Ein strategischer Fehler Israels?

Die erwartete Bodenoffensive der IDF gegen Gaza verzögert sich weiter. Ursachen dürften die Evakuierung von Zivilisten aus dem nördlichen Gaza-Streifen, Verhandlungen über die israelischen Geiseln und letztlich wohl auch eine gewisse Ratlosigkeit darüber, was nach einem etwaigen militärischen Sieg über die Hamas weiter geschehen sollte, sein. Außerdem nimmt die israelische Führung wohl auch Rücksicht auf die hohen Staatsgäste, die ihre Solidarität persönlich zeigen wollen. Dies ist alles sehr verständlich, insbesondere aus einer humanitären Warte. 

Tatsächlich kann man aber durchaus fragen, ob dieses vorsichtige Vorgehen strategisch zielführend ist, wenn das oberste Ziel die effektive und möglichst dauerhafte Ausschaltung der Hamas ist. Denn das Warten bedeutet zugleich, dass

1) sich die Hamas-Kämpfer noch besser auf die israelische Bodenoffensive vorbereiten und sie zusätzlich erschweren können, etwa durch die Einrichtung in den Ruinen Gaza-Stadts;

2) den Gegnern Israels – allen voran dem Iran - mehr Zeit gegeben wird, um ihre militärischen und politischen Reaktionen abzustimmen, neue Fronten zu organisieren und die Bevölkerung in der arabisch-muslimischen Welt aufzustacheln;

3) der Druck auf die israelische Regierung bezüglich der Geiselfrage zu- und entsprechend Geschlossenheit und Entschlossenheit der israelischen Gesellschaft geschwächt werden, etwa durch die wachsende Unzufriedenheit mit dem Premierminister;

4) auch die Solidarität des Westens allmählich zu bröckeln beginnt, insbesondere im Hinblick auf die Einhaltung des humanitären Völkerrechts und den Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung sowie die Befürchtungen um islamistische Anschläge in Europa;

5) der Handlungsspielraum Israels durch internationale Einmischung zunehmend eingeengt wird, sei es durch die eigenen Partner wie die USA (der Besuch Präsident Bidens und die Entsendung zweier Carrier Battle Groups, die in etwa Anfang nächster Woche im östlichen Mittelmeer versammelt sein dürften - die USS Eisenhower ist am letzten Wochenende aus Norfolk VA ausgelaufen - sind klare Signale dafür, dass die USA aktiv Einfluss auf den Konflikt nehmen wollen und dabei Israel bei aller Unterstützung keinen "Blankoscheck" ausstellen), sei es durch das zunehmende diplomatische Engagement Russlands und Chinas.

Wahrscheinlich wäre es trotz der damit verbundenen Opfer eine nachhaltigere Strategie gewesen, die Bodenoffensive in Gaza wie ursprünglich geplant Ende letzter Woche zu starten, in einer Situation, in der der Schock über die Gräuel des Überfalls der Hamas noch frisch und nicht zuletzt die emotionale Unterstützung Israels weitverbreitet waren. Mittlerweile nehmen die Zweifel, Vorbehalte und Differenzierungen wieder zu, natürlich häufig weiter verpackt in Solidaritätsadressen, aber mit der deutlichen Zielrichtung israelischer militärischer Zurückhaltung. Von den antisemitischen und antizionistischen Regierungen und Gruppen braucht gar nicht die Rede sein; diese werden ebenfalls lauter.

Man soll historische Analogien nicht zu weit treiben, aber das Verhalten der israelischen Regierung erinnert in gewisser Weise an dasjenige der k.u.k. Führung in der Julikrise 1914, die, statt die Abscheu der europäischen Öffentlichkeit über den Terroranschlag auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger für eine schnelle militärische Aktion gegen Serbien zu nutzen (wie vom deutschen Verbündeten gefordert), wochenlang herumlavierte und am Ende mit dem Flächenbrand des Ersten Weltkriegs konfrontiert war. Im aktuellen Fall erscheint das Versäumnis möglicherweise noch unnötiger, weil die regionale Eskalation (zumindest was die Hisbollah angeht) wohl ohnehin schwer zu vermeiden ist und Israel (im Unterschied zur Donaumonarchie 1914) über ein effektives militärisches Instrumentarium verfügt.