Hat sich die Hamas verrechnet?

Nach den massiven Bombardements des Gaza-Streifens durch die israelische Luftwaffe scheint nun eine umfangreiche Bodenoffensive der IDF bevorzustehen, mit dem erklärten Ziel, Strukturen, Ressourcen und Personal der Hamas so weit wie irgend möglich zu vernichten. Bislang deuten der umfangreiche Aufmarsch der israelischen Truppen und die Äußerungen der politischen und militärischen Führung Israels darauf hin, dass dieses Ziel ernst gemeint ist und auch höhere eigene Verluste in Kauf genommen werden dürften, um eine Wiederholung des Hamas-Überfalls von letzter Woche mit seinen Massakern an der Zivilbevölkerung Südisraels zukünftig ein für alle Mal zu vermeiden.

Auch wenn zum gegenwärtigen Zeitpunkt natürlich noch nichts über den tatsächlichen Erfolg der erwarteten Militäroffensive und die weitere Entwicklung des Krieges gesagt werden kann, spricht doch Verschiedenes dafür, dass die Hamas-Führung sich bei ihrem Angriff auf israelisches Territorium verkalkuliert haben könnte. Erwartet wurde wohl, dass der unmittelbare Erfolg der Hamas-Kämpfer beim überraschenden Einfall in Israel zu einer weiteren Destabilisierung der israelischen Regierung, die sich durch die Auseinandersetzungen um die Justizreform der Regierungskoalition in den Augen vieler Israelis ohnehin in einer Legitimationskrise befand, führen würde. Sowohl die Demonstration temporärer israelischer Schwäche und die blutige Rache an den verhassten Juden und Jüdinnen für tatsächliches oder imaginiertes Leid der Palästinenser sollte wohl außerdem einen umfangreichen Aufstand gegen das Besatzungsregime und einen allgemeinen Befreiungs- und Vernichtungskrieg gegen den Staat Israel initiieren, um dem erklärten Ziel der Hamas, den Staat Israel auszulöschen, einen deutlichen Schritt näher zu kommen.

Billigend in Kauf bzw. notwendigerweise gezielt miteingeplant dürften auch israelische (Luft-) Angriffe gegen Gaza mit den damit verbundenen, praktisch unvermeidlichen zivilen Opfern worden sein, mit denen die Weltöffentlichkeit und vor allem die arabischen Gesellschaften gegen Israel aufgestachelt werden sollten. Die Entführung zahlreicher Geiseln in den Gaza-Streifen würde dabei die Intensität der israelischen militärischen Antwort relativieren und auch bei einem Ausbleiben eines umfangreichen militärischen Erfolgs gegen Israel einen propagandistischen und legitimationsstützenden Erfolg ermöglichen, indem nach dem Muster des Falles des 2007 von der Hamas entführten Oberfeldwebels Gilad Schalit (für dessen Freilassung die israelische Regierung 2011 über 1.000 Palästinenser freiließ) zahlreiche palästinensische Gefangene freigepresst und möglicherweise andere Zugeständnisse erwirkt werden könnten. Neben dem Abbruch oder gar dem Zurückdrehen der Bemühungen um einen Ausgleich der arabischen Staaten mit Israel könnte auch eine Mobilisierung der Bevölkerung der arabischen Staaten gegen ihre zunehmend als allzu israelfreundlich oder prowestlich (und damit antiiranisch) wahrgenommene Regierungen beabsichtigt worden sein.   

Unabhängig von den konkreten Plänen der Hamas sieht es gegenwärtig danach aus, dass ein solches Kalkül in dreierlei Hinsicht gescheitert ist, auch wenn die Sabotage des saudiarabisch-israelischen Normalisierungsprozesses wohl funktioniert hat:

Erstens hat der Schock des Überfalls dazu geführt, dass sich die Israelis nun im Sinne eines „rallye-round-the-flag“-Effekts hinter der Regierung gesammelt haben und ungeachtet aller fundamentalen innenpolitischen und ideologischen Querelen die nationale Einheit gegen den äußeren Feind zumindest für die Kriegsdauer wiederhergestellt wurde. Demonstriert wird dies auch durch die Bildung eines „Kriegskabinetts“ unter Beteiligung Benny Gantz‘, welches auch ohne direkte Teilnahme anderer Oppositionsparteien von diesen ebenfalls unterstützt wird. 

Zweitens haben der „Sieg“ der Hamas und die Aufforderungen ihrer Führung an alle Muslime, den Kampf gegen die Juden aufzunehmen – man denke an den Appell des militärischen Führers und angeblichen „Masterminds“ der Hamas-Offensive, Mohammed Deif, der die Palästinenser zu Beginn der Operation „Al-Aqsa Flut“ dazu aufrief „to kill, burn, destroy, and shut down roads. (...) The day has come when anyone who has a gun should take it out. Now is the time. If you do not have a gun, take up your cleaver, axe, Molotov cocktail, truck, tractor, or car.” Ungeachtet der für die Region üblichen rhetorischen Übertreibungen mündete auch der von der Hamas ausgerufene „Tag des Zorns“ trotz Großdemonstrationen im Nahen Osten und weltweiten propalästinensischen Protesten und selbst angesichts etwa des Anschlags in Arras  bislang offensichtlich nicht umfangreichen Gewaltaktionen gegen Juden, jüdische Einrichtungen oder den Staat Israel. Trotz zunehmenden Unbehagens in der westlichen Öffentlichkeit gibt es von dort bislang auch keine effektive Verurteilung oder gar Sanktionierung der israelischen Maßnahmen gegen den Gaza-Streifen.

Die Schreckensbilder der Massaker in Südisrael erweisen sich so für die Hamas als kontraproduktiv; wahrscheinlich wäre die internationale Kritik am israelischen Vorgehen gegen Gaza verhementer, hätte sich die Terrororganisation auf die Bekämpfung israelischer Armee- und Sicherheitskräfte und die Entführung wehrfähiger Frauen und Männer – in Israel gilt die Wehrpflicht ja für beide Geschlechter – beschränkt, anstatt, aufgrund fanatischen Hasses, Selbstberauschung durch das Gefühl des eigenen Erfolgs oder einfach für irreguläre Einheiten nicht unüblichen Mangel an Disziplin, gezielt Zivilisten einschließlich kleiner Kinder niederzumetzeln. 

Drittens ist es gerade der letztgenannte Aspekt, dessen Wirkung wohl entscheidend unterschätzt wurde. Die Gräueltaten des Überfalls haben zweifellos den empfindlichsten Nerv der israelischen Gesellschaft, quasi die DNS des jüdischen Staates getroffen: das „Nie wieder!“, welches nach dem Holocaust den Existenzgrund des Staates Israel ausmacht. Nicht umsonst ist der 7. Oktober bereits mit dem 11. September 2001 oder dem Massemord von Babyn Jar von 29./30. September 1941 verglichen worden.  Die höchste Zahl an jüdischen Opfern seit dem Genozid der Nationalsozialisten und die Art und Weise, wie sie umgebracht wurden, hat dazu geführt, dass sich die Hamas nun einer grimmigen israelischen Entschlossenheit gegenübersieht, mit welcher sie bislang in der Auseinandersetzung mit dem jüdischen Staat noch nicht konfrontiert war.

Dies lässt auch die Hoffnung auf eine Erpressung Israels mithilfe der Geiseln oder eine Ermüdung der israelischen Anstrengungen infolge einer von der Hamas wohl erhofften Abnutzung der IDF und des Kampfgeistes der israelischen Gesellschaft durch hohe Verluste in einem stalingradartigen Häuser- und Straßenkampf in Gaza recht unwahrscheinlich erscheinen, zumindest soweit, dass die Hamas sich auf dieser Basis kaum Siegeschancen ausrechnen kann. Die faktische Notstandsregierung Israels verweist zudem darauf, dass der Wille zur weitgehenden Zerschlagung der Hamas vom größten Teil der Israelis mitgetragen wird und nicht nur das Programm einer fundamentalistisch-rechtsextremen Gruppe in der bisherigen Regierungskoalition ist, etwa des Ministers für Öffentliche Sicherheit Itamar Ben-Gvir, dessen antiarabischen und antimuslimischen Überzeugungen bekanntlich so extrem sind, dass er beispielsweise nicht zum Wehrdienst in den IDF zugelassen wurde. 

Verstärkt wird die zu beobachtende und noch zu erwartende Wucht der israelischen Militärschläge dabei dadurch, dass Israel trotz der Vorbereitung der Öffentlichkeit auf einen monate- oder gar jahrelangen Krieg bestrebt sein muss, die Gefährdung durch die Hamas trotz der unbestreitbar damit verbundenen militärischen Herausforderungen möglichst zügig zu beseitigen. Vier Faktoren sind dafür ausschlaggebend: Zum einen müssen die IDF schnell Reserven freibekommen, um sich gegen die zu erwartenden neuen Fronten im Norden (gegen die Hisbollah), im Nordosten (gegen Syrien), auf der Westbank (gegen eine neuerliche Intifada) und womöglich gegen den Iran (was wohl primär die Luftwaffe und die Raketenabwehr betreffen würde) positionieren zu können.

Außerdem kann man sich nicht darauf verlassen, dass die westliche Unterstützung bei zunehmenden Verlusten und Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza ungebrochen weitergeht. Nicht umsonst hat der Sprecher der IDF bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die anstehenden Szenen aus Gaza „schwer auszuhalten sein werden“.

Die westlichen Partner Israels, allen voran die USA, sind außerdem an einem schnellen Ende der Kämpfe interessiert, um eine Verringerung der Unterstützung der Ukraine in Folge notwendig werdender umfangreicher Waffenlieferungen an Israel zu vermeiden, von dem die russische Seite im Krieg gegen die Ukraine profitieren könnte. Es gibt entsprechend sogar den Verdacht, dass das Vorgehen der vom Iran gesponserten und evtl. geführten Hamas zum jetzigen Zeitpunkt zwischen Teheran und Moskau abgestimmt worden ist.

Schließlich stellt sich die Frage, wie lang die Wirtschaft eines Landes mit einer Bevölkerung von knapp zehn Millionen, einer labour force von weniger als sieben Millionen Menschen und einer Arbeitslosenquote von rund 3,5 Prozent den Entzug von 360.000 qualifizierten Arbeitskräften – das ist die Zahl der gegenwärtig mobilisierten Reservistinnen und Reservisten; übertragen auf deutsche Verhältnisse wären das rund drei Millionen Männer und Frauen – verkraften kann. Nicht nur humanitär, politisch und diplomatisch besteht somit für Israel Druck, den Krieg schnell (siegreich) zu beenden, sondern durchaus auch ökonomisch.