Orthodoxer Imperialismus

Dass die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) ein ausgesprochen enges Verhältnis zum Kreml pflegt, ist lbekannt. So hat ihr Patriarch Kyrill I. immer wieder die russische Aggression gegen die Ukraine als Notwehr gegen die Expansionsversuche des Westens und als Kampf gegen Werte- und Sittenverfall gerechtfertigt. Der Ukraine-Krieg ist nach seiner Lesart zugleich ein spiritueller Kampf gegen das Böse und ein Konflikt zur Verteidigung der Grenzen und Unabhängigkeit Russlands als „Insel der Freiheit“

Kyrill I. vergleicht etwa den gegenwärtigen Krieg mit dem Vaterländischen Krieg gegen Napoleon, als der gesamte Westen gegen Russland zu den Waffen gegriffen und ein versammeltes Europa vergeblich versucht habe, das Land in eine Kolonie zu verwandeln. Russische Soldaten, die in der Ukraine fallen, werden der Tradition der geschichtspolitischen Überhöhung des Vaterländischen Krieges (1812-1814) und des Großen Vaterländischen Krieges (1941-1945) entsprechend in die Nähe von Märtyrern gerückt, nachdem sie sich für die Verteidigung des Vaterlandes und seiner Werte geopfert hätten. 

Zwar vertritt Kyrill I. die theologische Auffassung, dass Kriege "nie heilig" sein können und vermieden bzw. schnellstmöglich beendet werden müssen, doch er legt gleichzeitig den Begriff des legitimen Verteidigungskrieges ganz in Sinne der russischen politischen Führung aus, wenn er ihn als Abwehrkampf bezeichnet gegen "Mächte, die den Traum der Zerstörung und Eroberung Russlands verfolgen. Hinter allem steht der unvermeidliche Traum derer, die Russland von Westen angegriffen haben: unsere Souveränität zu vernichten, uns unsere Freiheit zu nehmen und dann all die Ressourcen des reichsten Landes der Welt für ihre eigenen Zwecke zu nutzen“ – nicht zuletzt auch eine Anspielung auf den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. 

Nun hat die russische Orthodoxie über ihre Rolle als Legitimations- und Propagandainstrument Vladimir Putins auch kirchenrechtlich demonstriert, wie klar sie sich im Kielwasser der russischen Führung bewegt. Nachdem sich die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats (UOK) , eine der drei orthodoxen Kirchen in der Ukraine, im Mai angesichts des russischen Einmarsches für unabhängig von der ROK erklärt hatte, wurden ihre drei Diözesen auf der 2014 von Russland annektierten Krim im Juni offiziell der ROK angegliedert und zu einer eigenen neuen Metropolie (Kirchenregion) zusammengefasst. Jetzt peilt die ROK offenbar auch die Übernahme der neun Ukrainisch-Orthodoxen Diözesen in den vier annektierten Oblasten Luhansk, Donezk, Cherson und Saporoschja an. Den Anfang machte die Diözese Rovenky in Luhansk, dessen Bischof die Aufnahme seines Bistums in die ROK beantragte, was am 13. Oktober vom höchsten Entscheidungsgremium der ROK, dem Heiligen Synod, auch gewährt wurde. Es wird erwartet, dass die übrigen acht Diözesen im Zuge der Neuorganisation der ROK durch das im März eigens geschaffene "Büro für Angelegenheiten der Diözesen des Nahen Auslandes" bald folgen werden.

Mit der Einverleibung der ukrainischen Diözesen folgt die ROK dem Muster der territorialen Annexion durch den russischen Staat, und zwar selbst der Form nach, nachdem sowohl die Aufnahme der vier Oblaste in die Russische Föderation als auch der Diözese Rovenky offiziell auf ausdrücklichen Wunsch und Antrag der beitretenden Entitäten geschah. Auch dies unterstreicht die Nähe der ROK zur Staatsführung, welche deutlich an das symbiotische Verhältnis von Kirche und Thron im Zarenreich erinnert. Vor diesem Hintergrund erscheinen Appelle an die ROK und insbesondere ihre Kleriker auf der mittleren und unteren Ebene sowie ihre Gläubigen, Widerstand gegen die Einvernahme durch die russische Führung zu leisten, wie sie jüngst etwa von Präsident Macron vorgebracht wurden, wenig erfolgversprechend. 

    

Literatur/Links:

Antonov, Mikhail (2020): Church-State Symphonia: Its Historical Development and its Applications by the Russian Orthodox Church. Journal of Law and Religion 35 (3): 474-493, https://www.researchgate.net/publication/347617946_CHURCH-STATE_SYMPHONIA_ITS_HISTORICAL_DEVELOPMENT_AND_ITS_APPLICATIONS_BY_THE_RUSSIAN_ORTHODOX_CHURCH .  

Ershov, Bogdan A./Fursov, Vladimir N. (2018): The Russian Church in the State Mechanism of Russia. Bulletin Social-Economic and Humanitarian Research (Voronesh, Russia) 1/2018, https://bulletensocial.com/archive/en/1/5/file.pdf .

Halbach, Uwe (2019): Kirche und Staat in Russland. SWP-Studie 8, Berlin: SWP, https://www.swp-berlin.org/publications/products/studien/2019S08_hlb.pdf .

Troebst, Stefan (2014): Vom „Vaterländischen Krieg 1812“ zum „Großen Vaterländischen Krieg 1941-1945“. Bundeszentrale für politische Bildung u.a., Russland-Analysen,  https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-271/179106/analyse-vom-vaterlaendischen-krieg-1812-zum-grossen-vaterlaendischen-krieg-1941-1945/ .