"Lawfare" in Den Haag

In der letzten Woche haben gleich zwei führende internationale Gerichte im Kontext des Gaza-Krieges von sich reden gemacht: Am 24. Mai 2024 hat der Internationale Gerichtshof im Rahmen des von Südafrika gegen Israel angestrengten Genozid-Verfahrens verfügt, dass die IDF ihre Operationen im Gaza-Streifen deutlich einschränken müssen und insbesondere die geplante bzw. angelaufene Großoffensive gegen Rafah nicht durchführen dürfen: „The State of Israel shall, in conformity with its obligations under the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, and in view of the worsening conditions of life faced by civilians in the Rafah Governorate: (...) (a) (…) Immediately halt its military offensive, and any other action in the Rafah Governorate, which may inflict on the Palestinian group in Gaza conditions of life that could bring about its physical destruction in whole or in part; (…) (b) (…) Maintain open the Rafah crossing for unhindered provision at scale of urgently needed basic services and humanitarian assistance; (…) (c) (…) Take effective measures to ensure the unimpeded access to the Gaza Strip of any commission of inquiry, fact-finding mission or other investigative body mandated by competent organs of the United Nations to investigate allegations of genocide; (…) the State of Israel shall submit a report to the Court on all measures taken to give effect to this Order, within one month as from the date of this Order.” 

Begründet wird dieser Beschluss, der auf einen Eilantrag Südafrikas zurückgeht, damit, dass die humanitäre Situation „katastrophal“ sei und Israels Evakuierungs- und Versorgungspläne für die palästinensischen Flüchtlinge nicht ausreichend überzeugend seien. In Ziff. 46 bis 54 führt das Gericht seine Perspektive aus, wonach  „Israel has not provided sufficient information concerning the safety of the population during the evacuation process, or the availability in the Al-Mawasi area of the necessary amount of water, sanitation, food, medicine and shelter for the 800,000 Palestinians that have evacuated thus far. Consequently, the Court is of the view that Israel has not sufficiently addressed and dispelled the concerns raised by its military offensive in Rafah. (…) the Court finds that the current situation arising from Israel’s military offensive in Rafah entails a further risk of irreparable prejudice to the plausible rights claimed by South Africa and that there is urgency, in the sense that there exists a real and imminent risk that such prejudice will be caused before the Court gives its final decision. (…) The Court considers that, in conformity with its obligations under the Genocide Convention, Israel must immediately halt its military offensive, and any other action in the Rafah Governorate, which may inflict on the Palestinian group in Gaza conditions of life that could bring about its physical destruction in whole or in part. (…) Israel must take effective measures to ensure the unimpeded access to the Gaza Strip of any commission of inquiry, fact-finding mission or other investigative body mandated by competent organs of the United Nations to investigate allegations of genocide. (…) The Court also considers that the catastrophic situation in Gaza confirms the need for the immediate and effective implementation of the measures indicated in its Orders of 26 January 2024 and 28 March 2024, which are applicable throughout the Gaza Strip, including in Rafah. (…) the Court wishes to emphasize that the measure indicated in (…) its Order of 28 March 2024, requiring the ‘unhindered provision at scale by all concerned of urgently needed basic services and humanitarian assistance’, necessitates that the Respondent maintain open land crossing points, and in particular the Rafah crossing. (…) In view of the specific provisional measures it has decided to indicate, the Court considers that Israel must submit a report to the Court on all measures taken to give effect to this Order, within one month as from the date of this Order. (…) The Court recalls that its orders on provisional measures under Article 41 of the Statute have binding effect and thus create international legal obligations for any party to whom the provisional measures are addressed (…).” 

Fast entschuldigend – aus manch proisraelischer Sicht wohl eher wie Hohn klingend – folgt dann in Ziff. 55-56, dass damit keineswegs eine Vorverurteilung Israels verbunden sei und die Hamas die verbleibenden israelischen Geiseln freilassen müsse: „The Court underlines that the present Order is without prejudice to any findings concerning the Respondent’s compliance with the Orders of 26 January 2024 and 28 March 2024. (...) In its Orders of 26 January 2024 and 28 March 2024, the Court expressed its grave concern over the fate of the hostages abducted during the attack in Israel on 7 October 2023 and held since then by Hamas and other armed groups, and called for their immediate and unconditional release. The Court finds it deeply troubling that many of these hostages remain in captivity and reiterates its call for their immediate and unconditional release.”

Die Reaktionen der palästinensischen Autonomiebehörde und der Hamas auf den IGH-Beschluss waren erwartungsgemäß positiv; die Hamas forderte seine Umsetzung durch den UN-Sicherheitsrat und bekundete ihre Bereitschaft, internationale Untersuchungen zu den Völkermordvorwürfen gegen Israel unterstützen zu wollen. Wenig überraschend wurde der Beschluss in Israel unter Verweis auf das Selbstverteidigungsrecht des Staates weitgehend abgelehnt, auch wenn die Opposition durchaus Kritik an den scharfmacherischen und hetzerischen Äußerungen verschiedener Vertreter der Regierungsparteien übten, welche den Vorwürfen Südafrikas Vorschub geleistet hätten. Dass dies nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, zeigt die Stellungnahme des deutschen IGH-Richters Georg Nolte, der die 13:2-Beschlüsse des Gerichts trotz massiver offensichtlicher Bauchschmerzen bezüglich der Genozid-Vorwürfe gegen Israel schließlich doch mittrug. 

Bereits wenige Tage zuvor, am 20. Mai 2024, hatte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, verlautbaren lassen, dass seine Behörde Haftbefehle für den Chef der Hamas im Gaza-Sreifen, Yahya Sinwar, den Befehlshaber der Qassam-Brigaden der Hamas, Mohammed Al-Masri, sowie den Anführer der Hamas, Ismail Haniyeh, beantrage (wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord, Geiselnahme, Vergewaltigung, Folter und anderer Kriegsverbrechen); Gleiches gilt für den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu und Verteidigungsminister Gallant (u.a. wegen Aushungerung und Angriffen auf Zivilisten, Mord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit). 

Diese Ankündigung führte nun in Israel zu einhelliger Ablehnung, vor allem aufgrund der faktischen Gleichsetzung der Vertreter eines demokratischen Rechtsstaates, der sich gegen den Terrorismus der Hamas verteidigt, mit eben diesen Terroristen. Entsprechend gibt es nun Überlegungen, wie man sich gegen die aus dieser Sicht anmaßende und rechtsverdrehende Übergriffigkeit des IStGH/ICC wehren könnte. (Israel ist zwar kein Mitglied des ICC-Status, aber Haftbefehle des ICC müssen eigentlich von allen Mitgliedsstaaten ausgeführt werden, also auch z.B. von Deutschland). Zu den Vorschlägen gehören etwa eine Gesetzgebung zum Schutz (und im Zweifel zur Befreiung) israelischer Militärangehöriger nach dem Muster des US-amerikanischen Service-Members Protection Act, bilaterale Abkommen mit westlichen Partnerländern zum Schutz vor Verhaftungen von Israelis im Ausland sowie eine Kampagne für einen Massenaustritt aus dem ICC-Statut.

Es ist entsprechend offensichtlich, dass die Aussichten auf eine praktische Umsetzung der Beschlüsse des IGH und des ICC (sofern die Haftbefehle tatsächlich ausgestellt werden) gering sind. Nicht nur verfügen beide Gerichte über keinen Durchsetzungsapparat und sind auf die Kooperation der Staaten angewiesen; im Zweifel dürfte auch beim Versuch einer Realisierung über den UN-Sicherheitsrat als einzigem befugten und (theoretisch) ausreichend mächtigen Gremium ein US-amerikanisches Veto zugunsten Israels ins Spiel kommen.  

Außerdem ergeben sich sicherlich rechtssystematische Probleme, etwa dahingehend, dass der ICC eigentlich nur komplementär zur nationalen Justiz tätig werden kann, d.h. erst dann, wenn die staatlichen Behörden bei der Verfolgung von Kriegsverbrechern versagen; ob diese Residualkompetenz im Falle Israels überhaupt sticht, wäre noch zu klären. Außerdem wird klar, dass die Interpretation, welches Vorgehen unter welchen Umständen als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu werten ist, durchaus gewisse Spielräume aufweist, gerade im Kontext der militärischen Selbstverteidigung gegen bewaffnete Angriffe. Analog dazu stellt sich bezüglich des IGH-Beschlusses die Frage nach der konkreten Definition des in der Genozid-Konvention festgelegten Ziels der Vernichtung eines „Teils“ einer Gruppe. Dies wäre spätestens bei der Urteilsfindung über den Völkermordvorwurf gegen Israel wohl notwendig, oder um es kaltherzig zu sagen: Erfüllt – gegeben, man geht von bislang rund 35.000 Toten (Zivilisten und Hamas-Kämpfer) im Gaza-Streifen bei einer Bevölkerung von geschätzt rund zwei Millionen Einwohnern des Gebietes vor Beginn der jüngsten Kämpfe aus – ein Anteil von unter zwei Prozent das Kriterium eines ausreichend großen „Teil“ einer verfolgten Gruppe, und lässt sich aus der dann – wiederum ganz zynisch – abzuleitenden „Ineffizienz“ der IDF beim Töten von Palästinensern eine nachzuweisende Vernichtungsabsicht ableiten?

Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass der IGH mit seinen Verweisen auf die humanitäre Lage im Gaza-Streifen offenbar u.a. implizit Aussagen über die Kollateralschadenregel des humanitären Völkerrechts macht, welche zivile Opfer im Krieg als völkerrechtlich durchaus vertretbar ansieht, sofern das eigentliche militärische Ziel entsprechend wichtig ist und alles getan wird, um die Zivilisten zu schonen, so wie es die israelische Seite immer behauptet. Problematisch daran ist, dass der IGH sich im vorliegenden Fall des formalen Rechtsstreites zwischen Südafrika und Israel nur auf die Genozid-Konvention berufen kann, das humanitäre Recht im bewaffneten Konflikt aber gar nicht sein eigentliches Metier (sondern dasjenige des ICC) ist. Die Art und Weise seiner Begründungen hinsichtlich der vorsorglichen Reduzierung aller Risiken eines tatsächlichen Genozids könnte somit an seiner eigentlichen Kompetenz vorbeigehen und zeigt zumindest die Unschärfen und die schwierige bis unmögliche praktische Trennbarkeit verschiedener Aspekte der rechtlichen Regulierung internationaler Gewaltanwendung.  

Schließlich ist der Beschluss des IGH auch noch deshalb schwierig, weil noch nicht einmal der Text der Anordnung eindeutig ist, wie ebenfalls wiederum anhand der verschiedenen Zusatzstellungnahmen von IGH-Richtern ersichtlich ist. So gibt es die Lesart, dass Israel die Rafah-Operation sofort und in Gänze einzustellen hat; eine Gegenposition dazu lautet, dass diese nur insoweit zu stoppen ist, als sie tatsächlich die Gefahr beinhaltet "(to) inflict on the Palestinian group in Gaza conditions of life that could bring about its physical destruction in whole or in part". Eine solche Ambiguität war vielleicht als Formelkompromiss für die Beschlussfassung notwendig und damit gewissermaßen eine diplomatische Meisterleistung des Gerichts. Hinsichtlich der Klarheit und Verbindlichkeit seiner Anordnung ergeben sich jedoch offenbar deutlich Mängel. 

Interessanter und zugleich bedenklich sind aber vor allem die politischen Implikationen dieser juristischen Aktivitäten, denn obwohl aus einer mehr oder weniger naiven rechts- und rechtsstaatsorientierten Perspektive Gerichtsbeschlüssen etwas Endgültiges innewohnt und sie unbedingt umzusetzen sind, sind sie gerade im internationalen Kontext mittlerweile weniger eine etablierte Möglichkeit zur Streitbeilegung als vielmehr ein Instrument der Konfliktaustragung. Obwohl es ähnliche Tendenzen auch im innerstaatlichen Bereich gibt, wie die laufenden Strafprozesse gegen Donald Trump augenfällig belegen, wird mittlerweile der Gerichtsweg gerade in internationalen Konflikten vermehrt zu einem Teil hybrider Kriegführung, bei dem nicht die Streitlösung durch den Richterspruch das Ziel ist, sondern die möglichst effektive Schädigung der Gegenpartei. Das Recht wird damit zu einer Waffe im Krieg. Goldenziel (2021) fast diesen Ansatz der “lawfare” folgendermaßen zusammen: „Unable or unwilling to challenge other states militarily, states and non-state actors use legal strategies to weaken the enemy’s legitimacy. Such ‘lawfare’ can be used to achieve a kinetic objective, to forestall one, to degrade the enemy’s will to fight, and to shape the narrative of war.” 

In einem solchen Zusammenhang wird schnell deutlich, dass die angestrebte Neutralität von Gerichten letztendlich eine Illusion ist, selbst wenn sie in bester Absicht und möglichst nah an der gängigen Rechtslage argumentieren. Zumindest hinsichtlich der politisch-strategischen Wirkung werden Gerichtsbeschlüsse im Rahmen von „lawfare“ immer eine faktische Parteinahme implizieren: So würde eine tatsächliche Einstellung der israelischen Offensive gegen Rafah zweifellos militärische und propagandistische Vorteile für die Hamas nach sich ziehen; und auch die beantragten Haftbefehle des ICC würden wohl keineswegs als Ausdruck eines möglicherweise gegebenen Bemühens des ICC-Staatsanwalts um größtmögliche Neutralität angesehen werden. Vielmehr würden auch sie der Hamas letztlich in die Hände spielen, nachdem sie die israelische Führung diskreditieren und delegitimieren. – Von der Hamas erwartet wohl ohnehin niemand, dass sie sich an Regeln des humanitären Völkerrechts hält. 

Unabhängig von ihrem guten Willen lassen sich internationale Gerichte wie des IGH und des ICC also angesichts der grundlegenden Struktur des Völkerrechts und seiner Institutionen sowie der aktuell zunehmenden hybriden Kriegführung von Konfliktparteien instrumentalisieren – und können es wahrscheinlich gar nicht verhindern. Damit aber lösen sie nicht nur gerade diejenigen Streitigkeiten nicht, zu deren Beilegung sie beitragen sollen und für die sie überhaupt erst geschaffen wurden – sie delegitimieren und unterminieren die ohnehin fragile internationale Rechtsordnung per se.

   

Literatur/Links

Goldenziel, Jill I. (2021): Law as a Battlefield: The U.S., China, and the Global Escalation of Lawfare. Cornell Law Review 106 (5): 1085-1171, https://live-cornell-law-review.pantheonsite.io/wp-content/uploads/2021/09/Goldenziel-final11234.pdf .