Italienische Opfer deutscher Kriegsverbrechen werden entschädigt – von Italien

In den nächsten Tagen oder Wochen werden nun wohl die ersten (nach italienischem Recht möglichen) Entschädigungszahlungen an die Erben von Opfern deutscher Kriegsverbrechen in Italien aus den Jahren 1943 bis 1945 erfolgen. Zu den ersten dürften die Nachkommen von sechs Zivilisten in der knapp 200 Kilometer südöstlich von Rom gelegenen Kleinstadt Fornelli gehören, die im Oktober 1943 von deutschen Truppen zur kollektiven Bestrafung für den Tod eines deutschen Soldaten gehängt wurden. 2020 sprach ihnen ein italienisches Gericht insgesamt eine Entschädigungssumme von 12 Mio. Euro zu. Ironischerweise werden diese Zahlungen, welche als materielle Kompensation von Gräueltaten von Wehrmacht, SS und Polizei dienen werden, nicht von der Bundesrepublik Deutschland geleistet, sondern vom italienischen Staat. 

Ursache hierfür ist der quasi unabhängige Charakter des Völkerrechts von innerstaatlichem Recht und damit nationaler Jurisdiktion. Zwar haben italienische Gerichte sehr zum Unwillen der Bundesregierung immer wieder Klagen auf Entschädigung für deutsche Kriegsverbrechen in Italien zugelassen, doch die Rechtsprechung oder gar Urteilsvollstreckung, etwa in Form einer Beschlagnahme deutschen Eigentums (oder desjenigen des deutschen Staates) widerspricht laut einem von der Bundesrepublik gegen Italien angestrengten Urteil des Internationalen Gerichtshofs von 2012 dem Grundsatz der Staatenimmunität. Danach kann ein Staat (als Völkerrechtssubjekt) nur von einem anderen Staat juristisch belangt werden, etwa durch eine Klage vor dem IGH (sofern sich der betreffende Staat dessen Statut unterworfen hat), jedoch nicht von innerstaatlichen Institutionen wie Gerichten, denen die Völkerrechtssubjektivität abgeht. 

Für die italienische Regierung resultierte dies in einem schwierigen Dilemma: Auf der einen Seite ist sie natürlich an die Rechtsprechung italienischer Gerichte gebunden, auf der anderen Seite kann sie nicht völkerrechtswidrig handeln, will sie ihre internationale Vertrauenswürdigkeit und das Verhältnis zu einem der wichtigsten Partnerländer Italiens aufs Spiel setzen, zumal die Bundesrepublik 2022 in der Sache erneut vor den IGH zog. Hintergrund hierfür war, dass das italienische Verfassungsgericht 2014 ein in Anschluss an das IGH-Urteil erlassenes italienisches Gesetz kassierte, wonach italienischen Gerichten die Zuständigkeit für Entschädigungsfragen bezüglich deutscher Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges entzogen werden sollten, als verfassungswidrig, da es den garantierten Zugang der Bürger zu den Gerichten und damit die Rechtsstaatlichkeit beeinträchtige. 

Italienische Gerichte nahmen danach weiter entsprechende Klagen italienischer Staatsbürger an, und die Bundesregierung reagierte mit der neuerlichen Klage und einem Eilantrag beim IGH gegen die drohende Beschlagnahme deutscher Liegenschaften in Italien, der nach wenigen Tagen wieder zurückgezogen wurde. Denn die italienische Regierung beschloss daraufhin ein Dekret, wonach auf deutschen Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs basierende Entschädigungsklagen nurmehr bis Frühjahr 2022 – die Frist wurde später auf 2023 verlängert – zulässig sind. Zudem wurde ein Entschädigungsfonds im Umfang von 55 Mio. Euro beschlossen, aus dem nun die ersten Mittel fließen sollen – wohlgemerkt aus dem italienischen Staatshaushalt.

Theoretisch könnte nun die italienische Regierung als Repräsentantin des Völkerrechtssubjekts Italien ihrerseits die Bundesrepublik Deutschland vor dem IGH anklagen, um die Reparationsforderungen für die deutschen Kriegsverbrechen durchzusetzen. Schließlich wird die Zahl der Opfer deutscher Kriegsverbrechen nach Recherchen einer 2009 vom Auswärtigen Amt und vom italienischen Außenministerium eingesetzten Historikerkommission, die 2012 ihren Abschlussbericht ablieferte (vorsichtig) auf rund 10.000 bis 15.000 bei Massakern und Geiselerschießungen ermordete Zivilisten und 30.000 Opfer bei den italienischen Partisanen (denen etwa die gleich Zahl an Verlusten der faschistischen italienischen und deutschen Truppen gegenüberstand). 

Hinzu kommen geschätzt 25.000 bis 26.000 tote italienische Soldaten, welche von den Deutschen im Zuge der Entwaffnung und Gefangennahme der italienischen Streitkräfte nach dem italienischen Waffenstillstand mit den Alliierten vom 8. September 1943 bei Kampfhandlungen mit den Deutschen getötet wurden, bei Gefangenentransporten starben (etwa infolge des Sinkens überladener oder von den Alliierten bombardierter Schiffe) oder einfach als „Verräter“ liquidiert wurden. Von den 725.000 bis 810.000 Italienern, die 1943 in deutsche Gefangenschaft gerieten – über eine Million italienischer Soldaten legte nach dem 8.9.1943 die Waffen nieder – starben weitere rund 25.000 an Entbehrungen in Lagern, an Unterernährung oder als Zwangsarbeiter in der deutschen Rüstungsindustrie. Nach der Ausrufung von Mussolinis „Repubblica Sociale Italiana“ (Republik von Salò) Ende September 1943 änderten die Deutschen den rechtlichen Status der zunächst als Kriegsgefangene betrachteten italienischen Soldaten, welche nicht für das neue faschistische Marionettenregime zu gewinnen waren, in den von „Militärinternierten“ – und entzogen ihnen damit auch formal die völkerrechtlich verbrieften Rechte von Kriegsgefangenen (obwohl Italien Deutschland am 13. Oktober 1943 formell den Krieg erklärte).

Doch neben politischen Erwägungen wie dem zu erwartenden Schaden in den bilateralen Beziehungen und der Sorge um ein Aufbrechen innergesellschaftlicher Konflikte – nach 1945 wurde die zwiespältige italienische Geschichte des Faschismus weitgehend durch Stillschweigen und ein unausgesprochenes Ignorieren der gegenseitigen Verletzungen und Verbrechen von Faschisten und Antifaschisten zugunsten eines Kollektivbildes Italiens als Opfer Nazideutschlands quasi beigelegt, wofür etwa die „Togliatti-Amnestie“ von 1946 steht – stehen auch simple völkerrechtliche Fakten einer italienischen Klage gegen Deutschland entgegen: Zwar ist das Völkerrechtssubjekt Bundesrepublik Deutschland auch nach eigenem Verständnis identisch mit dem Deutschen Reich – vergleichbar mit Frankreich, welches seine Völkerrechtssubjektivität mit dem Übergang etwa von der Monarchie des Kaiserreichs zur Dritten oder vom Vichy-Regime zur Vierten oder danach Fünften Republik nicht verloren hat, obwohl sich das politische System deutlich änderte – und hat sich dem Statut des Internationalen Gerichtshofs unterworfen. Doch diese Unterwerfung ist bekanntlich durch zwei Vorbehalte beschränkt: Zum einen ist da der „doppelte Streitkräftevorbehalt“, wonach Aktivitäten deutscher Streitkräfte im Ausland und die Folgen der Nutzung deutschen Hoheitsgebietes durch ausländische Streitkräfte (etwa der NATO) nicht vor dem IGH justitiabel sind. Zum anderen betrifft die Unterwerfung nur Rechtsstreitigkeiten, welche ihre Ursache zeitlich erst nach der Unterwerfungserklärung haben. Das schließt Fragen als Folge des Zweiten Weltkrieges offensichtlich aus. 

Italien kann Deutschland ohne dessen Zustimmung also gar nicht vor dem IGH verklagen. Und dass eine solche Zustimmung nicht zu erwarten wäre, ist offenkundig: Die Bundesregierung hält die Reparationsfrage für abschließend geregelt, sei es durch den Zwei-plus-vier-Vertrag von 1990 (bei dem Italien aber gar kein Vertragspartner ist) oder allgemeine Verjährungsannahmen (welche völkerrechtlich nirgends klar niedergelegt sind), sei es durch die Leistung von 40 Mio. DM im Rahmen des Globalabkommens mit Italien zur Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus (welches jedoch keine klassischen Kriegsverbrechen umfasste, welche damals noch nicht vollständig bekannt oder deutscherseits als solche anerkannt waren) und andere Wiedergutmachungsleistungen. Ob dabei auch der Reparationsverzicht Italiens im Friedensvertrag mit den Alliierten von 1947 relevant ist, muss hier offen bleiben.

Abgesehen von der nicht völlig überzeugenden deutschen Rechtsposition wird die Bundesregierung auch deshalb ein Verfahren vor dem IGH tunlichst vermeiden wollen, weil damit ein Präzedenzfall drohen würde, der auch von anderen Staaten Klagen auf Reparationen nach sich ziehen könnten, mit massiven finanziellen und diplomatischen Konsequenzen. Man denke etwa an die immer wiederkehrenden (und juristisch unterschiedlich zu bewertende) Entschädigungsforderungen Griechenlands oder Polens, welche zweifellos ungleich höher wären als der zweistellige Millionenbetrag, um den es im italienischen Fall wohl geht, bis hin zu dreistelligen Milliardenbeträgen.      

Eben hierin liegt aber auch ein zusätzliches Motiv der italienischen Regierung, die Entschädigungsfrage der deutschen Kriegsverbrechen in Italien möglichst schnell und geräuschlos abschließend zu lösen. Denn auch Italien könnte sich im Falle einer deutschen Verurteilung durch den IGH selbst mit entsprechenden Forderungen konfrontiert sehen, sei es von Äthiopien (als Ziel der italienischen Aggression gegen das damalige Äthiopien 1935 und der anschließenden brutalen Besatzungspolitik), sei es von Griechenland als Opfer des italienischen Angriffs von 1940 und der deutsch-italienischen Besatzung 1941-43.