Israel vor dem IGH

Während die deutsche und europäische Öffentlichkeit von den neuen Ängsten vor dem Zerfall der NATO im Fall einer neuerlichen Präsidentschaft Donald Trumps (einschließlich einer Neuauflage der alle paar Jahre aufkommenden (Schein-) Debatte um deutsche Nuklearwaffen), die russischen Offensiverfolge in der Ukraine und den Tod der (zumindest aus der westlichen Perspektive) Galionsfigur des innerrussischen Widerstands gegen Vladimir Putin, Alexei Nawalny, abgelenkt ist, geht das internationale juristische Ringen um das israelische Vorgehen gegen die Hamas im Gaza-Streifen und die schwelende Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinensern im Westjordanland weiter. Kaum bemerkt von den hiesigen Medien hat der Internationale Gerichtshof am 16. Februar 2024 einen Dringlichkeitsantrag Südafrikas auf weitere Maßnahmen gegen Israel zur Verhinderung eines Genozids im Gaza-Streifen abgelehnt. Südafrika hatte im Kontext seiner laufenden Völkermordklage auf die durch die angekündigte Offensive der IDF gegen Rafah zu erwartenden zusätzlichen humanitären Opfer hingewiesen. 

Während der IGH damit implizit deutlich macht, dass er trotz seiner einstweiligen Verfügung vom 26. Januar nach dem jetzigen Stand durchaus sehr skeptisch gegenüber der Behauptung ist, Israel begehe einen Völkermord an den Palästinensern, ist der politisch-polemische, rhetorische Vorwurf des Genozids insbesondere von linker Seite weiterhin virulent. So hat der brasilianische Präsident Luis Inacio Lula da Silva am 18. Februar in einem Interview gesagt, dass das, was im Gaza-Streifen passiere, kein Krieg sei, sondern Völkermord. Es sei ein Krieg zwischen einer sorgfältig vorbereiteten Armee und Frauen und Kindern. Was dem palästinensischen Volk im Gaza-Streifen widerfahre, sei in keinem anderen Moment der Geschichte geschehen, außer in dem Augenblick, als Hitler beschlossen habe, die Juden zu ermorden. Dieser Vergleich des Gaza-Krieges mit dem Holocaust hat erwartungsgemäß in der israelischen Öffentlichkeit zu lautem Unmut geführt; der brasilianische Botschafter in Israel wurde heute einbestellt, um den deutlichen Protest der israelischen Regierung entgegenzunehmen, und der Präsident Brasiliens wurde zur persona non grata in Israel erklärt. Im eigentlichen Verfahren vor dem IGH hat sich mittlerweile Nicaragua als erster Staat formal als Unterstützer der südafrikanischen Haltung positioniert. 

Ebenfalls vor dem IGH spielt die Frage des Verhaltens des israelischen Staates gegenüber den Palästinensern auch in zwei weiteren Vorgängen eine Rolle. So finden nun bis zum 26. Februar die Anhörungen im Kontext der Erstellung eines Rechtsgutachtens des IGHs zur Lage in den besetzten Gebieten (Gaza und Westjordanland inklusive Ostjerusalem) statt. Um ein solches Rechtsgutachten hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen den IGH Ende 2022 ersucht, nachdem der IGH bereits 2004 in einem Rechtsgutachten zu dem Schluss gekommen war, dass die Trennmauer zwischen israelischem und palästinensischem Gebiet im Westjordanland völkerrechtswidrig sei und abgebaut werden müsse (was nicht passiert ist). Nun geht es um die Frage des rechtmäßigen Verhaltens der israelischen Besatzung, u.a. im Hinblick auf die jüdischen Siedlungen auf der West Bank, den Status Jerusalems, die Auswirkungen israelischer Maßnahmen auf die Demographie und die Rechte der Palästinenser gegenüber der Besatzungsmacht.   

Ein weiteres Verfahren vor dem IGH steht auf Betreiben Ägyptens an. Angesichts des sich durch den Gaza-Krieg und die humanitäre Lage im Gaza-Streifen, die in Ägypten zu großer Sorge um etwaige palästinensische Flüchtlingsströme auf die Sinai-Halbinsel geführt haben, angespannten Verhältnisses des Landes zu Israel werden Israel nun Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht vorgeworfen. Am 21. Februar soll der ägyptische Antrag erstmals in Den Haag angehört werden. 

Sowohl das Rechtsgutachten und die ägyptische Klage haben – ganz im Gegensatz zum Genozid-Vorwurf – ein durchaus hohes Potenzial, Israel mit einer Reihe tatsächlicher Völkerrechtsverstöße zu konfrontieren. Dazu gehören zweifellos die seit dem Inkrafttreten der Satzung der Vereinten Nationen 1945 als völkerrechtswidrig anzusehenden Annexionen Ostjerusalems und der Golan-Höhen (die als nichtpalästinensische Gebiet wohl nicht direkt Gegenstand der Verhandlungen sein dürften) oder die Förderung illegaler Siedlungen im Westjordanland (diejenigen im Gaza-Streifen wurden 2005 mit dem Abzug der IDF geräumt). Schließlich verbietet das humanitäre Völkerrecht etwa die Ansiedlung eigener Bürger im besetzten Territorium, und - wie der IGH in seinem Gutachten von 2004 festgestellt hat - gelten etwa die Regeln der Haager Landkriegsordnung inzwischen als Völkergewohnheitsrecht auch für Israel, selbst wenn es die IV. Haager Konvention von 1907 nicht ratifiziert hat. Auch die undifferenzierte Abriegelung von Gebieten (wie sie ironischerweise auch Ägypten gegenüber dem Gaza-Streifen praktiziert) ist völkerrechtlich bedenklich.

Interessant wird es sein, wie der IGH sich zu einigen grundlegenden Rechtsfragen des Nahost-Konfliktes positioniert. Dies betrifft etwa den aktuellen völkerrechtlichen Status der besetzten Gebiete, denn im Unterschied zum herkömmlichen Besatzungsrecht gibt es ja keinen Staat, an den Israel die Gebiete wieder zurückgeben könnte (etwa nach dem Muster der deutschen Besetzung Belgiens in den beiden Weltkriegen): Die arabischen Staaten lehnten bekanntlich den UN-Teilungsplan für das ehemalige britische Mandatsgebiet Palästina von 1947 ab - Großbritannien legte das Mandat formell 1947 nieder -, Ägypten besetzte den Gaza-Streifen 1948, ohne ihn offiziell in sein souveränes Territorium einzugliedern, und Jordanien annektierte das Westjordanland 1950, doch dies war wohl per se völkerrechtswidrig (s.o.), und 1988 verzichtete es auf das Territorium zugunsten eines noch zu gründenden Palästinenserstaates. Im gleichen Jahr erfolgte dann die Unabhängigkeitserklärung Palästinas durch die PLO, die im Zuge der Oslo-Abkommen von 1993 und 1995 von Israel als Vertreterin des palästinensischen Volkes anerkannt wurde. Die etablierte Palästinensische Autonomiebehörde hat jedoch nur in geringen Teilen des formal in drei Sektoren (A-, B- und C-Gebiete) eingeteilten Autonomiegebietes tatsächliche Regierungsgewalt; der Staat Palästina wird von Israel und vielen, vor allem westlichen Staaten nicht anerkannt, auch wenn er seit 2012 einen Beobachterstatus in den Vereinten Nationen hat, von knapp 140 Staaten anerkannt wird und beispielsweise seit 2015 auch Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs ist. Zudem steht der Gazastreifen seit 2007 nicht mehr unter der Herrschaft der PLA unter der Fatah, sondern der mit ihr verfeindeten Hamas, also eines nichtstaatlichen Akteurs, der zudem von Israel und dem Westen als Terrororganisation eingestuft wird. Sind die besetzten Gebiete damit völkerrechtlich identisch mit dem Staat Palästina oder nur ein Teil davon, insbesondere dann, wenn nach der üblichen Drei-Elementen-Lehre ein völkerrechtstheoretisch konstituierendes Element eines Staates, nämlich eine effektive Staatsautorität, also Regierung (neben einem Staatsterritorium und einem Staatsvolk) faktisch nicht gegeben ist - ganz abgesehen davon, dass ein Staat auch keinen völkerrechtswidrigen Existenzgrund haben darf, etwa das Ziel der Vernichtung eines anderen Staates oder eines Genozids (wie dies etwa für einen „Hamas-Staat“ gelten würde)? 

Andere Fragen beziehen sich etwa auf die Problematik der Gegenseitigkeit im Besatzungsrecht: Den Restriktionen und Pflichten der Besatzungsmacht steht nämlich das Kooperationsgebot und Verbot des gewaltsamen Widerstands der Bevölkerung im besetzten Gebiet gegenüber, welche angesichts von Intifadas und Hamas-Terror offensichtlich (ebenfalls) nicht eingehalten wird, womit sich wiederum die ideologisch ungemein aufgeladene Frage nach dem Beginn und dem Verursacher der nahöstlichen Gewaltspirale stellt. Ähnliches gilt für die Beurteilung der (menschen-) rechtlichen Lage der Palästinenser, bei der der (an sich noch zu prüfende) behauptete „Apartheid“-Charakter des israelischen Besatzungsregimes gegen die legitimen Sicherheitsinteressen Israels aufzuwiegen sein wird. Dem IGH sieht sich damit einer alles andere als einfachen Aufgabe gegenüber.  

  

Literatur/Links

Oellers-Frahm, Karin (2005): Israel und die Mauer. Vereinte Nationen 53 (3): 104-107, https://zeitschrift-vereinte-nationen.de/publications/PDFs/Zeitschrift_VN/VN_2005/Heft_3_2005/Bericht_Oellers-Frahm_VN_3_05.pdf.