Pseudo-Realpolitik und Scheinpazifismus im neuen deutschen Promi-Diskurs über den Ukrainekrieg

In den letzten Tagen machen zwei Beiträge Prominenter zur Debatte um die Haltung des Westens (und insbesondere der Bundesrepublik) zum Ukraine-Krieg in den Medien Furore. Der eine ist der Essay „Ein Plädoyer für Verhandlungen“ von Jürgen Habermas’ in der Süddeutschen Zeitung, der andere die gemeinsame Online-Petition „Manifest für Frieden“ von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, die von 69 Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichnern sowie mittlerweile beinahe 500.000 weiteren unterstützt worden ist. 

Jürgen Habermas fordert in seinem Text die „rechtzeitige“ Aufnahme von Verhandlungen mit Russland über eine Beendigung des Krieges durch einen „für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiss“. Er sieht in der nach und nach qualitativ gesteigerten militärischen Unterstützung der Ukraine die Gefahr einer eskalatorischen Eigendynamik, an deren Ende der erste Weltkrieg zwischen nuklear bewaffneten Mächten stehen könnte. Diese Eigendynamik des Konflikts wird laut Habermas durch „durch den bellizistischen (kriegstreiberischen) Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung“ angetrieben, welche mittlerweile nicht mehr verhindern will, dass die Ukraine den Krieg verliert, sondern bestrebt ist, dass sie Russland tatsächlich klar besiegt. Den Wendepunkt in der anfänglich sehr vorsichtigen Haltung etwa der US- und der Bundesregierung macht Habermas daran fest, dass „sich auch China zur Ächtung des Einsatzes von ABC-Waffen bekannt hat“, was seiner Auffassung nach die Furcht vor einer nuklearen Eskalation von Seiten Russlands bei den westlichen Entscheidungsträgern maßgeblich reduziert hat. Im Endeffekt führe die resultierende Eigendynamik aber angesichts der ungebrochenen Kriegsanstrengungen der russischen Führung dazu, dass auch die westlichen Hilfslieferungen an die Ukraine immer weiter zunehmen müssten, bis zu einer Schwelle, an der er vor der Wahl stünde, "entweder einzuknicken oder zur Kriegspartei zu werden" – und sich dann eben doch die nukleare Frage stellt.

Dass dies in den Hauptstädten der NATO-Staaten nicht erkannt werden soll, erscheint freilich ausgesprochen zweifelhaft, haben die westlichen Regierungen doch bis heute stets unterstrichen, dass es keine direkte Konfrontation mit Russland geben darf. Das impliziert selbstverständlich auch Grenzen der militärischen Unterstützung der Ukraine, etwa, was die Ausstattung der ukrainischen Streitkräfte mit weitreichenden Artilleriesystemen, Kampfflugzeugen oder einer großen Zahl von Kampfpanzern angeht. Die gegenwärtigen schwierigen Diskussionen um eine Lieferung von Kampfflugzeugen (die noch dazu wohl in ziemlich geringer Stückzahl zur Verfügung ständen) und die insgesamt recht überschaubare Zahl an zugesagten Kampfpanzern zeigen - sehr zum Unwillen Kiews - immer noch deutlich, dass die NATO-Unterstützung tatsächlich auf eine erfolgreiche Abwehr der russischen Invasion (und längerfristige Schwächung der russischen Streitkräfte) gerichtet ist und nicht auf ukrainische Gegenschläge tief ins russische Hinterland oder eine Rückeroberung der Krim. Dass die westlichen Entscheidungsträger wegen einer Äußerung der chinesischen Führung das Heft der Entscheidung etwa nach dem (angeblichen) Muster der Politiker von 1914 aus der Hand geben (s.u.), ist demnach wenig plausibel. Auch die geringen oder ganz ausbleibenden öffentlichen Reaktionen auf potenzielle oder tatsächliche russische Hybridangriffe unterstreichen die noch immer bestehende Priorität der Vermeidung einer Ausweitung des Krieges über das Territorium der Ukraine hinaus. 

Habermas "geht es um den vorbeugenden Charakter von rechtzeitigen Verhandlungen, die verhindern, dass ein langer Krieg noch mehr Menschenleben und Zerstörungen fordert und uns am Ende vor eine ausweglose Wahl stellt: entweder aktiv in den Krieg einzugreifen oder, um nicht den ersten Weltkrieg unter nuklear bewaffneten Mächten auszulösen, die Ukraine ihrem Schicksal zu überlassen." Dabei stellt der Vorzeige-Intellektuelle der Bundesrepublik die Waffenlieferungen nicht grundsätzlich in Frage und hält die Unterstützung der Ukraine gegen die russische Aggression für völlig legitim. Er mahnt aber an, dass die westlichen Regierungen die „legitimen Interessen und Verpflichtungen“ ihrer eigenen Staaten und Gesellschaften – etwa den Schutz der eigenen Bevölkerung - nicht aus den Augen verlieren und sich in der Frage nach einer Verhandlungslösung nicht an die Absichten der ukrainischen Führung binden dürfen. „Das Schlafwandeln am Rande des Abgrundes wird vor allem deshalb zu einer realen Gefahr, weil die westliche Allianz der Ukraine nicht nur den Rücken stärkt, sondern unermüdlich versichert, dass sie die ukrainische Regierung so ‚lange wie nötig’ unterstützt und dass die ukrainische Regierung allein über Zeitpunkt und Ziel möglicher Verhandlungen entscheiden kann.“ – Man beachte den Bezug zu Christopher Clarkes vieldiskutierten Buch „Die Schlafwandler“ zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs von 2012, der die Unterstützung der Ukraine quasi zu einem Blankoscheck nach dem Muster der bedingungslosen deutschen Unterstützung Österreich-Ungarns in der Juli-Krise 1914 stilisiert. 

Wie eine Verhandlungslösung aussehen könnte, skizziert Habermas nicht explizit, obwohl er andeutet, dass der Status quo ante von vor Februar 2023 ein denkbarer Referenzpunkt sein könnte. Möglichst schnelle Verhandlungen seien auch deshalb notwendig, weil für die „Regierung Biden (...) die Uhr [tickt]“, und die Ukrainehilfe durch die USA im Fall eines republikanischen Wahlsieges in den Präsidentschaftswahlen 2024 möglicherweise stark reduziert werden könnte. Zugleich gesteht er ein, dass es "einstweilen kein Anzeichen dafür [gibt], dass sich Putin auf Verhandlungen einlassen würde." 

Der Beitrag Jürgen Habermas’ ist also letztlich ein ähnlicher Aufruf zur außenpolitischen Besonnenheit, den er in ähnlicher Weise bereits kurz nach dem Ausbruch des Krieges formuliert hatte. Er will wie andere „auf ein öffentliches Nachdenken über den schwierigen Weg zu Verhandlungen drängen“. Interessant ist dabei, dass er keine echte Lösung vorschlägt und stattdessen quasi realpolitisch argumentiert, indem er neben den humanitären Konsequenzen des Krieges vor allem die Eigeninteressen der westlichen Staaten Eigeninteressen in den Vordergrund rückt, die im Zweifel auch unabhängig von der Ukraine eine Verhandlungslösung mit Russland anstreben sollten. Auch wenn er betont, dass er es gar nicht zu einer Situation kommen lassen möchte, in der der Westen aus purem Eigeninteresse die Ukraine im Stich lassen und Russland den Krieg doch noch gewinnen kann, verkennt seine Argumentation, dass eine Verhandlungsbereitschaft, wie er sie fordert, geradezu eine Einladung an die russische Führung ist, sich eben nicht auf solche Verhandlungen einzulassen und darauf zu vertrauen, dass bei ausreichender eigener Durchhaltefähigkeit die antirussische Allianz von selbst zerfallen wird. Jürgen Habermas bestärkt Vladimir Putin damit regelrecht in seinem Konzept, die eigene Aggression erfolgreich durchzusetzen, zumindest insofern, dass die russische Wahrnehmung des Westens und insbesondere der Europäer ohnehin davon ausgeht, dass der Kreml im Zweifel den stärkeren Willen und die Härte hat, eine Politik des „brinkmanship“ zu verfolgen. 

Ein anderer Punkt, der bei Habermas keine zentrale Rolle spielt, aber für die Nachhaltigkeit eines Friedens von höchster Relevanz ist, ist die Frage, inwieweit eine Kompromisslösung nicht zugleich einen Gewinn für den Aggressor und damit einen Anreiz zu zukünftig weiteren gewaltsamen Expansionsversuchen darstellen würde. Tatsächlich ist gerade eine möglichst frühe Aufnahme von Verhandlungen und damit eine (vorläufige) Beendigung des Krieges aus einer längerfristigen Sicht gar nicht im Interesse des Westens, denn das fundamentale Ziel für einer möglichst stabilen Nachkriegsordnung setzt voraus, dass Russland so hohe Kosten aufgebürdet werden, dass selbst ein Propagandaapparat wie der des Kreml der eigenen Bevölkerung nicht mehr weismachen kann, der Angriff auf die Ukraine hätte sich auf irgendeine Weise gelohnt, sei es territorial, sei es durch die Neutralisierung oder Zerstörung des Landes. Davon sind wir aber gegenwärtig offenbar noch weit entfernt. Wenn es dem realpolitisch argumentierenden Habermas schon nicht um die Aufrechterhaltung völkerrechtlicher Prinzipien wie der Nichtakzeptanz von Aggression und gewaltsamer Grenzverschiebungen geht, sollte er die komplexen Eigeninteressen der westlichen Staaten wenigstens strategisch realistisch betrachten und nicht auf die Verhinderung eines Weltkrieges (die zweifellos dazugehört) reduzieren.

Wesentlich härter als mit dem insgesamt doch eher um Ausgewogenheit bemühten Aufsatz Jürgen Habermas gehen Kommentatoren mit der Petition Alice Schwarzers und Sahra Wagenknechts um. Darin beschreiben sie zunächst die bisherigen Folgen des Krieges (freilich, ohne Ross und Reiter zu nennen): „Über 200.000 Soldaten und 50.000 Zivilisten wurden bisher getötet. Frauen wurden vergewaltigt, Kinder verängstigt, ein ganzes Volk traumatisiert. Wenn die Kämpfe so weitergehen, ist die Ukraine bald ein entvölkertes, zerstörtes Land. Und auch viele Menschen in ganz Europa haben Angst vor einer Ausweitung des Krieges. Sie fürchten um ihre und die Zukunft ihrer Kinder.“ Zwar brauche die „von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung (...) unsere Solidarität. Aber was wäre jetzt solidarisch? Wie lange noch soll auf dem Schlachtfeld Ukraine gekämpft und gestorben werden? Und was ist jetzt, ein Jahr danach, eigentlich das Ziel dieses Krieges?“ Spätestens beim Versuch der Ukraine, gestützt auf immer weiter gesteigerte Waffenlieferungen, die Krim wiederzuerobern, sei zu befürchten, „dass Putin (...) zu einem maximalen Gegenschlag ausholt.“ Um also einen drohenden Nuklearkrieg und Hunderttausende weiterer Tote zu verhindern, fordert die Petition sofortige Verhandlungen und Kompromisse beider Seiten sowie einen Stopp der „Eskalation der Waffenlieferungen“. Denn „die Ukraine kann zwar – unterstützt durch den Westen – einzelne Schlachten gewinnen. Aber sie kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen“, und „Verhandeln heißt nicht kapitulieren.“ 

Ähnlich wie Jürgen Habermas verweisen Schwarzer und Wagenknecht darauf, dass die Hälfte der deutschen Bevölkerung ihre Haltung unterstütze. Im Unterschied zu Habermas wenden sie sich jedoch sehr viel stärker gegen die militärische Unterstützung der Ukraine, womit letztlich die Position wiederholt wird, die es bereits im Verlaufe des letzten Jahres in verschiedenen „offenen Briefen“ Prominenter gab, nämlich, dass ein Sieg Russlands unvermeidlich sei, wenn man keinen Dritten Weltkrieg in Kauf nehmen würde, und deshalb eine schnelle Kriegsbeendigung auch mit Zugeständnissen an Russland nötig sei. Dies riecht nach Appeasement-Bereitschaft auf Kosten des Aggressionsopfers, um die eigene behagliche Sicherheit zu gewährleisten. Tatsächlich ist die Argumentation der Petition an einigen Stellen überaus fragwürdig: So wollen offenbar die ukrainische Regierung und Bevölkerung selbst trotz der Verluste weiterkämpfen, die Ukraine ist offensichtlich militärisch nicht so chancenlos wie behauptet, und ein Kompromissfrieden wäre – wie bei Habermas – womöglich ein Anreiz für weitere Aggressionen. Zudem findet sich auch hier kein Hinweis, wie denn eine Verhandlungslösung aussehen könnte bzw. warum sich die russische Führung auf Verhandlungen einlassen sollte, wenn sie damit rechnen könnte, dass der Westen die Unterstützung der Ukraine verringert. Eine Mitunterzeichnerin der Petition, die frühere Ratsvorsitzende Margit Käßmann, forderte beispielsweise „kreative Möglichkeiten“, um zu einer Waffenruhe zu kommen. 

Nicht umsonst nennt ein Kommentar in der TAZ die Petition daher ein „Manifest der Unterwerfung“ und kritisiert sie als „empörend falsch, weil er die Angegriffenen obszön moralisch ins Unrecht stellt – und obendrein ihre westlichen Freund*innen, die Staaten der NATO etwa. Sei’s drum: Es ist nicht die erste Positionierung der beiden und ihrer Schar an Bagatellisierer*innen der Putin’schen Aggression (...). (...) Sie alle stellen sich offenbar den Krieg des Goliath gegen David eher wie eine aus dem Ruder geratene Rauferei vor - da muss dann eben ein Stuhlkreis her.“. Etwas grundsätzlicher, wenngleich ebenso polemisch hat Herfried Münkler den Ansatz Schwarzers und Wagenknechts in einem Interview mit dem Kölner Stadtanzeiger kritisiert: „Die Vorstellung der Autorinnen und Autoren, man könne Frieden herstellen, indem man ‚Frieden!’ ruft, ist mir zuwider. Dieses Manifest (...) desavouiert die gesamte Idee des Pazifismus und das Grundanliegen der Friedensbewegung. Wer das Wort Frieden nicht  bloß für eine beliebige Wünsch-dir-was-Vokabel hält, muss dem mit Entschiedenheit entgegentreten. (...) Die Idee des Pazifismus, wie sie seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts in internationale Vertragssysteme überführt wurde, beruht auf dem Verbot des Angriffskriegs. Die Verteidigung gegen einen Aggressor bleibt selbstverständlich zulässig. Das Manifest aber nivelliert fortgesetzt die Kategorien von Angriff und Verteidigung. Pazifismus ist dann nicht anderes als Unterwerfungsbereitschaft. Das war er eigentlich nie, und was wir in diesem Papier vorgeführt bekommen, ist das Ende einer politisch ernstzunehmenden Friedensbewegung. (...) Es ist ja nicht so, dass die ukrainische Armee in Russland eingefallen wäre und ihre Soldaten russische Frauen vergewaltigt hätten. Tatsächlich ist es genau andersherum. Das sagt das Manifest aber nicht. Es ist beschönigend, verlogen und geht gewissermaßen eine Komplizenschaft mit dem Aggressor ein. (...) Hätte es in Deutschland etwas mehr vergleichende Kriegsforschung gegeben, käme man womöglich nicht zu der schlicht falschen Alternative ‚Krieg oder Diplomatie’, wie das Manifest sie aufmacht. In der gesamten Kriegsgeschichte der vergangenen 400 Jahre fanden parallel zum Geschehen auf dem Schlachtfeld immer Verhandlungen statt. Man kann – in Umkehrung der berühmten Kriegsformel von Carl von Clausewitz – so weit gehen zu sagen: Diplomatie ist in vielen Kriegen zunächst die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Im Übrigen wurde und wird auch im Ukraine-Krieg verhandelt. Denken Sie an das Abkommen über Getreidelieferungen.“

Vladimir Putin wird es freuen, sind doch die beiden Diskussionsbeiträge und die Kontroverse um sie vor allem Ausdruck einer wachsenden Kriegsmüdigkeit und Furcht in der deutschen Öffentlichkeit – und damit ein Zeichen dafür, dass er den Ukraine-Krieg letztendlich doch noch auf eine vorzeigbare Weise „siegreich“ zum Abschluss bringen könnte, und sei es nur deshalb, weil die westlichen Gesellschaften, allen voran die deutsche, ihre Unterstützung für die Ukraine jenseits wohlfeiler Solidaritätsbekundungen sukzessive aufgibt. Die gegenwärtig wieder intensiver geführte Debatte um eine „Kompromisslösung“ für den Ukraine-Krieg demonstriert, dass das zynische russische Spiel auf Zeit inklusive der humanitären Kosten auch für die eigene Seite durchaus noch aufgehen könnte.