Der konstante "Russian way of war"

In den Jahren vor dem russischen Angriff auf die Ukraine war im Westen viel die Rede von der neuen strategischen und taktisch-operativen Ausrichtung der reorganisierten und modernisierten Streitkräfte der Russischen Föderation. Es entstand das Bild einer zunehmend flexiblen und gut koordinierten Armee, welche ihre etwaige zahlenmäßige Schwäche in einem großen bewaffneten Konflikt (etwa mit der NATO) durch schnelle Angriffsoperationen, gestützt auf eine massive taktische Feuerkraft und weitreichende Artillerie und Raketen und ergänzt durch asymmetrische und hybride Konfliktformen sowie nukleare Drohungen ausgleichen würde. Fast ein Jahr Krieg in der Ukraine hat gezeigt, dass diese Vorstellung von den Fähigkeiten der „neuen“ russischen Streitkräfte offenbar an der Realität vorbeigingen: Im Unterschied zu den Erfahrungen in Syrien spielt die russische Luftwaffe in der Ukraine bislang kaum eine Rolle, und die taktische Einheit der Bataillonskampfgruppe hat sich als viel zu schwach in Bezug auf ihre infanteristische Komponente erwiesen, um tatsächlich die bewegliche Kriegführung umzusetzen, für die geplant war. Die russischen Schwächen in Planung, Führung und Logistik sind mittlerweile wohlbekannt; als zentrale Ursachen werden u.a. ausgeprägte Korruption, schlechte Ausbildung und die systemimmanente Unterdrückung unwillkommener Meldungen in der Befehlshierarchie genannt. 

Wie immer wieder zu hören ist, erinnert das Kriegsbild in der Ukraine mittlerweile eher an den Stellungskrieg der statischen Westfront des Ersten Weltkriegs, in der Erfolge in der Einnahme kleiner Ortschaften und geringfügigen Geländegewinnen gemessen wurden, und das unter ungeheuren Opfer an Toten und Verwundeten. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass mittlerweile beide Seiten über 100.000 Mann verloren haben, von den zivilen Opfern ganz zu schweigen. Insbesondere die gegenwärtigen Kämpfe im Donbas scheinen für die russische Seite die verlustreichsten seit Beginn des Krieges zu sein.  Auch die Einbußen an Material, etwa an Panzern, scheinen immens zu sein. 

Tatsächlich erscheint die Art und Weise, wie Russland diesen Krieg führt, viel eher der russischen Tradition zu entsprechen als irgendeiner modernisierten Doktrin. Sie zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass die russische Militärführung auf massiven Artillerieeinsatz setzt – und Soldaten, die praktisch ohne Rücksicht auf Verluste in immer neue Angriffe geschickt werden, seien es reguläre Truppen (mit einem überproportional hohen Anteil an ethnischen Minderheiten und ländlicher Bevölkerung) inklusive Reservisten, seien es Kämpfer von Privatarmeen wie der Wagner Group. Diese gegenüber den eigenen Soldaten rücksichtslose Kriegführung  entspricht voll und ganz den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs (1914-1917/18), des Winterkrieges gegen Finnland 1939/40 oder des Zweiten Weltkrieges (1941-1945). In jedem dieser Fälle sah sich die russische bzw. sowjetische Seite zu Beginn (im Ersten Weltkrieg v.a. 1914/15 und 1917) massiven Niederlagen gegenüber, auf die stets mit dem Einsatz zusätzlich mobilisierter Menschenmassen unter Inkaufnahme weiterer horrender Verluste reagiert wurde, 1940 und 1945 mit Erfolg, aber unter ungeheuren Opfern. Auch in Konflikten wie dem Krieg in Afghanistan (1979-1989) oder den Tschetschenien-Kriegen (1994-1996 und 1999-2009) spielten Erwägungen wie eine Minimierung der eigenen Verluste keine Rolle; stattdessen wurde zusätzlich auf maximalen Terror gegen die Zivilbevölkerung (wie in Syrien und nun in der Ukraine) gesetzt. 

Berücksichtigt man noch zusätzlich, dass sich die russischen Streitkräfte gegenwärtig in der Süd- und Ostukraine auch darum bemühen, umfangreiche Stellungssysteme auszubauen, um etwaigen ukrainischen Gegenoffensiven entgegenzuwirken, was etwa an die Vorbereitungen zu Abwehr der deutschen Offensive bei Kursk im Sommer 1943 erinnert, dann wird endgültig klar, dass sich die russische Art der Kriegführung ungeachtet technologischer Veränderungen im Wesentlichen seit über hundert Jahren nicht verändert hat: Noch immer gilt es, den Gegner durch Feuerkraft und Masse zu überwältigen – auch wenn es Zehn- oder Hunderttausende der eigenen Soldaten kostet, deren Leben im Kalkül der Führung anscheinend bloß eine im Zweifel entbehrliche Verfügungsmasse darstellt.    

    

Literatur/Links:

Baev, Pavel (2022): Russia’s War in Ukraine. Misleading Doctrine, Misguided Strategy. Etudes de l’IFRI no. 40, https://www.ifri.org/sites/default/files/atoms/files/baev_russia_war_ukraine_2022.pdf

Boston, Scott/Massicot, Dara (2017): The Russian Way of Warfare. A Primer. Santa Monica CA: RAND Corporation, https://www.rand.org/pubs/perspectives/PE231.html .