Russland spielt auf Zeit

Nach dem russischen Rückzug aus Kherson und der anscheinend abflauenden großen Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte im Osten und Süden des Landes kristallisiert sich allmählich ein Bild der russischen Strategie für den weiteren Kriegsverlauf heraus, mit dem die russische Führung hofft, die gravierenden Fehlkalkulationen und jüngsten Rückschläge soweit zu kompensieren, dass eine Beendigung des Krieges mit einem Mindestmaß an Gewinn und Gesichtswahrung möglich wird. Dabei ist der Faktor Zeit von zentraler Bedeutung, insbesondere die durchaus nicht unbegründete Erwartung, dass die anstehenden Wintermonate zu einer deutlichen Abnahme der Kampftätigkeit führen werden. Vier Aspekte einer solchen zumindest teilweisen „Atempause“ an der Front sind dabei von Bedeutung:   

1. Die russischen Streitkräfte gewinnen Zeit, sich neu zu organisieren und insbesondere die Hundertausenden von neu mobilisierten Soldaten zumindest ansatzweise zu trainieren und in die Front zu integrieren. Möglicherweise geht die russische Teilmobilmachung auch verdeckt weiter, so dass in den nächsten Monaten sogar mehr als die offiziellen 300.000 Reservisten – genaue Angaben zu Umfang und Zusammensetzung der Reservekräfte liegen bislang ja zumindest aus offenen Quellen nicht vor – zur Verfügung stehen, um die Positionen in der Ukraine zu verstärken und vielleicht sogar eine neue eigene Offensive im Frühjahr ins Auge zu fassen. Zugleich könnte die politische Führung darauf setzen, dass sich in der Bevölkerung ein gewisser, propagandistisch unterstützter Gewöhnungseffekt an den Krieg einstellt. Immerhin hat sich trotz der Proteste gegen die Einberufungen noch kein Massenwiderstand gegen die Mobilisierung oder gar die Regierung formiert. Und auch der Druck von Seiten der Nationalisten auf Präsident Putin lässt sich durch den Verweis auf die zusätzlichen militärischen Anstrengungen und Notwendigkeiten sowie das in den letzten Wochen verstärkte Bombardement der Ukraine fürs Erste ruhigstellen.

2. Nach dem Rückzug hinter den Dnipro haben die russischen Streitkräfte zwar eine starke Verteidigungsstellung im Südwesten und die Möglichkeit gewonnen, einen Teil der 20-30.000 evakuierten Soldaten an anderen Stellen der Front einzusetzen, insbesondere die kampfkräftigeren Einheiten etwa der Luftlandetruppen. Allerdings verschärfen sich dadurch die logistischen Probleme im Süden insgesamt, denn die dortigen Nachschubwege der russischen Armee geraten zunehmend in die Reichweite ukrainischer Artillerie und Drohnen. Dies ist umso bedrohlicher, als nach der Unterbrechung der Kertsch-Brücke der russische Nachschub nun hauptsächlich über Straßen und Eisenbahnen in der Südukraine erfolgen muss. Darüber hinaus wird auch die Versorgung der Krim insgesamt noch schwieriger als ohnehin schon. Die russische Führung dürfte sich also erhoffen, durch ein Abflauen der Kämpfe im Winter die Zeit für eine Reparatur der Kertsch-Brücke und insbesondere einen Ausbau der Seetransportkapazitäten über das südliche Asowsche Meer, etwa zwischen Rostow am Don und Kertsch zu gewinnen, um die Truppen im südlichen Frontabschnitt und die Bevölkerung in der Krim versorgen zu können. Zugleich wird sie alles daran setzen, ukrainische Territorialgewinne östlich von Saporischschja nach Süden, etwa in Richtung Melitopol oder Mariupol zu unterbinden, nicht zuletzt durch eigene Angriffe im Donbas, welche zudem den Zweck haben, zusätzliche Teile des annektierten Donetzk zu erobern. 

3. Sowohl, um die Bewegungsfreiheit der ukrainischen Streitkräfte und damit ihre Umgruppierungs- und Konzentrationsmöglichkeiten für weitere Angriffe im Süden zu stören, als auch, um die ukrainische Wirtschaft und Infrastruktur insgesamt zu treffen, werden verstärkt  Energieversorgungs- und Verkehrsknotenpunkte im ganzen Land aus der Luft angegriffen. Die massiven Schäden, die dabei an der auch für die Zivilisten essentiellen Infrastruktur (Strom-, Gas-, Wasserversorgung) entstehen, sollen offensichtlich nicht zuletzt den Widerstandswillen der ukrainischen Bevölkerung schwächen und so die Regierung unter Präsident Selenskij zu Zugeständnissen zwingen. Insbesondere während des Winters wird dies den Widerstandsgeist der Ukrainer auf eine harte Probe stellen, zumal auch die ukrainische Armee zweifellos hohe Verluste zu tragen hat.

4. Die durch Mobilmachung, Beschuss der Ukraine und insbesondere die augenscheinliche neue Akzeptanz militärisch-operativer Notwendigkeiten durch die russische Führung demonstrierte Entschlossenheit soll zusammen mit dem wirtschaftlichen Druck auf die westlichen Staaten (Energiepreise, Inflation insgesamt) während des Winters offenbar auch dafür sorgen, dass die westlichen Unterstützer der Ukraine des teuren Krieges zunehmend müde werden und Kiew zu Verhandlungen drängen. Sowohl die von der Ukraine bislang vehement abgelehnten Aufforderungen zu einer diplomatischen Lösung des Konflikts (mit der impliziten Notwendigkeit, Russland Zugeständnisse zu machen) als auch die vermehrten Verhandlungsfühler zwischen Washington und Moskau, teilweise unter Beteiligung der Türkei, aber auch direkt, wie etwa in der Frage der Rüstungsbegrenzung und –kontrolle bei den strategischen Nuklearwaffen, deuten darauf hin, dass die Haltung des Westens bereits deutlich offener für eine Verhandlungslösung geworden ist, nun, da ein militärischer Sieg Russlands praktisch ausgeschlossen scheint. Passenderweise wird dies durch die militärische Einschätzung, etwa des US-amerikanischen Vorsitzenden der Joint Chiefs of Staff unterstützt, der ebenso auch keine reelle Chance für einen umfassenden Sieg der Ukraine sieht. Die ungehaltene bis aggressive Reaktion der ukrainischen Führung auf den jüngsten Zwischenfall an der polnischen Ostgrenze, bei dem nach NATO-Angaben zwei polnische Staatsbürger durch eine fehlgeleitete ukrainische Luftabwehrrakete umkamen, zeigt, dass wohl auch dort die Nervosität bezüglich eines "Einknickens" des Westens zunimmt.             

Zusammen mit dem sicherlich bei Putin und seiner Entourage noch immer verbreiteten historisch-ideologisch überhöhten Selbstbild von der heroischen Härte und Leidensfähigkeit des russischen Volkes deutet dies zweifellos darauf hin, dass der Krieg auch nach den jüngsten russischen Niederlagen noch lange nicht vorbei ist, zumindest nicht im Sinne eines Aufgebens des Aggressors.