Von neun zu zehn Strichen: China unterstreicht seine Territorialansprüche

Am 28. August hat das chinesische Ministerium für natürliche Ressourcen eine neue offizielle Karte des chinesischen Staatsgebietes inklusive der mit den Nachbarstaaten umstrittenen Gebiete veröffentlicht. Im Unterschied zur altbekannten Grenzziehung zur See, welche durch die berühmt-berüchtigte „Nine-Dash-Line“ bezeichnet wird, weist die neue Karte nun eine „Ten-Dash-Line“ auf, indem nicht nur praktisch das gesamte Südchinesische Meer als chinesisches Territorium vermerkt ist, sondern nun auch die Gewässer um Taiwan, indem ein zehnter Strich östlich der von der Volksrepublik als integraler Bestandteil betrachteten Insel eingezeichnet worden ist. Damit gerät auch die nordwestliche Philippinensee ins Blickfeld chinesischer Ansprüche und verstärkt damit potenziell den mit den Philippinen bestehenden Territorialkonflikt um Teile des Südchinesischen Meers, der im Übrigen auch vor allem Vietnam und Malaysia betrifft. Desweiteren werden das Aksai-Chin-Plateau und der indische Bundesstaat Arunachal Pradesh (als „Südtibet“) als chinesisches Territorium vermerkt, was von Indien naturgemäß heftig bestritten wird. 

Entsprechend haben die Regierungen der Philippinen, Indiens, Malaysias und Vietnams nachdrücklich in Peking protestiert. Gleiches gilt für Taiwan, welches sich nicht als Teil der Volksrepublik sieht, auch wenn es seine Unabhängigkeit bislang nicht formal erklärt hat. Die chinesische Führung hingegen erachtet den Vorgang als übliches legitimes und nach innerstaatlichem Recht legales Vorgehen und mahnt die betroffenen Staaten, nicht zu überreagieren und die Ruhe zu bewahren. Tatsächlich ist die „Ten-Dash-Line“ keineswegs völlig neu, sondern wurde bereits vor zehn Jahren in kartographischen Werken der Volksrepublik vermerkt; damals fiel die Aufregung darüber jedoch, insbesondere in den Philippinen, jedoch deutlich schwächer aus. 

Tatsächlich ist aber das Timing der Veröffentlichung der Karte interessant. Zum einen geschieht sie kurz vor den anstehenden Gipfeltreffen der ASEAN-Staaten in Jakarta (5.-7.9.2023), bei dem es neben der Frage des Bürgerkrieges in Myanmar auch um die gemeinsame Position gegenüber China gehen dürfte, und der G20 in Neu-Delhi (9.-10-9-2023), und kurz nach dem Treffen der BRICS-Staaten in Johannesburg (22.-24.8-2023), bei dem eine neue, „fairere“ Weltordnung und eine Erweiterung der Gruppe um voraussichtlich sechs Staaten (Iran, Saudi-Arabien, Ägypten, Äthiopien, Argentinien und die VAR) beschlossen wurde. Von der demonstrierten grundsätzlichen Einigkeit der BRICS, insbesondere der vor allem von Russland und China getragenen antiwestlichen, d.h. antiamerikanischen Solidarität ist angesichts des kartographischen Affronts gegen Indien nicht mehr viel zu sehen; entsprechend gibt es Anzeichen dafür, dass Xi Jinping sich beim G20-Gipfel vom chinesischen Premierminister vertreten lassen wird. Die Publikation der amtlichen Standardkarte der Volksrepublik China just in diesem Augenblick lässt sich damit zugleich als deutlicher Hinweis auf die weiterbestehende unabhängige Haltung Chinas und die kompromisslose Vertretung seiner nationalen Interessen sowie als Warnung gegenüber den Nachbarstaaten verstehen, sich bloß nicht noch weiter gegen China zu organisieren

Dies verbindet sich nahtlos mit einem zweiten Aspekt: Wohl nicht zuletzt vor dem Hintergrund der gegenwärtigen wirtschaftlichen Probleme Chinas, ihren fundamentalen strukturellen Ursachen und deren potenziell gravierenden, wenngleich unter Wirtschaftsexperten umstrittenen langfristigen Bedeutung für die internationale Position des Landes und die innenpolitische Legitimation der Kommunistischen Partei verfolgt die chinesische Führung in den letzten Monaten einen verstärkt aggressiven Kurs, sei es als Antwort auf den faktisch von den Vereinigten Staaten geführten Wirtschaftskrieg gegen China, etwa durch Ausfuhrbeschränkungen von Gallium und Germanium als Reaktion auf den „Chip War“ der USA, sei es durch eine zunehmend handfeste Durchsetzung der eigenen Ansprüche im Südchinesischen Meer, etwa gegenüber den Philippinen. So werden beispielsweise philippinische Fischer in den von China beanspruchten Gewässern zunehmend abgedrängt und die philippinische Küstenwache mit Wasserkanonen und Lasern beeinträchtigt. 

Es bleibt abzuwarten, inwieweit Xis offenkundiges Bestreben, durch ein starkes Auftreten nach außen von den ökonomischen Problemen im Inland abzulenken (quasi den in der Politikwissenschaft bekannten "rally-round-the-flag effect" zu nutzen) und die Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres von Widerstand gegenüber den chinesischen Territorialambitionen abzuschrecken. Die Tendenz der philippinischen Regierung, sich wieder stärker an die USA zu binden, etwa durch eine intensivierte militärische Kooperation einschließlich des Zugangs der US-Streitkräfte zu mehr Stützpunkten in den Nordphilippinen, deutet darauf hin, dass die symbolische Machtdemonstration Pekings mittels der neuen Karte auch nach hinten losgehen könnte.