wie Kolumbien und die USA, das ist fast ein Viertel der ursprünglichen Bevölkerung.

Auch die zuletzt eher blasse und uneinige venezolanische Opposition zeigt Ansätze zur Konsolidierung unter der Führung von María Machado. So haben Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition zu einer Einigung über Präsidialwahlen im Jahr 2024 geführt, wenngleich die konkreten administrativen Bedingungen noch immer Gegenstand von Auseinandersetzungen sind, etwa was die Zulassung von Oppositionskandidaten angeht. Zur Annäherung beider Seiten hat nicht zuletzt der Druck der USA beigetragen, welche auch direkt mit dem Regime verhandelt und mit der teilweisen Aufhebung von Sanktionen, insbesondere gegen die venezolanische Ölindustrie positive Anreize für die Regierung gesetzt haben. Hintergrund dafür dürften nicht zuletzt das US-Interesse an einer Erhöhung der Erdölproduktion und damit Senkung der globalen Rohölpreise sein, um die weltweiten Abhängigkeiten von russischen Energieimporten und die russischen Staatseinnahmen zu verringern; außerdem könnte durch eine Stabilisierung und Liberalisierung der venezolanischen Verhältnisse auch der Zuwanderungsdruck an der US-Südgrenze abgemildert werden, der im anlaufenden US-Präsidentschaftswahlkampf eine essentielle Rolle spielen dürfte. 

Für Maduro ergibt sich dadurch ein doppelter Anreiz, die Esequibo-Frage zum Mittelpunkt seiner Außenpolitik zu machen: Zum einen sieht er sich durch Wirtschaftskrise und die anstehenden Wahlen innenpolitisch unter starkem Druck, sich die Zustimmung der Bevölkerung zu sichern, und dies mag durch die populäre Lösung eines quasi seit Bestehen des Landes existierenden nationalen Grundanliegens besonders gut gelingen. Dieses Kalkül eines parteienübergreifenden patriotischen „rally round the flag“-Effekts erinnert deutlich an dasjenige der argentinischen Militärjunta, welche am Ende der 1970er Jahre bestrebt war, ihren Rückhalt in der Bevölkerung infolge der innenpolitischen und ökonomischen Krise durch eine Art nationales Erweckungserlebnis nachhaltig zu stärken, sei es durch den zunächst geplanten und dann aufgegebenen Angriff auf den Erzrivalen Chile, sei es durch die dann erfolgte (und schließlich katastrophal misslungene) Eroberung der Falkland-Inseln/Malvinas von Großbritannien. Zudem wäre eine Übernahme der seit 2015 entdeckten Erdölreserven und bereits florierenden Erdölproduktion und -exporte Guyanas wohl ein probates Mittel zur tatsächlichen Überwindung der staatlichen Finanz- und Wirtschaftskrise. 

Zum anderen könnte man die vorsichtigen Annäherungsversuche der USA auch als deren Schwäche interpretieren, welche zusammen mit dem traditionell guten Verhältnis zu Russland und China dazu führen könnte, dass sich die venezolanische Führung in einer gewissen Position außenpolitischer Stärke sieht, die es auszunutzen gilt. Nicht zuletzt scheinen die Vereinigten Staaten und der Westen im Augenblick durch den Ukraine- und den Gaza-Krieg abgelenkt und durch den Systemkonflikt mit Russland und China gebunden. 

Zudem ist Guyana in militärischer Hinsicht kein ernstzunehmender Gegner: Laut IISS verfügt Guyana mit seinen rund 800.000 Einwohnern gerade einmal über eine Streitmacht von rund 4.000 Mann (inklusive Reserven) ohne Kampfflugzeuge oder -panzer und mit neun Schützenpanzern und 54 Geschützen. Demgegenüber umfassen die regulären venezolanischen Streitkräfte bei rund 30 Mio. Einwohnern rund 123.000 Mann (davon etwa 60.000 Angehörige des Heeres und 15.000 Marines), zu denen bei Bedarf noch etwa 220.000 Angehörige paramilitärischer Milizen kommen können. Die vor allem aus russischer und chinesischer, aber auch älterer US-amerikanischer Produktion stammende Ausrüstung gilt als im Vergleich halbwegs modern und umfasst rund 170 Kampfpanzer, 230 leichte Panzerfahrzeuge, 240 Schützenpanzer und 80 Mannschaftstransportpanzer, über 500 Geschütze und Raketenwerfer sowie 40 Kampfflugzeuge und 100 Transportflugzeuge und -hubschrauber. 

Für den Fall, dass sich Maduro tatsächlich entschließt, die venezolanischen Gebietsansprüche mit Gewalt zu realisieren, käme es entsprechend auf die Reaktion insbesondere Brasiliens als relativ eng mit Guyana kooperierenden Nachbarstaat (der ebenfalls bereits seine militärische Präsenz an der Nordgrenze verstärkt hat) und der Vereinigten Staaten an. Im Weltsicherheitsrat und darüber hinaus, etwa bei der Abmilderung der Effekte von Sanktionen der USA und der EU, kann Venezuela sicher auf die Unterstützung von Staaten wie Russland und China zählen, welche selbst Grenzverschiebungen mithilfe militärischer Macht versuchen (Krim, Ukraine) bzw. unter dem Vorwand der Korrektur kolonialer und imperialistischer Ungerechtigkeiten nicht ablehnen (Taiwan etc.). Sollte sich die venezolanische Regierung also auf ein militärisches Abenteuer einlassen und auf die Schwäche des Westens setzen, kann sie wohl nur durch eine direkte militärische Intervention, im Zweifel der USA, gestoppt werden. Ansonsten könnte eine – keineswegs auszuschließende – Invasion Esquibos einen weiteren Sargnagel für das Gewaltverbot gemäß Art. 2 (4) SVN sein und international Furore machen. Einen Hinweis, wie groß diese Gefahr tatsächlich ist, dürfte das für den 14. Dezember geplante Treffen Maduros mit dem Präsidenten Guyanas, Irfan Aali, auf St. Vincent geben, an dem auch der brasilianische Präsident Lula teilnehmen soll.

  

Literatur/Links:

Child, Clifton J. (1950): The Venezuelan-British Guiana Boundary Arbitration of 1899. American Journal of International Law 44 (4): 682-693, https://www.jstor.org/stable/2194986 .

International Institute for Strategic Studies (2021): The Military Balance 2021. London: ISS.