Der Nahe Osten in der "Commitment Trap"
Noch immer ist unklar, wann und auf welche Weise der Iran seinen Gegenschlag gegen Israel als Revanche für die Tötung des Hamas-Chefs in Teheran am 31. Juli durchführen wird. Sicher scheint nur, dass das iranische Regime auf irgendeine gut sichtbare und wohl auch im Hinblick auf die Schäden in Israel effektivere Operation als diejenige von Mitte April setzen muss, um seine Glaubwürdigkeit bei der eigenen Bevölkerung und den von ihm finanzierten und teilweise mitgeführten Klientelgruppen, insbesondere der Hisbollah, der Hamas, der Houthis und verschiedener schiitischer Milizen im Irak und in Syrien nicht zu verlieren. Außerdem geht es aus iranischer Sicht darum, eine gewisse Abschreckungswirkung gegenüber Israel wiederherzustellen, nachdem die Israelis gezeigt haben, dass sie mehr oder weniger ungehindert auch tief in iranischem Territorium zuschlagen können.
Auf der anderen Seite sieht sich die israelische Seite in einer ganz analogen Situation: Der Anschlag auf Ismail Haniya wurde als Vergeltung für den Hamas-Angriff auf Israel vom 7. Oktober 2023 und den damit ausgelösten Krieg im Gazastreifen ausgeführt, getreu dem israelischen Ansatz der „kumulativen Abschreckung“ durch massive Bestrafung von Attacken gegen Israel und seine Bevölkerung, verbunden mit der gezielten Tötung des feindlichen Führungspersonals, um die Leitungsfähigkeiten der antiisraelischen Gruppen zu schwächen und ihren Köpfen klar zu machen, dass sie nicht ihre Gefolgsleute im Kampf gegen Israel opfern können, ohne selbst persönlich in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Entsprechend dieser Logik hat Israel denn auch angekündigt, schnell, hart und umfassend gegen etwaige (Groß-) Angriffe des Iran und der Hisbollah zurückzuschlagen. Die Folge ist eine potenzielle Gewalt- und Eskalationsspirale, wie sie nicht untypisch ist für die Konflikte im Nahen Osten.
In der politikwissenschaftlichen Theorie ist eine solche Konstellation etwa im Kontext der „commitment trap“ bekannt, welche etwa im Kontext der nuklearen Abschreckung oder der Unterstützung von – auch ungeliebten – Verbündeten Anwendung gefunden hat. Die grundlegende Argumentation basiert darauf, dass ein Akteur (in der Literatur meist die USA) sich in internationalen Konfliktsituationen seiner Entscheidungsfreiheit beraubt, weil er sich auf eine bestimmte Handlungsweise festgelegt hat, etwa eine nukleare Antwort auf den Einsatz von Massenvernichtungswaffen oder die Verteidigung eines Verbündeten. Diese Reaktion ist unabhängig von möglichen Alternativen zu realisieren, eben um die eigene Glaubwürdigkeit und damit weiterreichende strategische Ziele (Abschreckung, Bündnisse, Bündnisfähigkeit) nicht zu gefährden, selbst wenn sie aus anderer Perspektive suboptimal ist, z.B., weil es militärisch und politisch effizientere Antworten auf Biowaffenangriffe gibt als einen Atomschlag, oder weil man (wie im Kalten Krieg) antikommunistische Regimes unterstützt, obwohl sie brutale Diktaturen sind.
Ein wichtiger Teilaspekt sind auch die „audience costs“, die etwa für das innenpolitische Standing eines Regimes, nicht zuletzt einer umstrittenen oder autoritären Regierung und Elite, relevant sind. Löst man seine vollmundigen Versprechen, etwa der Bestrafung des Feindes und des Schutzes der eigenen Bevölkerung nicht auch tatsächlich ein, so kann dies als Schwäche oder politischer Vertrauensbruch betrachtet werden und zum Sturz der Regierung oder gar des Systems führen. Mit anderen Worten: Wenn man sich sozusagen erst einmal gut sichtbar „aus dem Fenster gelehnt“ hat, kann man nicht wieder zurückweichen, selbst wenn man dann aus dem Fenster fällt.
Dies verheißt nichts Gutes für die Möglichkeiten eines Ausbruchs aus der Eskalationsspirale im gegenwärtigen Nahost-Konflikt zwischen Israel auf der einen und dem Iran und seinen „proxies“ auf der anderen. Allerdings gibt es natürlich zumindest denkbare Optionen, um wenigstens einen großen Krieg zu vermeiden. Denn auch die genannten Interpretationen sind Ausdruck eines in diesem Sinne rationalen Kosten-Nutzen-Kalküls, auch wenn die Präferenz- und Evaluationsstrukturen der Entscheidungsträger durch ihre vorangegangenes und laufendes Kommunikationsverhalten verzerrt sind. Gelingt es also, den Akteuren klar zu machen, dass trotz aller „commitments“ die tatsächlichen materiellen Kosten einer militärischen Auseinandersetzung eindeutig jeden politischen Nutzen übersteigen, so können sie doch von einem militärischen Gegenschlag absehen, zumindest einem solchen, der zu einer weiteren Eskalation führt. Dies wird dann erleichtert, wenn es auch in der Führung des betreffenden Landes unterschiedliche Meinungen zur Art eines notwendigen Gegenschlages gibt, wie dies anscheinend im Iran der Fall ist, wo wohl der Präsident und die Revolutionsgarden voneinander abweichende Auffassungen zu einem direkten Angriff auf Israel haben.
Offenbar versuchen auch die USA, durch die Androhung einer massiven Unterstützung der israelischen Verteidigung und einer Einmischung in den drohenden Krieg, die zu erwartenden Kosten für den Iran auf ein inakzeptables Niveau zu heben, um etwa die iranische Antwort auf begrenzte Schläge außerhalb des israelischen Kernlandes (und Zivilisten, wie es anscheinend auch Präsident Putin gefordert hat) zu beschränken. Umgekehrt wird wiederum Israel zur Mäßigung bei seiner Reaktion aufgefordert, was angesichts der Bedeutung der US-Unterstützung für Israel (nicht zuletzt Waffen- und Munitionslieferungen) durchaus Gewicht hat. Auch der innenpolitische Druck auf Premierminister Netanyahu, den nun durchaus nicht ausgeschlossenen Geiseldeal mit der Hamas bloß nicht zu gefährden. Ob dieser externe und interne Druck jedoch tatsächlich ausreicht, um wie im April einen großen Krieg zu vermeiden, werden wohl die nächsten Tage zeigen.
Eine weitere, durchaus zynische Option als Gedankenspiel sei abschließend erwähnt: Wenn es gelänge, den zu erwartenden iranischen Schlag gegen Israel halbwegs zu begrenzen, etwa hinsichtlich ziviler Opfer, militärisch relevanter Schäden und des Umfangs der eingesetzten Mittel der iranischen Streitkräfte und Revolutionsgarden, könnte der allfällige israelische (und US-amerikanische) Gegenangriff möglicherweise dahingehend umgelenkt werden, dass nicht der Iran selbst oder sein wichtigster Partner, die Hisbollah, das Ziel einer massiven, vernichtenden Operation werden und beide Seiten im Sinne von „commitment“ und „audience costs“ von einer weiteren Steigerung des Einsatzes und Risikos absehen könnten. Denn in einem solchen Fall wäre das öffentlich angekündigte Rachebedürfnis der iranischen Führung ebenso erfüllt wie die abschreckungsrelevante harte Antwort Israels. Ein entsprechendes „Bauernopfer“ für beide Seiten könnten die Houthis im Yemen sein, die, wie die israelische Operation „Langer Arm“ vom Juli gezeigt hat, durchaus in Reichweite der IDF sind – von der US Navy und US Air Force ganz zu schweigen.
Literatur/Links
Fearon, James D. (1995): Rationalist Explanations for War. International Organization 49 (3): 379-414, https://web.stanford.edu/group/fearon-research/cgi-bin/wordpress/wp-content/uploads/2013/10/Rationalist-Explanations-for-War.pdf .
Root, Hilton L. (2007): Walking with the Devil: The Commitment Trap in U.S. Foreign Policy. The National Interest 88: 42-45, https://www.academia.edu/37824168/Walking_with_the_Devil_The_Commitment_Trap_in_U_S_Foreign_Policy .
Sagan, Scott D. (2000): The Commitment Trap. Why the United States Should Not Use Nuclear Threats to Deter Biological and Chemical Attacks. International Security 24 (4): 85-115, https://fsi9-prod.s3.us-west-1.amazonaws.com/s3fs-public/sagan_is_spr00.pdf .