Eskalation und „battlefield diplomacy“: Die ukrainische Hochrisikostrategie
Seit 6. August ist nun die ukrainische Offensive im russischen Oblast Kursk im Gang; den verfügbaren Informationen nach hat sie bei einer Angriffsbreite von rund 65 km bislang zur Besetzung russischen Territoriums bis zu einer Tiefe von über 30 km und zur Zerstörung wichtiger Nachschublinien der russischen Armee geführt. Auf ukrainischer Seite sind wohl mehrere Brigaden mit bis zu zehntausend Mann und einer Reihe auch moderner gepanzerter Fahrzeuge mit Artillerie- und Luftunterstützung beteiligt, eine im Kontext der Operationen des Ukrainekrieges durchaus ansehliche Größenordnung.
Über die Ziele der Operation wird viel spekuliert: Die vermuteten Motive der ukrainischen Führung reichen von der weiteren Abnutzung russischer Kräfte, ihrer Ablenkung von ihren Offensivaktivitäten in der Ostukraine und damit die Entlastung der dortigen ukrainischen Front über die unmittelbare Involvierung russischen Territoriums und der dortigen Bevölkerung in den Krieg über die bereits seit längerem stattfindenden Drohnenangriffe auf die russische Energieinfrastruktur hinaus bis hin zu einer Verbesserung der Moral der ukrainischen Streitkräfte und Bevölkerung im verlustreichen Zermürbungskrieg und einer innenpolitischen Destabilisierung Russlands. Präsident Selenskij hat sich dahingehend geäußert, dass dauerhaft ukrainisch besetztes russisches Territorium als Pufferzone dienen und in etwaigen Friedensverhandlungen ein bargaining chip für Zugeständnisse der russischen Führung sein könnte.
Allerdings scheint das Argument der Destabilisierung der russischen Führung durch wachsende Kritik und Widerstand der russischen Bevölkerung am Krieg, den sie solcherart verstärkt am eigenen Leib verspüren soll, wenig aussichtsreich. Zu gering ist der tatsächliche materielle Effekt der ukrainischen Offensive und zu fest sitzt das Regime Präsident Putins mit seiner Medienkontrolle, der bislang funktionierenden Kriegswirtschaft und der fortgeschrittenen Entpolitisierung der Russinnen und Russen noch im Sattel.
Die russische Reaktion auf den ukrainischen Angriff war zunächst wohl recht chaotisch, nicht zuletzt aufgrund der Unterschätzung der Gefahr eines solchen ukrainischen Angriffs und des Kompetenzwirrwarrs zwischen Armee, Nationalgarde und Inlandsgeheimdienst für die Grenzsicherung. Mittlerweile bemüht sich die russische Seite um eine besser koordinierte Antwort und hat Truppenverbände von der südöstlichen Front und aus Kaliningrad in den Raum Kursk verlegt, denen es anscheinend zunehmend gelingt, der ukrainischen Vormarsch zu verlangsamen, allerdings ohne gleichzeitig von der eigenen Offensive im Donbass abzulassen.
Tatsächlich könnte der ukrainische Einmarsch in Russland mittelfristig auch bedeuten, dass die russische Führung ihr Propagandaargument, dass es notwendig sei, die Ukraine zum Schutz Russlands zu entwaffnen und zu kontrollieren, noch stärken kann. Zudem könnte die unmittelbare Bedrohung eindeutig russischen Territoriums nun auch verstärkt dem bis dato weitgehend vermiedenen Einsatz von Wehrpflichtigen gegen die Ukraine Vorschub leisten. Um innenpolitische Unruhe, wie sich schon bei der Teilmobilisierung Ende 2022 gezeigt hatte, zu vermeiden, ist die russische Armee bislang praktisch zwiegespalten: Freiwillige (Berufs- und Zeit-) Soldaten sowie selektiv mobilisierte Reservisten bestreiten den Krieg, während die jährlich einberufenen Wehrpflichtigen ausgebildet und abseits des Kampfes gegen die Ukraine eingesetzt werden. Mit der ukrainischen „Invasion“ des russischen Mutterlandes könnte sich Putin die Gelegenheit bieten, mit Rückhalt der Bevölkerung auch letztere vermehrt aktiv einzusetzen. Mit der geographischen Eskalation des Krieges durch die Ukraine könnte daher eine quantitative und (was den Kriegseinsatz der Masse der Bevölkerung angeht) qualitative Eskalation russischerseits einhergehen, welche rein militärisch für die Ukraine wohl kontraproduktiv wäre.
Warum verfolgt die ukrainische Führung also eine solche Hochrisikostrategie, zumal mit der Offensive auch unmittelbar erkleckliche eigene Verluste einhergehen und die Verlängerung der Front auch die ukrainischen Streitkräfte weiter gefährlich ausdünnen könnte. Die Antwort liegt wohl nicht zuletzt im Druck, der durch die Offensive auch auf die westlichen Unterstützer der Ukraine ausgeübt wird, deren Hilfe etwa angesichts des US-Wahlkampfes, des andauernden Nahostkonflikts und innenpolitischer Auseinandersetzungen in den europäischen Staaten (mit z.B. der schwierigen Regierungsbildung in Frankreich oder dem Streit um die Schuldenbremse in Deutschland) wieder zu schwächeln beginnt. In diesem Sinne dient die ukrainische Offensive einerseits als Erfolgsausweis nach dem Motto „Wir können mit ausreichendem Material gewinnen und sind trotz zunehmender Verhandlungsgerüchte noch nicht geschlagen!“, und ist zugleich ein Hilferuf nach weiterer Unterstützung („Wir werden aber geschlagen, wenn es so weiter geht und ihr eure Hilfe nicht beibehaltet oder steigert!“).
Die gewagte ukrainische Offensive ist daher nicht nur Teil einer „battlefield diplomacy“ gegenüber Russland – die Betrachtung des Kursk-Oblasts als bargaining chip impliziert ja bereits eine grundsätzliche Verhandlungsbereitschaft, auch wenn die offiziellen Ziele der Rückgewinnung der von Russland besetzten und annektierten Gebiete inklusive der Krim bislang völlig inkompatibel mit russischen Forderungen sind – sondern auch gegenüber den westlichen Staaten. Die zentrale Message an letztere lautet offenbar, nicht vorzeitig in den Anstrengungen nachzulassen, Russland einen wie auch immer gearteten Erfolg gegen die Ukraine vorzuenthalten und der russischen Führung damit indirekt zu bestätigen, gegenüber dem verweichlichten Westen den längeren Atem zu haben, ganz getreu der Befürchtungen des litauischen Außenministers Gabrielius Landsbergis: "Wenn die Ukraine fällt, ist jedem klar, dass wir die nächsten sind."
Ob diese diplomatische Strategie angesichts der wachsenden Erschöpfung der Ukraine und der zunehmenden Kriegsmüdigkeit bzw. wiedererwachenden strategisch-sicherheitspolitischen Nachlässigkeit des Westens, insbesondere auch Deutschlands, aufgehen kann, bleibt abzuwarten. – Geschichtsfreaks wird nicht unbekannt sein, dass etwa Sumy, der kurz vor der russischen Grenze gelegene ukrainische Ort, der aktuell eine Hauptbasis des ukrainischen Vorstoßes nach Russland hinein ist, auch im Zweiten Weltkrieg ein wichtiger Eckpunkt der deutschen Front nach dem Winter 1942/43 war, bis er am 2. September 1943 von der Roten Armee zurückerobert wurde – nach dem wohl endgültig kriegsentscheidenden Scheitern der letzten deutschen Großoffensive im Osten bei Kursk.