Wieder Krieg im Kaukasus?
Erst in den letzten Wochen haben wird eine seit langem schwelende Krise vermehrt in der medialen Berichterstattung hierzulande wahrgenommen: der Konflikt zwischen Aserbeidschan und Armenien um die mehrheitlich von Armeniern bewohnte aserbeidschanische Grenzregion Berg-Karabach, der wieder zum offenen Krieg zu eskalieren droht. Bekanntlich wurde die seit dem Krieg im Zuge der Auflösung der Sowjetunion 1988-1994 mitsamt ihren Nachbargebieten von Armenien kontrollierte Region in einem rund eineinhalb Monate dauernden Krieg 2020 von Aserbeidschan zu großen Teilen zurückerobert, einem Krieg, der nicht zuletzt deshalb Furore machte, weil er zum ersten Mal den umfang- und erfolgreichen Einsatz von (von der Türkei und Israel gelieferten) Drohnen sah, welche heute ein so große Rolle im russisch-ukrainischen Krieg spielen. Ein völliger Sieg Aserbeidschans wurde damals quasi in letzter Minute durch die Intervention Russlands als Verbündetem Armeniens verhindert, das einen Waffenstillstand, die Stationierung einer russischen Friedenstruppe in den umstrittenen Gebieten und die Schaffung eines Verbindungswegs zwischen Aserbeidschan und der aserbeidschanischen Exklave Nachitschewan an der armenisch-türkischen Grenze vorsah. Seitdem ist die Lage gespannt geblieben, mit immer wieder auch in größerem Stil aufbrechenden Kämpfen zwischen armenischen und aserbeidschanischen Streitkräften. Parallel dazu laufen seit Jahren Friedensgespräche zwischen beiden Seiten, die mittlerweile vor allem von der Europäischen Union vermittelt werden, aber bislang fruchtlos geblieben sind. Dies liegt zum einen daran, dass Aserbeidschan einen speziellen, garantierten Autonomiestatus der Armenier ablehnt und sich Armenien seinerseits weigert, einen Korridor („Sangesur-Korridor“) zwischen Aserbeidschan und Nachitschewan einzurichten, von dem befürchtet wird, dass er einen Streifen armenischen Territoriums an der Grenze zum Iran faktisch in aserbeidschanische Hand geben würde.
In den letzten Monaten macht Aserbeidschan nun immer mehr Anstalten, dem „unfinished business“ von 2020 ein gewaltsames Ende zu machen. So ist der zentrale Verbindungsweg zwischen Armenien und Berg-Karabach, der sogenannte „Latschin-Korridor“ seit Anfang 2023 praktisch blockiert worden, so dass die Bevölkerung der de facto armenischen Exklave so massiv in Versorgungsschwierigkeiten, u.a. bei Nahrungsmitteln und Medikamenten, geriet, das bereits von einem drohenden Genozid die Rede war. Zugleich mehrten sich die Hinweise darauf, dass immer mehr aserbeidschanische Truppen an der Grenze zu Armenien zusammengezogen werden. Auf armenischer Seite wiederum wird vermehrt vor einer neuerlichen Eskalation gewarnt, während das Parlament der selbsternannten und von Aserbeidschan nicht anerkannten "Republik Arzach" (Berg-Karabach) dahingehend Öl ins Feuer goss, dass es am 9. September einen neuen Präsidenten wählte.
Auf intensive Bemühungen der Europäischen Union, des Roten Kreuzes, Frankreichs, Deutschlands, der USA und wohl auch Russlands und des Iran hin wurde nun unter Zustimmung der neuen Führung von Arzach vereinbart, den Latschin-Korridor wieder für Transporte des russischen Roten Kreuzes zu öffnen und weitere Hilfslieferungen von Aserbeidschan aus zu ermöglichen. Gleichwohl geht das Säbelrasseln weiter, und es wurde bekannt, dass Armenien, das in den letzten Monaten offenbar umfangreiche Lieferungen moderner Waffen aus dem Iran, Indien, Russland und wohl auch Frankreich erhalten hat oder wird, gemeinsame Militärmanöver mit den USA plant. Ein Manöver des von Russland dominierten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) wurde Anfang 2023 von Armenien – 2002 neben Russland, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan (das 2012 austrat) eines der Gründungsmitglieder der OVKS – abgesagt. Aserbeidschan rüstet mittlerweile weiter mit Hilfe der Türkei, Israels und Pakistans auf.
Tatsächlich ist die geopolitische Lage in der Region komplex, weil eine ganze Reihe von anderen Akteuren von dem armenisch-aserbeidschanischen Konflikt betroffen sind bzw. eigenen politischen und strategischen Profit daraus schlagen wollen:
Russland ist damit konfrontiert, dass seine Dominanz im postsowjetischen Raum nicht erst in Folge des wenig erfolgreichen Krieges gegen die Ukraine zusehends untergraben wird, und zwar durch das ökonomische, diplomatische und militärische Engagement von Akteuren wie China bzw. die EU (als mittlerweile Hauptvermittler im Berg-Karabach-Konflikt) und Regionalmächte wie den Iran und die Türkei. Armenien vertraut offensichtlich dem Schutz durch die Russische Föderation nicht mehr und wendet sich zunehmend dem Westen zu. Ausschlaggebend hierfür dürfte nicht zuletzt das allzu späte Engagement Russlands im Krieg von 2020 gewesen sein, welches letztlich auch nicht armenischen Interessen (außer der Verhinderung einer totalen Niederlage der Armenier), sondern vor allem dazu diente, in Form der russischen „Friedenstruppen“ weiterhin in Aserbeidschan präsent zu bleiben. Die russische Führung sieht sich damit einer fundamentalen Gefährdung ihrer Glaubwürdigkeit und Position im „nahen Ausland“ gegenüber und dürfte einer Eskalation des Konflikts zwischen Aserbeidschan und Armenien kaum tatenlos zusehen können, will sie nicht ihren Einfluss im Kaukasus (und darüber hinaus) endgültig an die Nachbarstaaten und den verhassten Westen verlieren. Nicht zuletzt ist Armenien auch eine wichtige Durchgangsroute für iranische Waffenlieferungen, welche für Russland im Kampf gegen die Ukraine eine große Rolle spielen (Drohnen). Russland müsste trotz seiner größtenteils in der Ukraine gebundenen Kräfte im schlimmsten Fall wohl auch militärisch in einen aserbeidschanisch-armenischen Krieg eingreifen.
Für den Iran besteht trotz der bestehenden ethnisch-religiösen Verbindungen bereits seit längerem eine potenzielle, von Aserbeidschan ausgehende strategische Bedrohung. Einerseits würde die tatsächliche Einrichtung des Sangesur-Korridors bedeuten, dass die direkte Landverbindung zu Russland als (vor dem Hintergrund westlicher Sanktionen) wichtigem Handelspartner unterbrochen würde. Andererseits sieht die iranische Führung in Aserbeidschan einen Verbündeten von Konkurrenten bzw. Erzfeinden des Iran, nämlich der Türkei und Israels, und hat entsprechend wohl auch klare militärische Drohungen für den Fall einer aserbeidschanischen Offensive gegen Berg-Karabach und Armenien geäußert, abgesehen davon, dass die militärische Kooperation mit Armenien verstärkt wurde. An dieser Konstellation ändern auch Versuche einer bilateralen Verständigung zwischen Teheran und Baku nichts.
Israel engagiert sich an der Seite Aserbeidschans wohl vor allem deshalb, weil es dadurch den nichterklärten Hybridkrieg gegen den Iran vorantreiben kann. Aus israelischer Sicht müssen die regionalen Ambitionen des Iran und damit ein weiterer, für Israel gefährlicher Macht- und Einflussgewinn des iranischen Regimes mit (fast) allen Mitteln bekämpft werden. Entsprechend wird auch der Iran als wesentlicher Treiber der Kaukasus-Krise betrachtet, und der Gegner Irans, hier also Aserbeidschan, muss unterstützt wurden.
Für die Türkei, welche bekanntlich angesichts des (von Ankara bestrittenen) Völkermords von 1915/16 historisch ohnehin ein alles andere als gutes Verhältnis zu Armenien hat, ist die Unterstützung Aserbeidschans ein Chance, ihren Einfluss in der turksprachigen Welt auszubauen und ihre regionalen neoosmanischen Machambitionen voranzutreiben. Neben der Verbesserung der eigenen Position im regionalen Konkurrenzkampf mit dem Iran gehört dazu auch deren Verbesserung gegenüber Russland als bislang dominierender Kraft im Kaukasus. Zugleich würde die Errichtung des Sangesurkorridors die Möglichkeit einer direkten Erdgaspipeline zwischen Aserbeidschan und der Türkei unabhängig von Russland bedeuten, welche die Türkei (neben der Sicherung der eigenen Energieversorgung) als geopolitischen Dreh- und Angelpunkt der europäischen Energieversorgung und damit das Gewicht gegenüber der EU stärken würde. Dass man dabei teilweise auch in Opposition zu den USA (die etwa bezüglich der Frage der Kurden in Syrien eine konträre Haltung vertreten) und beispielsweise Frankreich (das ein Hauptunterstützer Griechenlands in dessen Territorialkonflikt mit der Türkei im östlichen Mittelmeer ist) gerät, dürfte Präsident Erdogan dabei nicht unrecht sein, unterstreicht es doch die Eigenständigkeit und den Anspruch der Türkei auch gegenüber den NATO-Verbündeten.
Die USA sehen im Konflikt um Berg-Karabach wohl zum einen ein gefährliches und zu entschärfendes Eskalationspotenzial in einer geo- und energiepolitisch sensiblen Weltregion und werden zum Teil auch von der nicht unerheblichen pro-armenischen Lobby in den Vereinigten Staaten beeinflusst. Zum anderen bietet die Zusammenarbeit mit Armenien eine Möglichkeit, den russischen Einfluss in der Region weiter zurückzudrängen und potenziell auch unliebsamen türkischen Ambitionen entgegenzuwirken. Dass man demgegenüber mehr oder weniger im gleichen Boot mit dem Iran sitzt, mag für die stille Diplomatie der USA bezüglich des iranischen Nuklearprogramms von Nutzen sein
Die EU schließlich dürfte vordringlich an einer friedlichen Lösung des Konfliktes und einer Entschärfung der weiteren regionalen Konkurrenzsituationen interessiert sein. Damit verbunden wäre sicher auch eine internationale Aufwertung der EU als politische Größe. Zumindest einige Staaten wie Frankreich sehen darüber hinaus möglicherweise die Chance, das eigene diplomatische Gewicht in der Region zu stärken und Druck auf Russland auszuüben, sich etwa im Fall der Ukraine kooperativer zu verhalten.
Andere Staaten wie Indien und Pakistan, die über Waffenlieferungen an beide Seite ihren bilateralen Konflikt weiterführen, sind ebenfalls an der Region interessiert, sei es aus wirtschafts-, energie- sowie machtpolitischen, sei es aus prestigebezogenen oder ideologischen Gründen. Ungeachtet der Frage, ob sich in der konkreten aktuellen Situation weiteres Blutvergießen verhindern lässt, wird damit deutlich, dass es bei der Auseinandersetzung um Berg-Karabach um deutlich mehr geht als um einen bilateralen ethnischen Konflikt.