Anmerkungen zu "Im Westen nichts Neues"

Ende Oktober ist die erste deutschsprachige Verfilmung von Erich Maria Remarques 1928/29 erschienenen Roman „Im Westen nichts Neues“ von Netflix veröffentlicht worden (Achtung: spoiler alert!). Die bildgewaltige Interpretation des Romans, der bereits zuvor zweimal in den USA verfilmt worden war (1930 und 1979), ist zweifellos in seiner direkten und plastischen Darstellung von Krieg und Gewalt nichts für zartbesaitete Gemüter; umso wertvoller ist sein schonungsloses Aufzeigen menschlichen Leids im Krieg, insbesondere im Kontext einer quasi-industriellen modernen Kriegführung wie im Ersten Weltkrieg. Diese zeigt sich – abweichend von der Romanvorlage – etwa in den brutalen Kampfszenen, in denen sich die deutschen Soldaten mit Tanks und Flammenwerfern konfrontiert sehen. Hier profitiert der Film zweifellos von den Möglichkeiten des aktuellen Kinos, etwa im Vergleich zu den ebenfalls durchaus beeindruckenden oder verstörenden, aber eben durch die Grenzen der Cinematographie und der zeitgenössischen, zuweilen noch allzu stark von der Stummfilmära geprägten Schauspielkunst limitierten Darstellungen des Wahnsinns des modernen Krieges, z.B. in der Version von 1930, im Film „Westfront 1918 – Vier von der Infanterie“ von 1934 oder im dann doch dramaturgisch unerreichten „Paths of Glory“ von 1957. Entsprechend soll „Im Westen nichts Neues“ offenbar auch ins Rennen um die Oscars 2023 gehen. 

Gleichwohl gibt es eine Reihe von Änderungen oder Neuinterpretationen, mit denen sich die Verfilmung vom 2022 deutlich von der Romanvorlage und seinen beiden Vorläufern entfernt:

Erstens werden zentrale Teile des Romans weggelassen. Dies betrifft v.a. das Fehlen der Ausbildung der freiwilligen Soldaten, insbesondere durch den berüchtigten Schleifer Uffz. Himmelstoß, der sich später als sadistischer Feigling erweist, und insbesondere den Heimaturlaub Pauls, in dem sich seine Entfremdung von der Familie und der Gesellschaft in der vom Krieg nur indirekt betroffenen Heimatfront ebenso offenbart wie die Bedeutungslosigkeit oder Menschenverachtung der gängigen patriotischen Parolen, aufgrund derer er in den Krieg gezogen ist. Für eine differenzierte Sichtweise der Tragik des Krieges sind diese Teile eigentlich unverzichtbar.

Zweitens gibt es fundamentale Änderungen im Plot, etwa, was den Tod von Pauls Freund (und im Roman eigentlich Mentor) Kat als auch von Paul selbst angeht. Kat wird nicht von einem verirrten Granatsplitter getötet, sondern durch den Schuss eines Bauernjungen, der sich für den Diebstahl von Eiern durch die Deutschen rächen will, Paul stirbt nicht durch einen Scharfschützen (wie im Film von 1930) oder eine unbestimmte Ursache (wie im Roman), im Zweifel ebenfalls einen zufälligen Granatsplitter, sondern durch das Bajonett eines französischen Soldaten. Zweifellos sollen damit eine zusätzliche ethisch-moralische Ebene (Behandlung der Zivilbevölkerung und Einhalten von Kriegsregeln) eingeführt und für zusätzliche Dramatik der Ereignisse gesorgt werden. Es ist aber unverkennbar, dass damit trotz allem ein Verlust an symbolischer Tiefe und Subtilität verbunden ist, ganz abgesehen davon, dass der Tod Pauls im Kampfgeschehen diametral dem Titel des Romans und seinem Kontext widerspricht. 

Drittens werden in der Neuverfilmung zusätzliche Erzählstränge und Charaktere eingeführt. So werden auch die Waffenstillstandsverhandlungen von Anfang November 1918 und das vergebliche Bitten des deutschen Emissärs Matthias Erzberger gegenüber dem alliierten Oberbefehlshaber Ferdinand Foch um eine sofortige Einstellung der Kampfhandlungen thematisiert, und außerdem das Hauptquartier des durch und durch militaristischen und entsprechend kriegslüsternen (fiktiven) Generals Friedrich, der seine Soldaten in einen letzten sinnlosen Angriff hetzt. Dies sind ohne Frage interessante Ideen, aber im Kontext der eigentlichen Geschichte wirken sie eher störend. So ist Erzberger, der um das Überleben der Soldaten besorgt ist, mit der unnachgiebigen (und letztlich humanitär zweifelhaften) Härte Marschall Fochs konfrontiert, der sich letztlich in ähnlicher Weise als uninteressiert am Schicksal des einzelnen Soldaten als Mensch erweist wie General Friedrich. Was daraus folgt, ist aber einfach eine zusätzliche plakative Überbetonung der Botschaft, dass die Soldaten die Opfer einer den Härten des Krieges enthobenen macht- und ruhmgierigen Klasse von auch politisch relevanten Militärs seien.

Gerade der letztgenannte Punkt führt dann zu einigen historischen Inkonsistenzen, welche dem Film dann einiges von seiner Glaubwürdigkeit als Dokumentation realen Grauens nehmen, zumindest jenseits einer allzu klischeehaften verkürzten Darstellung des Ersten Weltkriegs:

Erstens hat es Angriffe bis buchstäblich zur letzten Sekunde vor dem Waffenstillstand am 11. November 1918 tatsächlich gegeben, aber nicht von deutscher Seite (deren Front sich ohnehin mehr oder weniger kurz vor der Auflösung befand), sondern von alliierter, v.a. US-amerikanischer. Nachdem der US-amerikanische Oberbefehlshaber General Pershing gegen einen Waffenstillstand war, solange die Deutschen noch zu irgendeiner Art von militärischem Widerstand fähig waren, gab er seinen – teilweise ausgesprochen ehrgeizigen – Kommandeuren auch nach Unterzeichnung des Waffenstillstands keine Befehle, sich in den letzten Stunden des Krieges zurückzuhalten. Ähnliches gab es auch an anderen Abschnitten der alliierten Front, so dass im Zuge der weitergehenden Angriffe am 11. November 1918 buchstäblich bis zur letzten Minute des Krieges über 10.000 Soldaten an der Westfront getötet oder verwundet wurden, davon rund 3.500 US-Amerikaner, 1.200 Franzosen und etwa 4.100 Deutsche. Hochrechnungen ergeben, dass, hätte Marschall Foch, wie von Erzberger gefordert, einer Einstellung der Kampfhandlungen während der Waffenstillstandsverhandlungen ab 8. November 1918 zugestimmt, das Leben von über 6.500 Soldaten hätte gerettet werden können. Dass die deutschen Soldaten wie im Film zu einem letzten Angriff ohne Sinn und Verstand gezwungen werden, weil sie ansonsten umgehend standrechtlich erschossen werden, passt im Übrigen nicht zum Ersten Weltkrieg, sondern vielmehr zum Zweiten (etwa mit den fliegenden Standgerichten 1945). 

Zweitens zeichnete sich die Kriegführung im November 1918 nach dem alliierten Durchbruch durch die Siegfried-Linie (bei den Alliierten „Hindenburg-Linie“) Ende September/Anfang Oktober längst durch eine mobilere Kriegführung und ausgedünnte Fronten ohne umfassend ausgebaute Stellungssysteme aus, wie sie im Film gezeigt werden. Bis Anfang November waren die deutschen Truppen weit nach Belgien auf kaum ausgebaute Stellungen zurückgedrängt worden, die Alliierten standen kurz vor Antwerpen und Brüssel. Mit den deutschen Frühjahrsoffensiven und der anschließenden „Hundert Tage“-Gegenoffensive der Alliierten veränderte sich das Kriegsbild des verlustreich monotonen Stellungskrieges zwischen 1915 und 1917 grundsätzlich, sowohl durch neue Infanterietaktiken wie der deutschen Sturmtrupp-Taktik, als auch durch neue Schießverfahren der Artillerie und den Masseneinsatz von Tanks und Flugzeugen. In dem Zeitraum, in dem der Hauptteil des Filmes spielt, gibt es also gar keine unverrückbare und massiv befestigte Front mehr wie gezeigt. 

Drittens war das typische taktische Verhalten 1918 grundsätzlich anders als dargestellt: Zumindest auf deutscher, französischer und britischer Seite gab es kein blindes Anstürmen von dichten Infanterielinien gegen ausgebaute Stellungen mehr, sondern in erster Linie ein sprungweises Vorgehen in Stoßtrupps (außer vielleicht von Seiten der US-Amerikaner); entsprechend passen die Kampfszenen des Films eher zu den Gegebenheiten von 1916 (1915 scheidet angesichts der Ausstattung der Protagonisten wegen der erst 1916 erfolgten Einführung des Stahlhelms aus) statt 1918. 

Am Ende des Films zeigt sich schließlich bei den deutschen Soldaten reiner Fatalismus und ein Verhalten von Lämmern, die sich ohne Hoffnung zur Schlachtbank führen lassen - freilich nicht ohne als abgerichtete Tötungsmaschinen noch zu versuchen, selbst möglichst viele Gegner zu töten. Dies entspricht der moralischen Message des Filmes, ohne jedoch in Betracht zu ziehen, dass historisch eine in der Literatur immer wieder berichtete Differenzierung zwischen der Masse der - durchaus desertionsbereiten - Soldaten und einem "harten" Kern desillusionierter, aber weiter Widerstand leistender Veteranen an der Front vorlag. Selbst in pazifistisch orientierten Anti-Kriegs-Romanen der Zwischenkriegszeit wie „Im Westen nichts Neues“ zeigt sich dieser Rest von militärisch-professionellem Selbstbewusstsein, das dann etwa 1934 im Film „Stoßtrupp 1917“ pathetisch-heroisch überhöht wird, etwa wenn Remarque betont: „Dieser Sommer 1918 ist der blutigste und der schwerste. (...) Jeder weiß, dass wir den Krieg verlieren. Es wird nicht viel darüber gesprochen, wir gehen zurück, wir werden nicht wieder angreifen können nach dieser großen Offensive, wir haben keine Leute und keine Munition mehr. (...) Auf ein deutsches Flugzeug kommen meistens fünf englische und amerikanische. Auf einen hungrigen, müden, deutschen Soldaten im Graben kommen fünf kräftige, frische andere im gegnerischen. Auf ein deutsches Kommissbrot kommen fünfzig Büchsen Fleischkonserven drüben. Wir sind nicht geschlagen, denn wir sind als Soldaten besser und erfahrener; wir sind einfach von der vielfachen Übermacht zerdrückt und zurückgeschoben“ (Remarque 1955: 197f.).

Insgesamt ist der neue Film „Im Westen nichts Neues“ damit sicherlich sehenswertes und bisweilen zurecht schockierendes (und damit wertvolles) Anti-Kriegs-Kino. Allerdings vermittelt er seine hochaktuelle und völlig legitime Botschaft allen technischen Finessen zum Trotz letztlich auf allzu undifferenzierte und letztlich brachiale Weise. Aber vielleicht ist dies für ein heutiges Netflix-Publikum auch notwendig.

   

Literatur:

Remarque, Erich Maria (1955): Im Westen nichts Neues. Berlin: Ullstein.