Eine neue Wehrpflichtdebatte?
Unlängst hat der Inspekteur der Deutschen Marine, Vizeadmiral Jan Christian Kaack, angeregt, eine ernsthafte Diskussion über die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland zu führen, nachdem der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius davor deren Aussetzung 2011 einen Fehler genannt hatte. Konkret schlug er ein Modell nach dem Vorbild Norwegens vor, in dem jedes Jahr alle – gegenwärtig rund 70.000 - jungen Männer und Frauen gemustert werden, von denen dann etwa 15.000 eingezogen werden. Weder in Politik noch Militär trifft diese Anregung auf ungeteilte Begeisterung; so hat der FDP-Vorsitzende Christian Lindner der Idee umgehend eine Absage erteilt, und erst von etwa einem halben Jahr wandte sich auch der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Eberhard Zorn, gegen eine Neuauflage der Wehrpflicht, indem er darauf verwies, dass für die Ausbildung einer großen Zahl von Wehrpflichtigen weder die Infrastruktur noch das Personal vorhanden seien, noch eine sinnvolle Ausbildung in kurzer Zeit angesichts der Komplexität von Ausrüstung und Gerät überhaupt möglich sei. Versucht man, sich der - keineswegs neuen - Debatte um die Reaktivierung der Wehrpflicht anzunähern, sind vor allem vier Themenkomplexe relevant:
1. Strategische Rahmenbedingungen:
Mit der vielzitierten „Zeitenwende“ im Zuge der russischen Aggression gegen die Ukraine und der sich massiv verschlechternden Beziehungen zwischen dem Westen und der Russischen Föderation hat sich die zentrale sicherheitspolitische Voraussetzung für die Aussetzung der Wehrpflicht 2011 erledigt: die Abwesenheit einer konventionellen Bedrohung der Bundesrepublik (bzw. der NATO und der EU) in Europa und der primäre Bedarf an hochspezialisierten und professionalisierten Interventionsstreitkräften für Auslandseinsätze. Nicht nur erscheint ein Konflikt mit Russland potenziell möglich und soll durch eine verstärkte Abschreckung auf der Basis verbesserter (oder wiederhergestellter) konventioneller Verteidigungsfähigkeit verhindert werden; auch größere Auslandseinsätze erscheinen nach den Erfahrungen in Afghanistan in der deutschen Öffentlichkeit und Politik nicht mehr oben auf der sicherheitspolitischen Agenda zu stehen.
Wie der Ukrainekrieg außerdem gezeigt hat, hat die Zahl der verfügbaren Soldaten immer noch eine durchaus zentrale Bedeutung im Krieg, selbst unter den Bedingungen moderner Technologie. Auch wenn man davon ausgehen kann, dass ein konventioneller Krieg zwischen der NATO und Russland anders aussehen würde, als der jetzige in der Ukraine, gibt es durchaus den Verdacht, dass der westliche Fokus auf die Rolle der Luftwaffe und der präzisen Bekämpfung des Gegners aus der Luft angesichts der Effektivität moderner Luftabwehrsysteme nicht ausreichend sein könnte, um einen schnellen Sieg gegen einen entschlossenen Gegner zu erringen. Nicht zuletzt zeigt der Ukrainekrieg, dass die weit überlegene russische Luftwaffe nur begrenzt eingesetzt wird und sich die Kampfführung sehr stark auf Landstreitkräfte inklusive von Drohnen unterstützte Artilleriesysteme aller Reichweiten konzentriert. Zudem hat es die Ukraine vermocht, durch eine schnelle Mobilisierung ausreichende Kräfte aufzubieten, um den geplanten russischen „Blitzkrieg“ zum Scheitern zu bringen, und der nun herrschende Abnutzungskrieg definiert sich quasi fast durch die Notwendigkeit und Fähigkeit, ausreichende Zahlen von Truppen und Material an die Front führen zu können. Auch im modernen Krieg gilt damit noch immer wenigstens zum Teil das Stalin zugeschriebene Diktum „Quantität hat eine eigene Qualität.“
Eine besondere Rolle spielt entsprechend die „Aufwuchsfähigkeit“ von Streitkräften, d.h. die Möglichkeit, ihren zahlenmäßigen Umfang im Krisen- oder Kriegsfall durch den Rückgriff auf ausgebildete (und ausgerüstete) Reserven zu vergrößern. Während der Hochzeit des Kalten Krieges verfügte die Bundeswehr als Teil der konventionellen Streitkräfte der NATO nicht nur über 12 Heeresdivisionen mit 36 Brigaden, über 7.000 Kampf- und Schützenpanzern sowie rund 1.000 Kampfflugzeugen; ihre Personalstärke wäre dank der vorhandenen 2,3 Millionen Reservisten im Kriegsfall von fast 495.000 Soldaten (davon rund die Hälfte Wehrdienstleistende) auf rund 1,3 Millionen Mann angewachsen. Heute gibt es in Deutschland zwar formal noch rund 900.000 wehrrechtlich verfügbare Reservisten; dies schließt jedoch etwa alle Jahrgänge bis zu 65. Lebensjahr ein. Nimmt man vereinfacht die gleichen Relationen wie im Kalten Krieg an, so stünden im Ernstfall heute noch etwa 300.000 Reservisten für eine Mobilmachung zur Verfügung; die hypothetische Mobilmachungsstärke der Bundeswehr wäre damit heute geringer als ihr Präsenzbestand vor vierzig Jahren. Der Zugang zur Reserve beträgt gegenwärtig ca. 15.000 Männer und Frauen pro Jahr (In den 1980er Jahren wurden jährlich über 180.000 Wehrpflichtige eingezogen.), die aus dem militärischen Dienst bei der Bundeswehr ausscheiden. Im Zeitverlauf nimmt damit die Zahl der verfügbaren Reservistinnen und Reservisten und damit die Aufwuchsfähigkeit der Bundeswehr sukzessive weiter ab.
2. Kosten:
Die Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland wieder rückgängig zu machen, wäre natürlich mit immensen Kosten verbunden. Die gesamte, nach 2011 aufgegebene Infrastruktur zur Vorbereitung und Unterstützung eines flächendeckenden Wehrdienstes müsste neu installiert werden. 2008 etwa gab es beispielsweise bundesweit 66 Kreiswehrersatzämter und 5 Musterungszentren, welche für die Erfassung und Tauglichkeitsprüfung der Wehrpflichtigen zuständig waren. 2011 waren in den noch bestehenden 52 Kreiswehrersatzämtern rund 5.000 Menschen beschäftigt, von Verwaltungskräften bis hin zu psychologischem und medizinischem Personal. Neben dem Personal müssten natürlich auch die entsprechenden Liegenschaften zur Verfügung gestellt werden, die seitdem anderweitig genutzt oder verkauft worden sind. Dann müssten die Wehrpflichtigen eingekleidet, ausgerüstet und untergebracht werden. 2011 gab es 394 Bundeswehrstandorte, von denen im Zuge der Reorganisation nach der Aussetzung der Wehrpflicht 130 geschlossen werden sollten. Teilweise wurden auch Standorte verkleinert oder zusammengelegt, sodass eine flächendeckende Infrastruktur wie zu Zeiten der Wehrpflicht nicht zur Verfügung steht.
Hinzu kommt schließlich die Frage, wer die Wehrpflichtigen überhaupt ausbilden sollte, wenn die Bundeswehr ohnehin unter Personalmangel leidet und eine zunehmende Anzahl internationaler Verpflichtungen erfüllen soll. Eine Wiederaufnahme der Wehrpflicht erscheint unter diesen Umständen organisatorischer und finanzieller Probleme bestenfalls mittel- bis langfristig praktisch möglich, nicht zuletzt angesichts dessen, dass bereits das beschlossene 100-Milliarden-Sondervermögen wohl noch nicht einmal ausreicht, um die Bundeswehr in ihrem bestehenden Zustand vollständig einsatzfähig zu machen. Zum Vergleich: Der Aufbau der Bundeswehr nach der Einführung der Wehrpflicht 1957 bis zur volle Stärke im Kalten Krieg dauerte bis Ende der 1960er Jahre, also länger als ein Jahrzehnt.
Ein weiterer ökonomischer Aspekt wäre, dass dem Arbeitsmarkt in einer Situation häufig beklagten Fachkräftemangels und demographischer Alterungsprozesse temporär – oder jahrgangsübergreifend auch dauerhaft – wertvolle Arbeitskräfte entzogen würden. Allerdings wären dem etwaige qualifizierende Effekte (etwa durch eine technische Ausbildung bei der Bundeswehr) gegenzurechnen, ebenso wie die potenzielle Belastung des sozialen Sektors, etwa in der Altenpflege, sofern der Zivildienst ebenfalls reaktiviert würde.
3. Militärische Effizienz:
Nicht völlig überzeugend erscheint das Argument, eine wiedereingeführte Wehrpflicht wäre zu kurz für eine Ausbildung an komplexem Gerät. Denn zum einen gibt es ja gegenwärtig schon den Freiwilligen Wehrdienst mit einer Mindestverpflichtungsdauer von lediglich 7 Monaten, in denen offenbar doch eine ansatzweise sinnvolle Ausbildung gewährleistet werden soll; der 2021 eingeführte Freiwillige Wehrdienst im Heimatschutz (ohne Verpflichtung zu Auslandseinsätzen) besteht aus einer dreimonatigen Grund- und viermonatigen Grundausbildung, an die sich fünf Monate Dienst in Teilen über sechs Jahre in einer regionalen Sicherungs- und Unterstützungskompanie anschließen. Zumindest eine grundlegende militärische Ausbildung reicht ein Jahr offenbar durchaus aus. Zum anderen ist eines der Argumente Jan Christian Kaacks, dass der Grundwehrdienst ein Rekrutierungspotenzial für zukünftige Zeitsoldaten darstellt, welche dann natürlich noch länger und intensiver ausgebildet werden. Laut Kaack entschieden sich zu Zeiten der Wehrpflicht bis zu 70 Prozent der Zeitsoldaten erst nach ihren Grundwehrdienst, bei der Bundeswehr zu bleiben. Angesichts einer Personallücke von 20.000 Dienstposten bei gleichzeitig steigenden Zusagen an die NATO über nun insgesamt 30.000 zur Verfügung stehende Soldaten (inkl. schwerem Gerät) mit hoher Einsatzbereitschaft ab 2025 erscheint nicht zuletzt dieser Aspekt von zentraler Bedeutung zu sein. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass der Grundwehrdienst nach 1990 ohnehin lediglich 12 Monate andauerte, und auch die Geschwindigkeit der Ausbildung ukrainischer Soldaten an ihnen fremdem westlichen Gerät innerhalb weniger Monate oder gar Wochen ebenfalls darauf hindeutet, dass eine pragmatisch-effiziente Ausbildung in relativ kurzer Zeit durchaus möglich ist.
4. Gesellschaftspolitische und rechtliche Aspekte:
Ein immer wieder diskutiertes Problem einer professionalisierten Armee ist deren schwierige gesellschaftliche Integration. Ein traditionelles Argument zugunsten der Wehrpflicht ist, dass sie die Streitkräfte mehr oder weniger zu einem Querschnitt der Gesellschaft macht, für den sich die Bevölkerung aufgrund ihrer unmittelbareren Betroffenheit (über den eigenen Grundwehrdienst oder denjenigen Bekannter und Verwandter) sehr viel mehr interessiert als für eine weitegehend isolierte Berufsarmee. Zugleich werden damit – so zumindest die vereinfachte Standardargumentation - möglicherweise tendenziell unerwünschte Selektionsprozesse in die Streitkräfte reduziert, etwa hinsichtlich einer Überrepräsentation von Bildungsverlierern (bei den Mannschaftsdienstgraden) oder von Rechtsradikalen. Insgesamt würden aus einer Wehrpflicht damit ein höheres Interesse und potenziell Akzeptanzniveau für die Streitkräfte und evtl. auch eine intensivere Befassung weiterer Bevölkerungskreise mit Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik resultieren.
Allerdings sind damit auch andere Probleme verbunden. Ein Frage, die sich etwa unmittelbar stellen würde, wäre diejenige nach der Einbeziehung von Frauen in die Wehrpflicht, was eine Grundgesetzänderung erfordern würde. Ein andere beträfe die verfassungsrechtliche Haltbarkeit einer Wehrpflicht, wenn nur ein Teil der Dienstpflichtigen tatsächlich eingezogen würde, alle Nichtverweigerer jedoch keinen Ersatzdienst leisten müssten, wie dies bis 2011 der Fall war. Laut Bundesverfassungsgericht stellt die Wehrpflicht einen gravierenden Eingriff in die Grundrechte dar und muss nicht nur sicherheitspolitisch gut begründbar, sondern auch dem Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß organisiert werden (was beides 2011 nicht mehr gegeben war).
Das Bundesverfassungsgericht hat 2004 festgestellt, dass die „Heranziehung zum Grundwehrdienst (...) erheblich in die persönliche Lebensführung, insbesondere in die berufliche Entwicklung des Wehrpflichtigen ein[greift]. (...) Der Wehrpflichtige ist jedoch nicht nur in seinem grundrechtlichen Abwehrrecht betroffen, sondern er steht zugleich in einem verfassungsrechtlichen Pflichtenverhältnis. Die allgemeine Wehrpflicht ist verfassungsrechtlich verankert. Ein Bundesgesetz, welches diese Pflicht in dem in Art. 12a Abs. 1 GG bezeichneten Umfang einführt, widerspricht der Verfassung nicht nur nicht, sondern aktualisiert eine in ihr enthaltene Grundentscheidung. Das Grundgesetz erachtet es als grundsätzlich zumutbar, dass der Wehrpflichtige seinen Bürgerdienst erfüllt, und stellt die damit notwendigerweise verbundenen Nachteile gegenüber dem staatlichen Wehrinteresse zurück. Die Nachteile des Wehrdienstleistenden haben daher vor der Verfassung nicht das gleiche Gewicht wie vergleichbare Belastungen außerhalb dieses Pflichtenverhältnisses. (...) Die Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht sind auf eine stetige und gleichmäßige Heranziehung der tauglichen Wehrpflichtigen angewiesen.“
Für die Feststellung von Wehrgerechtigkeit oder –ungerechtigkeit verwies das Gericht 2009 einerseits auf „die Zahl derjenigen, die tatsächlich Wehrdienst leisten, der Zahl derer gegenüber zu stellen, die nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen für den Wehrdienst zur Verfügung stehen (sog. Innenwirkung des Gebots der Wehrgerechtigkeit), und andererseits, die Zahl der tatsächlich zum Wehrdienst Einberufenen ins Verhältnis zur Zahl aller Männer eines Geburtsjahrgangs zu setzen (sog. Außenwirkung des Gebots der Wehrgerechtigkeit). (...) [Nicht aus der Betrachtung ausgeschlossen werden dürfen dabei] nicht gemusterte und wehrdienstunfähige Angehörige eines Jahrgangs sowie diejenigen an sich wehrdienstfähigen Wehrpflichtigen, denen eine Wehrdienstausnahme zur Seite steht, die anerkannte Kriegsdienstverweigerer sind, die einen unter den so genannten externen Bedarf fallenden Dienst - etwa im Zivil- und Katastrophenschutz (...) oder im Vollzugsdienst der Polizei oder Bundespolizei (...) - leisten oder die schließlich als Soldaten auf Zeit oder Offiziersanwärter nicht mehr für die Einberufung zum Grundwehrdienst zur Verfügung stehen. (...) [Außerdem sind ] auch verfassungsimmanente Grenzen des Gebots der Wehrgerechtigkeit - etwa im Hinblick auf veränderte Anforderungen an die Verteidigungsbereitschaft (...) vor dem Hintergrund der Integration der Bundesrepublik Deutschland in transnationale Sicherheitssysteme - zu würdigen (...).“
Obwohl damit deutlich wird, dass das Bundesverfassungsgericht zumindest bis zur Aussetzung der Wehrpflicht durchaus wehrpflichtfreundlich urteilte, hat es doch deutliche Kriterien (und Hürden) für Wehrgerechtigkeit aufgestellt, die es bei einer Wiedereinführung der Wehrpflicht zu berücksichtigen gelten würde. Diese Aufgabe wäre umso anspruchsvoller, je höher die Zahl der Wehrpflichtigen, etwa inklusive der Frauen, und je niedriger der Anteil der tatsächlich Eingezogenen und Ersatzdienstleistenden wäre. Eine deutsche Wehrpflicht nach dem norwegischen Modell, wie sie der Marineinspekteur ins Spiel gebracht hat, würde den verfassungsrechtlichen Vorgaben mit ziemlicher Sicherheit nicht entsprechen.
Literatur/Links:
Baev, Pavel (2022): Russia’s War in Ukraine. Misleading Doctrine, Misguided Strategy. Etudes de l’IFRI no. 40, https://www.ifri.org/sites/default/files/atoms/files/baev_russia_war_ukraine_2022.pdf .
Bowen, Andrw S. (2023): Russia’s War in Ukrtaine: Military and Intelligence Aspects. Washington D.C.: Congessional Research Service (13 February 2023), https://crsreports.congress.gov/product/pdf/R/R47068 .
Dalsjö, Robert/Jonsson, Michael/Norberg, Johan (2022): A Brutal Examination: Russian Military Capability in Light of the Ukraine War. Survivial 64 (3): 7-28.
Rotte, Ralph (1996): Das Ende der Wehrpflicht in Europa? Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 50 (5): 460-465.