"Sezessionsfieber" in den USA

Dass die Vereinigten Staaten spätestens seit der Präsidentschaft Donald Trumps ein zutiefst gespaltenes Land sind, ist mittlerweile Allgemeingut. Ebenso bekannt ist Interessierten, dass die Spaltung sowohl auf innerparteiliche Entwicklungen, insbesondere bei den Republikanern (aber nicht nur dort), als auch auf eine wachsende sozioökonomische Kluft zwischen Reich und Arm zurückzuführen ist. Kaum wahrgenommen wird hierzulande jedoch, dass sich diese Divergenzen auch in konkreten staatsrechtlichen Verwerfungspotenzialen zeigen, welche nicht nur nur die berühmt-berüchtigten Versuche Trumps und seiner Anhänger, die Verfassung auszuhebeln, betreffen, sondern die Architektur der USA und ihrer Bundesstaaten.

So gibt es immer wieder Überlegungen in Staaten wie Texas und Kalifornien, ob man sich nicht von den Vereinigten Staaten abspalten sollte, sei es unter Berufung auf die ehemalige texanische Eigenstaatlichkeit und Souveränität nach der Sezession von Mexiko und vor dem Beitritt zu den USA (1836-1845), sei es angesichts der Sonderrolle Kaliforniens als besonders liberaler und umweltpolitisch fortschrittlicher Teil der Föderation, der als selbstständiger Staat mit einem BIP von knapp 3,4 Billionen US-Dollar (2021) und 39,5 Millionen Einwohnern im globalen Maßstab hinter Deutschland (4,2 Bio. USD, 83 Mio. EW) die fünftgrößte Wirtschaftsmacht wäre, noch vor dem UK (3,2 Bio. USD, 67,5 Mio. EW) und Indien (3,0 Bio. USD, 1,4 Mrd. EW). In beiden Staaten gibt es – in Kalifornien getragen vom eher linken bzw. in Texas vom rechten politischen Spektrum – seit langem Unabhängigkeitsbewegungen, welche in der Trump-Ära und danach zumindest medial einen deutlichen Aufschwung erfahren haben, auch wenn sie aktuell noch keine Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren. So fordern u.a. die Initiative „Yes California“ seit 2015 einen "Calexit" und das „Texas Nationalist Movement“ mit seinen nach eigenen Angaben 430.000 Unterstützern seit 2005 einen "Texit“ . In Texas hat dies mittlerweile dazu geführt, dass ein Unabhängigkeitsreferendum nun praktisch auf der Agenda der republikanischen Partei steht. Und selbst im kleinen New Hampshire gibt es im Parlamentarier, welche sich (vergeblich) für eine Sezession des Staates eingesetzt haben. 

Verfassungsrechtlich erscheint eine einseitige Abspaltung von den USA höchst problematisch bis unmöglich, es sei denn, der gegenwärtige Supreme Court, der sich bereits bei der Abtreibungsfrage über etablierte Rechtsauffassungen hinweggesetzt hat, revidiert auch hier die bisherige Position des höchsten US-Gerichts. Bislang gilt gemäß des Urteils im Prozess Texas v. White von 1869, dass ein Austritt aus den Vereinigten Staaten (nach dem Muster der Konföderierten Staaten 1861) in der Verfassung nicht vorgesehen und damit illegal ist, zumal sich die Staaten mit ihrem Beitritt zu den USA in eine „unauflösliche Beziehung“ mit den anderen Staaten im Rahmen einer laut den Articles of Confederation „perpetual union“ begeben haben. Diese Argumentation erinnert dabei an die Position des Bundesverfassungsgerichts, welches Ende 2016 eine Verfassungsbeschwerde zur Nichtzulassung eines Referendums über eine Unabhängigkeit Bayerns nicht zur Entscheidung annahm und lapidar feststellte: „In der Bundesrepublik Deutschland als auf der verfassungsgebenden Gewalt des deutschen Volkes beruhendem Nationalstaat sind die Länder nicht ‚Herren des Grundgesetzes’. Für Sezessionsbestrebungen einzelner Länder ist unter dem Grundgesetz daher kein Raum. Sie verstoßen gegen die verfassungsmäßige Ordnung.“    

Juristisch aussichtsreicher erscheinen demgegenüber Bestrebungen einzelner Bezirke/Kreise in den USA, ihre Zugehörigkeit zu einem Staat zu ändern oder gar zu einem eigenen Bundesstaat zu werden. Die politisch-ideologische Polarisierung hat etwa dazu geführt, dass es für Counties im Westen Virginias Ideen gibt, von Virginia nach West Virginia zu wechseln, etwa weil insbesondere den dortigen Anhängern der Republikaner die Waffengesetze Virginias zu strikt erscheinen. 2020 wurden diese Counties sogar vom republikanischen Gouverneur von West Virginia explizit zur Sezession vom demokratisch regierten Virginia ermuntert. In einigen Staaten verbinden sich die weltanschaulichen und parteipolitischen Zwistigkeiten mit finanz- und strukturpolitischen Fragen, nachdem sich insbesondere ländliche Gebiete bei der Mittelverteilung zugunsten der größeren (und in der Regel liberaler geprägten) Städte in ihren Bundesstaaten übergangen fühlen. Dies gilt etwa für Counties in Oregon, Illinois, Washington oder Kalifornien. Darüber hinaus gibt es bereits seit längerem Vorstellungen einer Aufteilung Kaliforniens (oder Texas’) in mehrere kleinere Staaten, um die parteipolitische Machtverteilung im Senat – jeder Staat hat bekanntlich unabhängig von seiner Größe zwei Senatoren – zu verändern oder dauerhaft zu zementieren. Im Gegensatz zum Austritt aus den USA ist die Änderung der Zugehörigkeit zu einem Staat oder die Gründung eines neuen Bundesstaats im Rahmen der Vereinigten Staaten zumindest formal kein rechtliches Problem, sobald die erforderlichen politischen Mehrheiten vorliegen (was freilich wenig wahrscheinlich ist). Denn eine Änderung des Gebietsstandes und der Organisation des Bundesgebietes ist möglich, wenn die betroffenen Bundesstaaten und der US-Kongress zustimmen.         

Ein besonders interessanter aktueller Fall betrifft den San Bernardino County im südlichen Kalifornien. Dort hat der Unmut über eine wahrgenommene Vernachlässigung durch Regierung und Kongress in Sacramento dazu geführt, dass eine Bürgerinitiative eine Volksabstimmung durchgesetzt hat über „having the elected representatives for San Bernardino research and advocate for all methods (including secession from the state) for receiving an equitable share of state funding and resources.“ Hintergrund ist ein weitverbreiteter Unmut unter den 2,2 Millionen Einwohnern des größten Countys Kaliforniens über die klammen Finanzen des Kreises und die aus ihrer Sicht mangelnden Zuwendungen des Staates und der Bundesregierung etwa für für Sozialstaats- und Infrastrukturausgaben. Durch die Aufwertung des Countys zu einem eigenen Staat soll insbesondere das Gewicht San Bernardinos bei der Mittelverteilung in Washington D.C. (v.a. durch zwei eigene Senatoren) gestärkt werden. Am 8. November werden die Wahlberechtigten des Countys (gegen den Willen ihrer Repräsentanten im kalifornischen Kongress) über diese Vorlage abstimmen; das Ergebnis erscheint offen.  

Es bleibt abzuwarten, wie es mit diesem „Sezessionfieber“ in den USA weitergeht, etwa wie die Bevölkerung in San Bernardino im November tatsächlich abstimmt. In jedem Fall sind sowohl die regionalen als auch die staatlichen Separationsbewegungen ein untrügliches Indiz für die innere Zerrissenheit und den geschwächten Zusammenhalt der Vereinigten Staaten, ihrer politischen Kultur und ihrer Identität. Es gibt Stimmen, welche davor warnen diese Radikalisierungstendenzen lediglich als harmlose Spleens kleiner Minderheiten zu sehen. Nicht zuletzt impliziert eine innenpolitische Polarisierung ja auch eine potenzielle außenpolitische Schwächung. Es nimmt daher nicht wunder, dass es jüngst bereits Einlassungen aus Russland gegeben hat, in denen US-Bundesstaaten, die sich von den USA lösen möchten, etwa Alaska, süffisant zugesagt wurde, dass ein Beitragsantrag zur Russischen Föderation wohlwollend geprüft werden würde.  

  

Literatur/Links:

Pierson, William Whatley (1915): Texas versus White. Southwestern Historical Quarterly 18 (4): 341-367, https://www.jstor.org/stable/pdf/30234655.pdf .