Russland im "Krieg"

Während die EU-Staaten mühsam um eine Steigerung ihrer zuletzt offenbar zu geringen Rüstungslieferungen an die Ukraine ringen und der US-Kongress weiterhin solche Lieferungen von Seiten der Vereinigten Staaten blockiert, führen die russischen Streitkräfte ihre Angriffe gegen die mittlerweile geschwächte ukrainische Front weiter. Zugleich wird die ukrainische Infrastruktur wieder massiv aus der Luft attackiert, während die ukrainischen Gegenschläge gegen die russische Ölindustrie auf Skepsis im Westen stoßen und etwa in Deutschland die Besorgnis über zusätzliche ukrainische Flüchtlinge steigt. 

In dieser Lage hat der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dimitri Peskow, nun in einem Interview zum ersten Mal offiziell anstatt von der „militärischen Spezialoperation“ von einem „Krieg“ gesprochen, in dem sich Russland faktisch befinde. Zwar habe sich de jure nichts an den Verhältnissen geändert, aber die Unterstützung des „gesamten Westens“ für die Ukraine habe dazu geführt, dass sich Russland nun tatsächlich im Kriegszustand befinde. Als Kriegsziele nannte Peskow die Beseitigung jeglicher Bedrohung für die Krim durch die Ukraine sowie die „vollständige Befreiung“ der Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson. 

Geht man naheliegenderweise davon aus, dass Peskows Äußerungen mit den Ansichten Vladimir Putins übereinstimmen, dann verrät sein Interview dreierlei:

1. Die russische Führung sieht sich nach der „überzeugenden“ Wiederwahl Putins als Präsident sicher genug im Sattel, um eine allmähliche Verschärfung der Kriegsmaßnahmen vorzubereiten, insbesondere im Hinblick auf eine neue Mobilisierungswelle, um die erheblichen Verluste an der Front auszugleichen. Sofern eine solche Mobilmachung nach Ostern beginnt, könnten die entsprechenden Truppen im Herbst zur Verfügung stehen.

2. Dies bedeutet aber, dass die russische Offensive weitergehen wird, in der Hoffnung, entweder mit den vorhandenen Reserven bis Herbst einen durchschlagenden militärischen Erfolg zu erringen, also solange der Ukraine eine effektive westliche Unterstützung fehlt, oder, wenn der Gegner bis dahin nicht kollabiert, den Krieg durch Verwendung der dann zusätzlich zur Verfügung stehenden Soldaten weiterzuführen. Letzteres könnte dann weiterhin offensiv erfolgen, wenn die Ukraine noch immer nicht ausreichend unterstützt wird, beispielsweise, weil Donald Trump zum US-Präsidenten wiedergewählt wird, oder eher defensiv, wenn dies doch der Fall sein sollte. In jedem Fall setzt der russische Präsident aber offenbar auf Sieg aufgrund der vermuteten größeren Durchhaltefähigkeit Russlands gegenüber der Ukraine und dem Westen.

3. Die Spezifizierung der Kriegsziele impliziert zugleich, dass sich der Kreml scheinbar von einem totalen Sieg und einer Einverleibung der Ukraine in den russischen Machtbereich verabschiedet hat. Die nachhaltige militärische Schwächung der Ukraine (inklusive ihrer Bündnisfreiheit) sowie die Anerkennung der Annexion der Krim und der Ostukraine sind demgemäß mittlerweile die – in der aktuellen Situation wohl auch realistischeren – zentralen Ziele; der Rest der ursprünglich verkündeten Absichten, etwa die Entmilitarisierung und „Entnazifizierung“ der Ukraine, so wird insinuiert, wohl nurmehr eine Frage des propagandistischen Framings für das heimische Publikum. 

Diese anscheinende Einschränkung der Kriegsziele durch das offizielle Sprachrohr des Präsidenten – ganz im Gegensatz zu etwa zum Scharfmacher Dimitri Medwedew, der noch Ende Februar die Eroberung der halben Ukraine inklusive Odessas forderte – bedeutet aber auch, dass sich Putin darauf einstellt, durch Verhandlungen zu einem Erfolg zu kommen, vor allem dann, wenn es gelingt einen Keil zwischen die Ukraine und ihre Unterstützer bzw. zwischen die verschiedenen westlichen Regierungen zu treiben. Denn eine geschwächte Ukraine könnte sich ohne externe Unterstützung trotz des gegenwärtigen Sträubens wohl kaum dauerhaft gegen die meisten dieser russischen Forderungen wehren, und ein kriegsmüder Westen, vor allem etwaig von den USA verlassene Europäer, könnte trotz aller Befürchtungen für die Zukunft versucht sein, einen diplomatischen Weg aus dem Konflikt zu suchen, wenn eine nachhaltige und effektive militärische Unterstützung der Ukraine nicht realisierbar scheint. 

Besonders elegant (oder perfide) könnten die Verlockungen einer vermeintlichen Verhandlungslösung für den Westen russischerseits inszeniert werden, wenn sie von einem neuerlichen Vermittlungsvorschlag von dritter Seite begleitet würden, beispielsweise China, die Türkei oder gar den Heiligen Stuhl. Nicht nur die Ukraine, auch die westlichen Regierungen und die hiesige Öffentlichkeit müssen sich also in den nächsten Monaten auf neue Mobilmachungsschritte sowie militärische und diplomatische Offensiven von Seiten Russlands gefasst machen.