Putin hält sich den Rücken frei: Konfliktpause im Kaukasus

Bislang ist die Eskalation des Konfliktes zwischen Aserbeidschan und Armenien ausgeblieben, wenngleich auf Kosten immenser humanitärer Folgen für die Bevölkerung von Nagorno-Karabach. Aserbeidschan hat am 19. September mit der militärischen Rückeroberung der armenisch bewohnten Exklave begonnen; bereits einen Tag später hat die Führung der international nicht anerkannten, selbsternannten „Republik Arzach“ kapituliert und ihre Milizen zur Niederlegung der Waffen verpflichtet. Mittlerweile ist der ehemalige Chef der „Republik“ von aserbeidschanischen Sicherheitskräften verhaftet worden, das autonome Gebiet wird offiziell aufgelöst, und trotz offizieller Zusicherungen Aserbeidschans, dass den Bewohnern von Berg-Karabach nichts geschehen solle, ist der Großteil der Armenier bereits aus dem Land geflohen, je nach Quelle bereits rund 100.000 Menschen von einer ursprünglichen Bevölkerung von geschätzt 120.000. Inwieweit es sich dabei um ethnische Säuberungen handelt, ist umstritten. Diese massive Fluchtbewegung überfordert jedenfalls die Administration und Infrastruktur Armeniens völlig und hat zu einem humanitären Desaster vor allem in Südarmenien geführt. 

Wie sieht vor diesem Hintergrund der strategische und politische Kontext aus; schließlich gehen die beteiligten Akteure und Interessen deutlich über das bilaterale Verhältnis von Armenien und Aserbeidschan hinaus?

Zunächst ist zu betonen, dass der schnelle militärische Erfolg und das fehlende Eingreifen Armeniens einen großen regionalen Krieg offenbar vorerst verhindert hat. Nachdem die armenische Führung und ihre Streitkräfte offenbar weder willens noch fähig zur Unterstützung der „Republik Arzach“ waren und letztere angesichts der militärisch hoffnungslosen Situation so schnell aufgab, erübrigte sich ein neuer Krieg zwischen den beiden Nachbarstaaten. Entsprechend kann Aserbeidschan und mit ihm sein Hauptunterstützer (neben Israel als ebenfalls wichtigem Waffenlieferanten), die Türkei, mit dem Erfolg der Operation, der einen seit dem Zerfall der Sowjetunion andauernden Territorialkonflikt vorerst löst. Armenien muss sich demgegenüber in die undankbare Rolle des militärischen und politischen Verlierers fügen und mit den humanitären und innenpolitischen Folgen fertig werden. 

Zumindest kurzfristig ist wohl Russland trotz allem ein Gewinner der Situation. Zwar hat sich Aserbeidschan gegen einen langjährigen Protegé Moskaus durchgesetzt und die russische Rolle im Kaukasus hat zweifellos gelitten. Doch die Führung Vladimir Putins kann zumindest dahingehend einen Erfolg verbuchen, dass ihr ein intensiveres, auch militärisches Engagement in der Region, etwa durch die Aktivierung des Verteidigungspaktes mit Armenien im Fall eines aserbeidschanischen Angriffs auf offiziell armenisches Territorium, erspart geblieben ist, ein Engagement, das für Russland angesichts des Ukrainekrieges und der Eskalationsgefahren eines Kaukasuskrieges ausgesprochen unerwünscht ist. Die russische Seite hat geschickt auf den – von der armenischen Regierung selbst anerkannten – völkerrechtlichen Status der Region Karabach verwiesen und damit von Anfang der unmittelbaren Krise an klargemacht, dass Russland Armenien im Falle eines Krieges nur um Berg-Karabach ohne Involvierung formal armenischen Territoriums nicht zur Hilfe kommen würde. Zugleich bestrafte Putin damit die 2018 ins Amt gekommene ungeliebte armenische Regierung, die sich mehr und mehr von Moskau ab- und dem Westen zugewandt hat. 

Auch dass die Türkei als Partner Aserbeidschans mit dem Erfolg des letzteren seinen regionalen Einfluss ausbauen dürfte, liegt vielleicht nicht völlig außerhalb des russischen Interesses. Das aktuelle Stillhalten Putins in der Karabach-Frage lässt sich auch als Geste gegenüber Ankara interpretieren, mit dem gewährleistet werden soll, dass Präsident Erdogan dem Kreml weiterhin gewogen bleibt und die wirtschaftlichen Beziehungen sowie das Ausscheren des NATO-Mitglieds Türkei aus dem westlichen Sanktionsregime zugunsten einer teilweisen Vermittlerrolle weitergehen. Zudem ist offenbar Aserbeidschan in den letzten Monaten ebenfalls ein wichtiger Akteur für Russland bei der Umgehung westlicher Sanktionen – etwa durch Gasexporte, welche dann von Aserbeidschan als aus angeblich eigener Förderung stammend in die EU weiterverkauft werden – und der Landverbindung zum bedeutenden Handels- und Rüstungspartner Iran geworden zu sein. Das hat zusätzlich dazu geführt, dass der strategische Wert Armeniens für Russland geringer ist als in der Vergangenheit.

Zudem bewahrt sich Moskau noch immer eine Rolle im Südkaukasus, welche bei einem antidemokratischen Regimewechsel in Jerewan oder einer zumindest gesichtswahrenden Beendigung des Ukrainekrieges auch wieder stärker werden kann: Die russischen „Friedenstruppen“, welche angeblich auch an der Vereinbarung des jüngsten Waffenstillstandes beteiligt waren, bleiben auf aserbeidschanischem und armenischem Gebiet stationiert, nicht zuletzt im Sangesur-Korridor in Südarmenien zwischen Aserbeidschan und dessen Exklave Nachitschewan. Positiv für Moskau dürfte auch die weitgehende Ohnmacht und faktische Nichtbeteiligung des Westens, d.h. der EU und der USA, gegenüber den jüngsten Ereignissen sein. 

Damit bleibt der Iran als regionaler Akteur. Auch wenn es der Führung in Teheran nicht wirklich Recht sein dürfte, dass Aserbeidschan und die Türkei gestärkt aus der gewaltsamen Lösung des Karabach-Konfliktes hervorgehen, sind die bisherigen Ergebnisse wohl akzeptabel, nachdem eben der Sangesur-Korridor armenisch bleibt und damit die Landverbindungen zu Russland nicht völlig von Aserbeidschan (und damit zumindest zum Teil von der Türkei) kontrolliert werden. Letztlich hängt es damit an der Führung Aserbeidschans und deren starken Mann Ilhalm Alijew, ob weitere Eskalationen, beispielsweise durch direkte Gebietsforderungen an Armenien oder gar einen Angriff auf das Nachbarland unterbleiben, bei denen die Karten neu gemischt werden würden. Die Absage eines Treffens mit dem armenischen Regierungschef im Rahmen des anstehenden Gipfeltreffens der Europäischen Politischen Gemeinschaft durch den aserbeidschanischen Präsidenten lässt bezüglich einer nachhaltigen Friedenslösung jedenfalls nichts Gutes ahnen.

Mit der mehr oder weniger stillschweigenden Anerkennung des aserbeidschanischen Sieges und der zumindest teilweisen Opferung des formalen Verbündeten Armenien hat sich Präsident Putin somit zumindest kurzfristig Entlastung in der Kaukasus-Region verschafft, so dass er sich weiterhin auf den Krieg gegen die Ukraine konzentrieren kann. Zusammen mit den beschränkten Erfolgen der ukrainischen Gegenoffensive (nicht zuletzt aufgrund der Eskalationsangst vor allem der Europäer durch allzu umfangreiche Waffenlieferungen), den sichtbar werdenden Brüchen in der westlichen Entschlossenheit, die Ukraine weiterhin zu unterstützen (sichtbar etwa in den jüngsten Wahlen in der Slowakei oder dem republikanischen Widerstand im US-Kongress), der Munitionskrise der NATO und der massiven Verstärkung der eigenen Kriegsanstrengungen (etwa in Form einer deutlichen Aufstockung des diesbezüglichen Etats) scheint es für Putin im Augenblick trotz aller Rückschläge und bisheriger strategischer Fehlkalkulationen nicht ganz schlecht zu laufen.   

Literatur/Links

Broers, Laurence (2023): Russia concedes Karabakh for stake in new regional order. Chatham House Expert Comment, 29. September 2023, https://www.chathamhouse.org/2023/09/russia-concedes-karabakh-stake-new-regional-order .

Dumoulin, Marie/Gressel, Gustav (2023): The war of opportunity: How Azerbaijan’s offensive ahainst Nagorno-Karabakh is shifting the geopolitics of the South Caucasus. European Council on Foreign Affairs Commentary, 28 September 2023, https://ecfr.eu/article/the-war-of-opportunity-how-azerbaijans-offensive-against-nagorno-karabakh-is-shifting-the-geopolitics-of-the-south-caucasus/