Terror und Krieg: Der IS, Russland und die Ukraine

Nach westlichen Quellen scheint das Bekenntnis des ISIS-K/IS-K (Islamischer Staat – Provinz Khorasan) zu dem Terroranschlag in Moskau vom 22. März echt zu sein. Damit stellen sich unmittelbar zwei Fragen: Wie kommt der afghanische Ableger des IS dazu, Russland anzugreifen? Und wie sieht die russische Reaktion aus?

Die Facetten der Antwort auf die erste Frage werfen ein Licht auf die komplexe Konfliktlage im Nahen und Mittleren Osten, den darüber hinaus gehenden Randgebieten und ihren Akteuren. Der IS-K ist eine regionale Organisation des IS-Netzwerkes, welches trotz der weitgehenden Zerschlagung des territorial gebundenen Kalifatstaates in Syrien und im Irak weiterhin vor allem in Südwestasien und in Afrika aktiv ist. Die verschiedenen Ableger des IS bekämpfen dabei die vermeintlichen Feinde des Kalifats sowie Konkurrenten ähnlicher Ideologie, etwa westliche Staaten wie die USA, verschiedene westeuropäische Länder und Israel, Unterstützer der arabischen Regimes wie in Syrien oder Saudi-Arabien, Al-Qaeda, die Taliban und schiitisch-islamistische Gruppen und Regimes wie die Houthis und das iranische Regime. Auch die Hamas wird u.a. wegen ihrer Nähe zum Iran und ihrer national-palästinensischen statt global-dschihadistischen Perspektive vom IS (wie im Übrigen von Al-Qaeda) letztlich als unislamisch und feindlich betrachtet.

Dass nun Russland Ziel eines großen Terrorangriffs wurde, lässt sich vor diesem Hintergrund auf folgende Aspekte zurückzuführen:

1. Der IS hat mit der russischen Regierung noch eine Rechnung offen, hat die russische Militärintervention in Syrien, welche im Herbst 2015 wohl zum Schutz des – nicht zuletzt angesichts des Ukraine-Krieges – geostrategisch wichtigen russischen Flottenstützpunktes Tartus an der syrischen Mittelmeerküste begann, doch maßgeblich zum Erfolg des Assad-Regimes und zum Scheitern des Kalifatstaates beigetragen. Nicht umsonst gab es bereits 2022 einen Selbstmordanschlag auf die russische Botschaft in Kabul.

2. In den muslimisch geprägten Teilrepubliken der Russischen Föderation und den formal unabhängigen mittelasiatischen GUS-Staaten gibt es seit langem Widerstand gegen die bevormundende Dominanz der russischen Regierung und der ethnischen Russen in Staat und Gesellschaft, welcher in der Vergangenheit bereits zu blutigen Konflikten mit islamistisch geprägten Aufständischen geführt hat, z.B. in den beiden Tschetschenien-Kriegen (1994-1996 und 1999-2009), in Dagestan (1999) oder in Tadschikistan (1991-1997). Entsprechend leicht ist es offenbar, Kämpfer für den IS zu rekrutieren; so sollen vier von den russischen Behörden nach dem Anschlag auf das Moskauer Konzert Verhaftete aus Tadschikistan stammen. Tschetschenische Terroristen wiederum haben bereits in der Vergangenheit wiederholt russische Ziele attackiert.    

3. Der Fokus der russischen Sicherheitsbehörden und der Nationalgarde auf den Krieg gegen die Ukraine und etwa die Aufrechterhaltung der Kontrolle der besetzten Gebiete, den Kampf gegen ukrainische Saboteure oder die Legion „Freiheit Russlands“ oder den Schutz der russischen Infrastruktur, die sich zunehmend ukrainischen Drohnenangriffen ausgesetzt sieht, hat die Wachsamkeit gegenüber dem islamistischen und separatistischen Terror anscheinend verringert; außerdem ist immer wieder die Rede von ausgeprägter Unfähigkeit der Führung der Sicherheitskräfte. Selbst Präsident Putin hat im Vorfeld des jüngsten Anschlages US-amerikanische Warnungen offenbar als westliche Desinformationskampagne zur Beeinflussung der russischen Präsidentschaftswahl abgetan. Der Terrorangriff stellt dabei auch Vladimir Putin als frisch wiedergewähltes Staatsoberhaupt bloß, ganz abgesehen davon, dass er auch in Westeuropa deutlich macht, dass die islamistische Terrorgefahr keineswegs gebannt ist.

4. Nach dem Motto „Der Freund meines Feindes ist mein Feind“ mag auch eine Rolle gespielt haben, dass sich Russland (und China) darum bemühen, zu einem Arrangement mit den Houthis im Jemen zu kommen, um den ungestörten Transit ihrer Schiffe durch das Rote Meer zu gewährleisten. Zwar scheinen entsprechend kolportierte Vereinbarungen praktisch noch nicht zu funktionieren, doch das negative russische und chinesische Abstimmungsverhalten noch zum Resolutionsentwurf zum Gaza-Krieg vom 22. März konnte als Signal an die Houthis gewertet werden, dass die Hamas ganz in deren Sinn vor Zugeständnissen bewahrt werden soll. Ein Entgegenkommen gegenüber den Houthis zusammen mit der damit verbundenen Bewahrung Israels vor Druck des Sicherheitsrates waren sicher nicht im Interesse des IS, daher passt das Timing des Moskauer Anschlags auch zum diplomatischen Echo des Nahostkonfliktes.  

5. Zur gleichen Argumentationslinie passt, dass Russland angesichts des Ukrainekrieges mittlerweile ein sehr enger Partner des Iran geworden ist, der es mit Waffen (Drohnen) und Handelswegen zur Umgehung westlicher Sanktionen versorgt. Der Iran führt seinen eigenen „Krieg gegen den Terror“, u.a. auch gegen den IS. Mit Russland trifft man aus der Sicht des IS damit indirekt auch wieder einen, wenn nicht den Hauptgegner im islamischen Lager.

6. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass es auch einen intensiven Wettbewerb der islamistischen Terrororganisationen um Anhänger, Aktivisten und Ressourcen gibt. In diesem Sinne haben die massiven terroristischen Aktivitäten der Hamas, der Houthis und der Hisbollah in den letzten Monaten und ihr aktiver Kampf gegen Israel und den Westen den IS praktisch unter Zugzwang gesetzt, um gegenüber der islamistischen Konkurrenz nicht ins mediale und rekrutierungsbezogene Hintertreffen zu geraten. Der Moskauer Terror hat also auch den Charakter eines zynischen PR-Akts für die islamistische Szene und die islamische Welt insgesamt.

Auch die Antwort auf die zweite Frage hat verschiedene Facetten:

1. Die Blamage für die russischen Sicherheitskräfte und den Präsidenten selbst wird wohl dazu führen, dass Russland wie bereits angekündigt versuchen wird, mit größter Härte gegen die Terrorzellen vorzugehen. Ein entsprechend rabiates Vorgehen gegen vermeintliche Islamisten und Separatisten in den muslimisch geprägten Teilrepubliken der Russischen Föderation ist daher erwartbar. In der russischen Öffentlichkeit dürfte dies gut ankommen, nachdem es gegenüber Muslimen und Kaukasiern, insbesondere gegenüber Tschetschenen quasi traditionell massive Vorbehalte und Vorurteile gibt.

2. Zur Ablenkung vom eigenen Versagen fährt der russische Medien- und Propaganda-Apparat bereits seine Kritik an insinuierter westlicher und insbesondere ukrainischer Involvierung in den Anschlag hoch. Ob dies nicht zuletzt angesichts der Gegenpräsenz des IS in den sozialen Medien dauerhaft gelingen kann, ist keineswegs sicher, aber angesichts der umfassenden Kontrolle der insgesamt staatstreuen Medien zumindest in großen Teilen der russischen Öffentlichkeit nicht völlig ausgeschlossen. 

3. Dass die Ukraine für den Terror mitverantwortlich gemacht wird, ist dabei ein Punkt, der auch für den laufenden Krieg Russlands gegen sein Nachbarland von Bedeutung sein könnte. Sicher ist es wohl falsch, verschwörungstheoretisch zu spekulieren, der Anschlag selbst könnte eine „false flag“-Operation des russischen Geheimdienstes selbst gewesen sein; doch aus einer strategischen Perspektive kommt es der russischen Führung durchaus zupass, könnte es Vladimir Putin doch ein überzeugendes Argument an die Hand geben, mit dem sich eine neue Mobilisierungswelle russischer Truppen begründen ließe – sofern das Narrativ der Ukraine als Drahtzieherin des Terrors bei der einheimischen Bevölkerung überhaupt verfängt. Der anscheinend bellizistische Ton der jüngsten Fernsehansprache des Präsidenten und seine anti-ukrainische und anti-amerikanische Rhetorik sprechen jedenfalls durchaus für eine solche Absicht.

Es steht also zu befürchten, dass der IS sein Ziel des Moskauer Anschlags, „möglichst viele Christen zu töten“, indirekt noch deutlich erfolgreicher erreichen wird als auf dem direkten Weg des Terrors gegen russische Konzertbesucher...