Signaling, kumulative Abschreckung und Audience Costs

Nach dem, was bislang bekannt geworden ist, hat Israel in der Nacht vom 19. auf den 20. April seinen angekündigten Gegenschlag gegen den Iran dadurch ausgeführt, dass mehrere Luft-Boden-Raketen von außerhalb des iranischen Luftraums, wahrscheinlich vom Irak aus, auf den Militärflughafen von Isfahan in der Nähe der dortigen iranischen Nuklearanlagen abgefeuert wurden. Dabei scheinen die dortigen Radaranlagen für die Luftabwehr ausgeschaltet worden zu sein. Für einen solchen Angriff spricht, dass israelische Kampfflugzeuge offenbar etwa 1.500 Kilometer westlich von Isfahan, also praktisch auf dem direkten Weg dorthin und wohl zur Sicherheit der angreifenden Einheit, auch eine syrische Luftabwehrstellung angegriffen haben, und südwestlich von Bagdad anscheinend die primären Brennstufen von weiterreichenden zweistufigen Raketen gefunden wurden, welche bei Abfeuern von den israelischen Jets aus abgeworfen worden sein dürften.    

Obwohl der Einsatz – so es bei ihm bleibt – einen deutlich geringeren Umfang aufweist als der vorangegangene des Iran gegen Israel, ist er als „Botschaft“ in mehrerlei Hinsicht aufschlussreich: Erstens unterstreicht er, dass Israel im Rahmen seiner generellen Strategie der „kumulativen Abschreckung“ nicht bereit ist, militärische Schläge einfach so hinzunehmen, selbst wenn diese nicht erfolgreich waren und wichtige Verbündete wie die USA zur Zurückhaltung drängen. „Kumulative Abschreckung“ heißt, dass Israel gegenüber Bedrohungen und Angriffen stets eine aktive, auch militärische, Verteidigung verfolgen muss, welche dem Gegner immer wieder klar macht, dass seine Angriffe ihr Ziel verfehlen und er gleichzeitig teuer dafür zu bezahlen hat – bis er irgendwann hoffentlich einsieht, dass der weitere Konflikt mit Israel keinen Sinn hat und ihn beendet. Letztlich ist dieses Konzept damit eine Mischung aus Verteidigung und Abschreckung und basiert auf einem, um eine „punishment“-Komponente ergänzten, erweiterten Verständnis von „deterrence by denial“.  

In diesem Sinne signalisiert Israel mit dem begrenzten Schlag gegen Isfahan, dass es dem Iran technologisch deutlich überlegen ist – immerhin ist es der IAF im Unterschied zum iranischen Angriff gelungen, über größte Distanz einen Militärstützpunkt inmitten des Landes zu treffen und die dortige Luftabwehr zu überwinden – und entsprechend jederzeit auch kritische und als gut gesichert geltende Infrastruktur erfolgreich greifen kann, im Zweifel also auch die iranischen Nuklearanlagen oder die verbleibenden iranischen F-14-Kampfflugzeuge, die, obwohl sie mittlerweile veraltet sind, noch immer das Rückgrat der iranischen Luftwaffe bilden, nachdem der Ersatz durch russische Modelle nur zögerlich vonstatten geht. Man muss dabei gar nicht soweit gehen, die implizite Drohung einzubeziehen, dass israelische Raketen, die das iranische Territorium effektiv auch in seiner Tiefe treffen können, im schlimmsten Fall natürlich auch nichtkonventionelle, d.h. nukleare Sprengköpfe tragen könnten.

Zweitens zeigt die israelische Regierung aber auch, dass sie nicht an einer weiteren Eskalation der gegenseitigen Vergeltungsspirale interessiert und durchaus bestrebt ist, den Mahnungen der Partnerstaaten, allen voran der USA, vor einer Eskalation Rechnung zu tragen, um sich deren Unterstützung weiter zu versichern. In diesem Sinne war die Reaktion Israels tatsächlich „smart as well as tough“, wie der britische Außenminister Cameron es im Vorfeld gefordert hatte. Damit wahrt die Regierung Netanyahu wenigstens potenziell die Chance für Israel, eine internationale Koalition gegen den Iran unter Einschluss nicht nur der USA, Großbritanniens und Frankreichs, sondern auch gemäßigter arabischer Staaten wie Jordanien zu schaffen.

Die iranische Führung, die offensichtlich ebenfalls kein Interesse an einer weiteren Eskalation zu einem großen direkten Krieg mit Israel hat, spielt den Angriff unterdessen herunter. Dies wird formal auch dadurch erleichtert, dass die israelische Seite bislang nicht offiziell zugegeben hat, für diesen verantwortlich zu sein. Bislang scheint das Narrativ des Regimes zu sein, dass es sich lediglich um einen an der iranischen Luftabwehr gescheiterten, kleineren Drohnenangriff von iranischem Territorium aus gehandelt hat. Diese Betonung der inneriranischen Herkunft der Attacke und die Negierung ernsthafter Schäden ermöglicht dem Regime dabei nicht nur den Verweis auf den angeblich größeren Erfolg des eigenen Agierens gegen Israel (welcher anscheinend auch durch „fake news“ der Staatsmedien unterstützt wird), sondern auch eine Verstärkung der Repressionsmaßnahmen gegen die Opposition im Iran. 

Das Verhalten der iranischen wie der israelischen Führung demonstriert auf diese Weise die zentrale Bedeutung, welche Öffentlichkeitswirksamkeit und innenpolitische Restriktionen das Krisenverhalten von Regierungen haben und im Zweifel auch außenpolitische Aspekte konterkarieren. So sah sich das iranische Regime offenbar genötigt, auf die Tötung hoher Offiziere der Revolutionsgarden in Damaskus unbedingt militärisch zu reagieren, um die einflussreichen Paramilitärs zufrieden zu stellen und gegenüber der eigenen Bevölkerung, welche seit Jahrzehnten mit antiisraelischer Feindbildpropaganda bedacht wird, sowie den antizionistischen und antisemitischen „Proxys“ wie der Hisbollah oder der Hamas, Stärke zu demonstrieren, selbst wenn das Risiko einer Eskalation zu einem großen Krieg alles andere als wünschenswert ist. Dies entspricht im Wesentlichen der vom James Fearon in den 1990er Jahren entwickelten „audience cost“-Theorie, welche besagt, dass Regierungen in internationalen Krisen weit weniger Handlungsspielraum haben als dies etwa gemäß (neo-) realistisch geprägter Vorstellungen monolithischer und außenpolitisch weitgehend frei agierender internationaler Akteure der Fall sein würde: Die eigene öffentliche Positionierung und Programmatik führt vielmehr zu Handlungszwängen und Festlegungen des eigenen Verhaltens, hinter welche man in der Krise auch wider besseren Wissens nicht zurück kann, ohne innenpolitisch delegitimiert zu werden und gefährlich unter Druck zu geraten. Dies gilt auch für autoritäre Regimes, insbesondere dann, wenn sie sich nicht zuletzt durch die Propagierung eines externen Feindes im Inneren legitimieren. 

Aber auch im Fall Israels wird deutlich, wie wichtig „audience costs“ für das Kalkül einer Regierung (bzw. eines Regierungschefs) sein können: So sah (und sieht) sich Premier Netanyahu offensichtlich ebenfalls unter Zugzwang, dem iranischen Angriff militärisch zu antworten, sei es, um seine seit dem 7. Oktober 2023 zunehmend angezweifelte Fähigkeit, die Sicherheit der israelischen Bevölkerung zu gewährleisten, zu unterstreichen und den starken Worten in Richtung Teheran tatsächlich Taten folgen zu lassen, sei es, den strategischen Erwartungen der militärischen Führung oder denjenigen seiner Koalitionspartner zu entsprechen. – Nicht umsonst hat der rechtsextreme Sicherheitsminister Ben-Gvir den Angriff als „lahm“ bezeichnet, aber bislang offenbar darauf verzichtet, lauthals weitere militärische Maßnahmen zu fordern.

Es könnte also sein, dass die Eskalationsspirale, zumindest was die direkte Konfrontation Israels und des Iran angeht, für den Augenblick durchbrochen worden ist, nachdem beide Seiten klare Signale gegeben und empfangen und den „audience costs“ Rechnung getragen haben.           

   

Literatur/Links

Bahadur, Manmohan (2013): Israel’s Concept of Cumulative Deterrence: Will It Bring peace to the Region? Air Power Journal 8 (4): 107-125.

Fearon, James D. (1994): Domestic Political Audiences and the Escalation of International Disputes. American Political Science Review 88 (3): 577-592. 

Gartzke, Erik/Lupu Yonatan (2012): Still Looking for Audience Costs. Security Studies 21 (3): 391-397.

Golov, Avner (2016): Israeli Deterrence in the 21st Century. INSS (Institute for National Security Studies, Tel Aviv) Memorandum 155: 83-97.

Kirchofer, Charles P. (2017): Managing Non-State Threats with Cumulative Deterrence by Denial. Perspectives on Terrorism 11 (2): 21-35.

Levy, Jack S. u.a. (2015): Backing Out or Backing In? Commitment and Constistency in Audience Cost Theory. American Journal of Political Science 59 (4): 988-1001. 

Partell, Peter J./Palmer, Glenn (1999): Audience Costs and Interstate Crises: An Empirical Assessment of Fearon’s Model of Dispute Outcomes. International Studies Quarterly 43 (2): 389-405.