Kamala for President?
Die Begeisterung in den liberalen US-Medien – und nicht nur dort – über die Performance Kamala Harris‘ in ihrer ersten Fernsehdebatte mit Donald Trump vom vergangenen Dienstag ist groß; ebenso zufrieden bis erleichtert scheint die Wahrnehmung in den deutschen und europäischen Medien zu sein. Zusammen mit dem vielzitierten endorsement durch so unterschiedliche Persönlichkeiten wie republikanische Urgesteine wie Liz Cheney und ihren (hochumstrittenen) Vater Dick Cheney oder die Pop-Ikone Taylor Swift scheint damit ein großer Schritt in Richtung einer Präsidentschaft Harris‘ getan zu sein. Gleichwohl ist vor voreiligen Schlüssen zu warnen, sowohl, was den zu erwartenden Ausgang der Wahl angeht, als auch, was dieser für Europa und Deutschland bedeuten würde.
Denn zum einen ist die US-Präsidentschaftswahl weiterhin ein Kopf-an-Kopf-Rennen, in dem jedes Ergebnis möglich ist. Dies liegt vor allem an fünf Punkten:
1. Die landesweiten Umfragen zeigen noch immer praktisch einen Gleichstand zwischen der Unterstützung für Trump und für Harris. Und trotz der Absurditäten, Lügen und Lächerlichkeiten, welche der ehemalige Präsident auch während und nach der Debatte wieder von sich gegeben hat, hält ihm seine Kernwählerschaft und große Teile der Republikaner offenbar weiterhin die Treue halten, die sich völlig in der Filterblase der MAGA-Traumwelt mit ihren „alternativen Fakten“ verloren haben.
2. Das Wahlsystem impliziert, dass die Stimmenanzahlen des popular vote im Zweifel wenig von Belang sind, nachdem es für die Wahl zum Präsidenten lediglich auf eine Mehrheit im Wahlgremium des Electoral College ankommt. Fast alle Staaten der USA entsenden ihre Vertreterinnen und Vertreter gemäß dem Winner-takes-all-Prinzip und nicht gemäß dem Proporz des staatlichen Wahlergebnisses ins Electoral College. Dies führt dazu, dass es auch Präsidenten geben kann, die eben nicht die (relative) Mehrheit der Stimmen der Bürgerinnen und Bürger erhalten haben (wie George W. Bush 2000 oder Donald Trump 2016), und dass die Wahl in wenigen Swing States entschieden wird, in denen es keine etablierte traditionelle demokratische oder republikanische Mehrheit gibt. Im Endeffekt können wenige Tausend Stimmen (oder noch weniger) die US-Präsidialwahl entscheiden. So verlor Hillary Clinton 2016 die Wahl gegen Trump, weil ihr insgesamt rund 39.000 in Pennsylvania, Michigan und Wisconsin fehlten, obwohl sie US-weit rund 2,5 Millionen Stimmen mehr erhielt. Trump verpasste 2020 eine Mehrheit im Electoral College aufgrund Joe Bidens Vorsprung von zusammen rund 42.000 Stimmen in Arizona, Wisconsin und Georgia (wobei Biden insgesamt 7 Millionen Stimmen mehr erreichte als Trump). 2024 gibt es wieder sieben „battleground states“: Pennsylvania, North Carolina, Georgia, Michigan, Wisconsin, Nevada und Arizona.
3. Entscheidend für den Wahlausgang dürfte die Wahlbeteiligung und damit die Mobilisierung der Anhängerschaft beider Parteien sowie der essentiellen Gruppe der bislang noch Unentschlossenen sein. Dies ist ein keineswegs trivialer Aspekt, denn in den USA muss man sich – etwa im Unterschied zu Deutschland – separat als Wähler registrieren lassen, um seine Stimme abzugeben. Eine eher spontane Teilnahme an der Wahl wie hierzulande ist damit ausgeschlossen, und Umfragen zeigen, dass es nicht zuletzt dieser Mehraufwand ist, der Wahlberechtigte von einer Registrierung und Stimmabgabe abhält, insbesondere Jüngere unter 30 Jahren, Schwarze und Latinos, unverheiratete Männer und Menschen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status und Bildungsabschluss.
4. Nicht zu unterschätzen ist zudem das Problem der voter suppression, welche insbesondere von republikanisch regierten Staaten zur Selektion bzw. Behinderung von Wählergruppen genutzt wird. Nachdem jeder Staat die administrativen Regeln für eine Wahl auch auf Bundesebene weitgehend selbst festlegt, wird die Wahlgesetzgebung und -durchführung etwa dazu herangezogen, nicht genehme, weil überdurchschnittlich den Demokraten zuneigende Bürgerinnen und Bürger möglichst von einer Wahlregistrierung abzuhalten, etwa durch die Notwendigkeit, sich auszuweisen. Nachdem es in den USA keinen Personalausweis gibt und nur wenige einen Reisepass besitzen, erfolgt die Identifikation in den Vereinigten Staaten üblicherweise durch die Vorlage eines Führerscheins, einer Sozialversicherungskarte oder einen speziellen Ausweis, etwa einen Studenten- oder Militärausweis. Verschiedene Staaten haben in den letzten Jahren Regeln erlassen, die eine Registrierung und Stimmabgabe an die Vorlage eines Lichtbildausweises, üblicherweise also eines Führerscheins (denn die Social Security Card enthält kein Foto), bindet. Nachdem nur etwa 8% der weißen Erwachsenen in den USA keinen Führerschein besitzen, aber rund 21% der Afroamerikaner und 23% der Hispanics geht dies tendenziell zulasten von Gruppen, die traditionell eher Demokraten wählen.
Andere staatenspezifische Beeinträchtigungen in der Wahlorganisation ergeben sich etwa durch eine Erhöhung des zeitlichen Abstands zwischen letztmaliger Möglichkeit zur Registrierung und der Wahl, den temporären oder dauerhaften Verlust des Wahlrechts aufgrund strafrechtlich relevanter Verfehlungen oder der Fristverkürzung, Einschränkung bzw. Nichtexistenz der Möglichkeit zur Briefwahl oder vorzeitigen Stimmabgabe. Auch die Beschränkung der Zahl von Wahllokalen in parteipolitisch nicht genehmen Stadtbezirken mit der entsprechenden (abschreckend wirkenden) Verlängerung von Wartezeiten bei der Stimmabgabe, die Reduzierung offizieller Briefkästen für die Briefwahlstimmenabgabe oder die Streichung von Wählerinnen und Wählern aus den Wählerlisten aufgrund formaler Gründe wie Schreibfehlern beim Namen gehören zum Repertoire der voter suppression.
5. Es ist keineswegs ausgemacht, dass ein Wahlsieg der Demokraten problemlos anerkannt werden wird. So gibt es Befürchtungen, dass es in einem solchen Fall zu Unregelmäßigkeiten und Manipulationen bei der Stimmenauszählung, massivem Druck auf die Wahlleiter und Wahlleiterinnen und umfangreichen juristischen Anfechtungen der Wahlergebnisse kommen könnte. Schlimmstenfalls sind gewaltsame Ausschreitungen nach dem Muster vom 6. Januar 2020 oder Schlimmeres zu befürchten.
Zum anderen sollte man sich davor hüten, aus hiesiger Sicht eine Präsidentschaft Harris‘ – so wünschenswerter als eine solche des unberechenbaren Trump mit seiner Mischung aus Selbstüberschätzung, Protofaschismus, Isolationismus und einfacher Unfähigkeit auch zweifellos ist – in rosigen Farben auszumalen. Unabhängig von der Begleitfrage des Ausgangs der parallel stattfindenden Kongresswahlen, der für den Handlungsspielraum des zukünftigen Staatsoberhaupts relevant ist, erscheint trotz der bisherigen Vagheit des außenpolitischen Programms des Harris/Waltz-Teams klar, dass die Anforderungen der US-Politik an die Verbündeten höher werden dürften. Denn die NATO und andere Bündnisse würden zwar nicht grundsätzlich in Frage gestellt (wie bei einer Trump-Präsidentschaft zu befürchten), doch die internationale Rolle der USA würde sich wohl durchaus etwas verändern, wenn man die augenblickliche Einschätzung von Harris‘ außenpolitischen Prioritäten berücksichtigt:
1. In einem erneuerten Multilateralismus würden die Vereinigten Staaten wieder stärker auf Diplomatie setzen und bestrebt sein, ihr weltweites militärisches Engagement zu reduzieren bzw. die Bereitschaft zum Einsatz des US-Militärs würde generell sinken, auch aufgrund einer zu erwartenden gewissen Priorität der US-Innen- und Gesellschaftspolitik. Das bedeutet im Sinne des altbekannten burden-sharing, dass von den Europäern und nicht zuletzt Deutschland wesentlich höhere Beiträge zur transatlantischen kollektiven Verteidigung, vor allem gegenüber der russischen Bedrohung, erwartet würden.
2. Auch für eine Harris-Administration wäre der Hauptfokus der US-Politik der wirtschafts- und sicherheitspolitische Konkurrenzkampf mit China. Das würde einerseits zusätzlichen Druck auf die Verbündeten ausüben, sich stärker selbst um ihre eigene Sicherheit in Europa zu kümmern, andererseits auch Erwartungen nach sich ziehen, sich noch stärker im Indopazifik zu engagieren, wie es mittlerweile etwa auch über den nationalen Kontext in der wachsenden Kooperation der NATO mit Partnerstaaten wie Australien, Neuseeland, Japan und Südkorea geschieht.
3. Gerade die weiterbestehende, wenngleich vielleicht etwas diplomatischere und prinzipiell kooperationswilligere Auseinandersetzung mit China, das mittlerweile parteiübergreifend vom außen- und sicherheitspolitischen Establishment der USA als Hauptgegner der Vereinigten Staaten angesehen wird, heißt für die Europäer und insbesondere große Exportnationen wie die Bundesrepublik, dass der Spagat zwischen ökonomischen und politisch-strategischen Interessen, d.h. zwischen den gleichzeitigen Abhängigkeiten von den USA und von der Volksrepublik weiterbestehen und womöglich noch schmerzhafter bzw. immer schwieriger auszugleichen sein wird, insbesondere dann, wenn sich die chinesische Außenpolitik zunehmend aggressiver gerieren sollte.
4. Es ist zu erwarten, dass auch unter Harris die massiven Infrastruktur- und Technologieinvestitionen inklusive der Reshoring-Anstrengungen bei strategischen Industrien, die unter Biden angestoßen wurden, weitergehen werden. Zusammen mit einer nicht völlig restriktiven Zuwanderungspolitik wird dies die globale ökonomische Wettbewerbsfähigkeit der USA stärken, auch gegenüber der EU und Deutschland, die sich ihrerseits gezwungen sehen dürften, ihre Infra- und Wirtschaftsstruktur zügig und umfassend zu modernisieren, um nicht zurückzufallen. Genau dies unterstreicht Mario Draghi in seinem Bericht "The future of European competitiveness" an die EU-Kommission, der am vergangenen Montag vorgestellt wurde und in dem er u.a. jährliche Investitionen in der EU von mindestens 750 bis 800 Mrd. Euro zu diesem Zweck fordert.
Auch mit einer US-Präsidentin Kamala Harris würde es also kein „Weiter so!“ der deutschen und europäischen Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik geben können, und der Rhetorik der „Zeitenwende“ müssten endlich konkrete, umfangreiche und entschlossene Taten folgen müssen – auch wenn sie teuer, unpopulär und für das eigene Wohlbefinden einer Handelsmacht, die es sich noch immer in der vermeintlich sicheren und behaglichen Welt der 1990er Jahre bequem gemacht haben zu scheint, ausgesprochen unangenehm sind. Da passt es wie die Faust aufs Auge, dass das Institut für Weltwirtschaft in Kiel just an dem Tag der US-Präsidentschaftsdebatte einen Bericht veröffentlicht hat, in dem kritisiert wird, dass die deutschen "Verteidigungsanstrengungen (...) immer noch viel zu ambitionslos" seien. "Um wieder die Bundeswehrbestände von 2004 zu erreichen, bräuchte Deutschland gegenwärtig bis zu knapp 100 Jahre, was einerseits an der drastischen Abrüstung der letzten Jahrzehnte liegt, anderseits an der nach wie vor viel zu langsamen und sparsamen Aufrüstung unter der Ampelregierung."